Als die weise Meditierende bei unserem vorerst letzten Treffen zur gemeinsamen Achtsamkeitspraxis ein Experiment vorschlägt, spüre ich, dass einige Angst bekommen, lasse mich aber darauf ein, weil ich andererseits auch neugierig bin und nichts verpassen möchte. Aglaia ist sofort bei mir – sie wirkt alarmiert.
Aber es beginnt ganz harmlos: Wir sind eingeladen, uns einen Baum vorzustellen. Es kann ein Baum sein, den wir kennen, oder einer, den wir in unserer Phantasie erstehen lassen. Ich muss spontan an die große Steineiche denken, den schönsten Baum des Hofes. Andererseits sind dort die Hunde begraben … ob das eine gute Idee ist? Birken mag ich auch! Vielleicht lieber eine Birke?
Das Bild der Steineiche schiebt sich immer wieder in den Vordergrund. Nun denn … immerhin kann ich diesen Baum deutlich vor mir sehen.
Es ist eine kontemplative Übung, eine Betrachtung. Wir beginnen damit, die Wurzeln des Baumes zu betrachten, die ihm Halt und Sicherheit geben, aus denen er seine Kraft zieht, und stellen uns die Frage, was unsere eigenen Wurzeln sind. Unsere Familie vielleicht, oder die Kultur, in der wir aufgewachsen sind. Über meine familiären Wurzeln möchte ich lieber nicht nachdenken, so viel ist sicher! Kultur? Seit ich im Ausland lebe, weiß ich, dass ich sehr viel deutscher bin, als ich immer dachte – aber grad ist das auch keine Hilfe. Steineichen wurzeln tief, denn der Boden, in welchem sie gedeihen, ist karg und trocken. Sonderlich nährend kommt mir das jetzt auch nicht vor. Mir wird bewusst, dass Traumata den Betroffenen all das nehmen: Das Gefühl, verwurzelt zu sein und Halt zu finden. In Sicherheit zu sein. Kein Wunder, dass ich mit dem Bild nicht klarkomme! Die Erkenntnis tut weh und Aglaia macht sich bemerkbar: Dunkelheit breitet sich aus und ich bekomme Schmerzen. Ich versichere ihr, dass ich vorsichtig sein werde. Wenn ich keine Wurzeln habe, dann will ich mich jetzt und hier in diesem Boden verwurzeln, mich mit dem Stück Land verbinden, auf welchem ich im Laufe der letzten Jahre Halt und Sicherheit gefunden habe!
Der Stamm steht für unsere Fähigkeiten, unsere Ressourcen. Schreiben! Schreiben, gar keine Frage, ist eine meiner wichtigsten Ressourcen! Kreativität überhaupt. Und ich habe Humor. Der hilft – auch wenn er zur Not schwarz ist. Nun hat so eine alte Steineiche einen ziemlich mächtigen Stamm … vielleicht hätte ich mir lieber einen Schößling ausdenken sollen.
Die Äste sind unsere Visionen und Wünsche. Die Blätter Menschen, die uns etwas bedeuten, oder bedeutet haben. Die wir, oder die uns geliebt haben. Und die Früchte Geschenke, die wir erhalten oder gemacht haben. Ach herrje … was das betrifft hätte ich ein Gewächs vom Format einer Wünschelrute gerade so eben bewältigt. Dieser prachtvollen Baumkrone mit den silbrig schimmernden Blättern, die im Wind rauschen, aus der es Unmengen von Eicheln regnet, werde ich nicht im Ansatz gerecht. Mein selbstgewähltes Eremitinnendasein kommt mir plötzlich verarmt und traurig vor.
Die Schmerzen werden immer heftiger und ich erwäge, die Übung abzubrechen. Andererseits weiß ich aus der Yoga-Praxis, dass solche Abbrüche sehr irritierend wirken können – es ist sinnvoll, sich sowohl für den Ein- als auch für den Ausstieg Zeit zu nehmen. Also beschließe ich, der Baum zu sein! Meine Füße sind fest in diesem kargen Boden verwurzelt, meine Wurzeln erstrecken sich durch das ganze Gelände! Mein Stamm ist stark, meine Arme sind erhoben und meine Hände berühren den Himmel! Die Hunde schlafen zu meinen Füßen und ich umspanne den Hof und alle, die ihn bewohnen!
Dieser Kraftakt erschöpft mich ganz und gar und ich warte verzweifelt auf das Ende der Meditation. Es kommt in Form der Metta-Sätze. „Echt jetzt? Das AUCH noch?“ Das klingt nach „T“ und ihren despektierlichen Bemerkungen, aber ausnahmsweise verstehe ich sie. Ich kann nicht mehr! Wir einigen uns darauf, mit halbem Ohr zuzuhören und uns einfach dem Ende der Veranstaltung entgegentreiben zu lassen.
Ich bin zutiefst dankbar für diese Erfahrung: Für die Erfahrung, dass es in der Achtsamkeitspraxis möglich ist, schmerzhafte und verstörende Empfindungen wahrzunehmen und anschließend weiterzugehen. Wie erschöpft ich bin, merke ich, als ich kurz darauf versuche, eine Treppe hochzusteigen: Mir zittern die Knie.
Ich habe damit gerechnet, eines Tages während der Physiotherapie die Fassung zu verlieren, aber als es dann passiert, bin ich dennoch überrascht. Es gibt da eine Blockade auf Höhe meines Zwerchfelles, die mich daran hindert, frei zu atmen. Ich glaube, dass der Mann mit den heilenden Händen das schon seit langer Zeit weiß, aber jetzt sieht er offenbar den Moment gekommen, diese zu lösen. Und es hätte vielleicht auch funktioniert, wenn ich ihn einfach nur hätte machen lassen müssen: Ich kann allen, die das ängstigt, beruhigend zureden und wenn es ganz arg wird, selbst einen Schritt beiseite treten. Aber ich soll gegen seine Hände einatmen, die auf Brustbein und Bauch liegen, beim Ausatmen ihrem Druck folgen! Ich soll konzentriert dabei sein. Das kann ich nicht!
Die Tränen laufen, ich beginne, nach Luft zu schnappen. Ich weiß, dass er mir zu helfen versucht, aber das GEHT NICHT! Ich versuche, mich zu fügen. Ich vertraue ihm, er weiß, was er tut. Und frage mich im nächsten Moment, was ich hier eigentlich tue: Ich will das nicht! Ich verfluche meine mangelnden Französischkenntnisse. Immerhin gelingt es mir, mitzuteilen, dass mir lieber wäre, wenn er sich mit meinen Schultern beschäftigt.
Das tut er und er bleibt freundlich, gelassen und liebevoll. Aber er erklärt mir auch, dass es wichtig ist, diese Blockade zu lösen, und wir es weiter versuchen sollten. Damit hat er sicher Recht. Dass die weise Yogini jahrelang vergeblich versucht hat, mir die Atemübungen des Pranayama schmackhaft zu machen, die Körper und Geist zusammenführen sollen, kann er ja nicht wissen. Nicht, dass ich mich nicht bemüht hätte, aber es war und blieb eine einzige Quälerei. Vielleicht funktioniert es so herum – über die Einwirkung auf den Körper – besser, aber ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst haben soll: Vor seinen Bemühungen, oder vor deren Gelingen …
Bei der Achtsamkeitspraxis leitet die weise Meditierende eine Mettā -Meditation an, bei der es um gute Wünsche für sich selbst, aber auch für andere geht. Die mag ich sehr, deshalb lade ich zu Beginn alle ein, mir dabei Gesellschaft zu leisten.
Aglaia (Aglaia, Achtsamkeit mit Hindern … Aglaia) ist sofort da: links von mir wird es schwarz und ich spüre ihr Gewicht auf meiner Schulter. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Achtsamkeitsübungen mag, oder gekommen ist, um aufzupassen. Vielleicht auch beides. Zunächst sprechen wir die guten Wünsche für uns selbst aus „Möge ich glücklich und zufrieden sein“ zum Beispiel. Die Vorstellung, glücklich und zufrieden sein zu dürfen, bringt jemanden völlig aus der Fassung: Ich beginne zu weinen. Eine Weile lasse ich einfach die Tränen laufen, dann macht Aglaia sich bemerkbar und obwohl ich bequem liege beginnt mein Nacken zu schmerzen. Links … natürlich … Das ist, soweit ich sagen kann, eine ihrer Aufgaben: Wenn es zu beängstigend, zu schmerzlich wird, bekämpft sie Feuer mit Feuer und sorgt für körperliche Schmerzen, die mich wirkungsvoll ins Hier und Jetzt zurückholen. Wenn ich genug gesehen habe, ist sie es, die „das Licht ausmacht“. Aglaia ist eine Beschützerin. Darüber hinaus weiß ich nicht viel über sie.
Die guten Wünsche für einen nahestehenden Menschen richte ich an eine liebe Freundin, der ich von Herzen wünsche, dass sie leicht und unbeschwert durchs Leben gehen, gesund sein möge.
Als nächstes bin ich eingeladen, meine Gedanken auf einen Menschen zu richten, der gerade eine schwere Zeit durchlebt. Als ich das versuche, meldet sich eine leise, aber penetrant sarkastische Stimme, die all das für großen Blödsinn hält. Das klingt nach T. … „T.“ steht zwar für „Täter:innen-Introjekt“, aber tatsächlich bin ich mir nicht sicher, wer oder was sie ist. Sie ist eine Stimme, die ich manchmal laut hören kann. T. steht für Härte gegen sich selbst, findet die Rücksichtnahme auf eigene Bedürfnisse schlicht albern und ist generell der Ansicht, dass ich mich „einfach nur anstelle“. Einmal habe ich in einer Meditation jemanden gesehen, der T. gewesen sein könnte, oder jedenfalls die selben Ansichten vertrat: Alles Blödsinn! Ich versuche, meinen Blickwinkel zu ändern: Auch T. möchte glücklich und zufrieden sein, sich geborgen fühlen, leicht und unbeschwert durchs Leben gehen, gesund sein! Das verblüfft sie so sehr, dass sie schweigt.
Zum Ende der Achtsamkeitspraxis suche ich einen Ort auf, an dem ich mich sicher fühle, mich erholen kann. Den safe room aus der Hypnose möchte ich nicht nutzen, also stelle ich mir die Terrasse vor, auf der ich bei gutem Wetter Yoga mache. Ruckzuck liegt der Kater laut schnurrend neben meiner rechten Schulter. Der Hund lässt sich zu meiner Linken nieder. Es ist Major, unser Herdenschutzhund. Oskar, mein verstorbener Seelenhund, findet seinen Platz an meinem rechten Bein. Er schläft tief und fest. Seine Präsenz ist so weiß, wie Aglaias schwarz ist.
Wir sind eingeladen, uns an eine schwierige (nicht zu schwierige) Situation zu erinnern, um sie (und uns selbst) gelassen und ohne Wertung zu betrachten. Dann fragen wir uns, was wir in diesem Moment gebraucht, was wir uns gewünscht hätten.
Ich denke an meine Panikattacke bei der Physiotherapie, komme dann aber nicht recht weiter. Was hätte ich gebraucht? Was hätte geholfen?
Und sehe eine Frau. Sie nähert sich von links, hat in etwa mein Alter, gehört aber einer anderen Generation an: Ihre Haare sind ordentlich gelegt. Kräftig sieht sie aus,resolut, zupackend. Und sie streckt jemandem die Zunge heraus! Die freche Frau trägt eine orchideenfarbene, metallisch funkelnde Steppjacke. Ihr folgen weitere Frauen, die ähnlich gekleidet sind: Es wirkt, als würde sie eine Demonstration anführen.
„Genug gesehen!“ findet Aglaia und breitet eine schwarze Schwinge aus.
Aber ich kann das Funkeln weiterhin sehen: Es legt sich wie eine Decke über mich.
In meinen Zwanzigern habe ich einmal, in einer Art Varieté-Zelt, dem Auftritt eines Hypnotiseurs beigewohnt. Ich habe mich sogar gemeldet, als Freiwillige für die Bühne gesucht wurden! Heute erinnere ich mich nur noch, dass ich, als er „Ihre Arme werden ganz leicht!“ gesagt hat, dachte „Is klar! Jetzt heben wir alle die Arme hoch …“ und einigermaßen befremdet war, als meine Arme tatsächlich in die Höhe strebten. Beim „in den Pfirsich beißen“ allerdings bin ich rausgeflogen: Unverkennbar handelte es sich bei dem „Pfirsich“ um eine Zitrone! So wurden nach und nach die Kandidat:innen aussortiert bis nur noch eine einzige Frau übrigblieb, die – und das hat mich damals schon beeindruckt! – schließlich auf zwei Stühlen lag, die Schultern auf dem einen, die Unterschenkel auf dem anderen, während der Hypnotiseur mit Anlauf auf ihren Bauch sprang. Sie verzog keine Miene, lag da wie ein Brett
Als ich mich um einen Hypnose-Termin in der Schmerzabteilung der Universitätsklinik bemühe, ist mir bewusst, dass mich jetzt garantiert kein Bühnenzauber erwartet, aber ein bisschen ängstlich bin ich schon! Was, wenn ich in der Hypnose die peinlichsten Geschichten meines Lebens erzähle? Oder irgendetwas Hochnotpeinliches tue? Der Arzt (immer dran denken: er ist Arzt, kein Entertainer!) beruhigt mich: Nicht er wird mich hypnotisieren, sondern ich werde das selbst tun. Er wird mir nur dabei helfen, das zu lernen! So weit verstehe ich ihn, aber dann gerate ich ins Schwimmen: Entgegen meiner Hoffnung spricht er ausschließlich Französisch und ich habe ihm gesagt, dass ich ihm folgen könne sofern er langsam spräche. Nun … wenn das langsam ist, möchte ich schnell nicht erleben …
Es passiert mir nicht zum ersten Mal, dass mir in besagter Klinik versichert wird: Doch, doch! Keine Sorge! Die Spezialist:innen sprächen Deutsch oder zumindest Englisch! Beim ersten Mal hab ich das tatsächlich geglaubt. Da bin ich auf Alzheimer getestet worden. Wer den Test kennt, weiß, dass es dabei unter anderem darum geht, sich Wörter zu merken und Gegenstände und Zusammenhänge korrekt benennen zu können. Natürlich weiß ich, wie das Tier mit dem Horn auf der Nase heißt! Nur nicht auf Französisch … Und klar: Was eine Armbanduhr und ein Lineal gemeinsam haben, ist das Messen von Einheiten! Sofern bekannt ist, was „Armbanduhr“, „Lineal“ und „messen“ auf Französisch heißt … Wir gestikulieren was das Zeug hält! Ich fokussiere mich auf den Umstand, dass die schiere Absurdität der Situation durchaus einen gewissen Unterhaltungswert hat, bin anschließend aber so erschöpft, dass ich kaum noch gehen kann. Die gute Nachricht: Alzheimer habe ich nicht. Und ich sei gut organisiert, heißt es. Immerhin!
Beim zweiten Termin zeigt sich, dass ich die Aufgaben, die ich bis dahin hätte erledigen sollen, nicht vollständig verstanden habe. Also wird mir ein weiteres Mal – diesmal sehr langsam – erklärt, was ich tun soll. Und: Zu meiner großen Erleichterung spricht der Arzt dann doch ein bisschen Englisch!
Heute lerne ich stattdessen, mir einen sicheren Raum vorzustellen. Das kenne ich schon und habe, da der betreffende Raum tatsächlich existiert und ich ihn sehr gut kenne, keinerlei Schwierigkeiten, ihn vor meinem inneren Auge erstehen zu lassen. Und natürlich weiß ich, welche Geräusche ich höre und wie es dort riecht! Neu ist, dass es explizit mein Körper sein soll, der dort in Sicherheit ist. Der Arzt führt mich durch eine Art Bodyscan (siehe: Wellness mit Schattenseiten) in meinem safe room. Ich habe kein Problem, ihm zu folgen, merke aber bei dieser Gelegenheit, wie schwer es mir fällt, die Augen tatsächlich fest zu schließen. Ein winziger Spalt bleibt immer offen … nur für den Fall. Und ich finde es extrem gruselig, mit geschlossenen Augen neben einem fremden Mann zu sitzen, der mir zuflüstert, wie sicher mein Körper gerade ist! Das ist insofern nicht so schlimm, als ich ab jetzt alleine üben soll: jeden Tag 10 Minuten.
Zunächst kommt es hin und wieder vor, dass dabei plötzlich alles schwarz wird. Da ich diese Schwärze schon aus der Meditation kenne, macht sie mir keine Angst – aber ich weiß nicht recht, was ich tun soll: Hineinsehen und gucken, was passiert? Oder mich weiter auf meinen sicheren Raum konzentrieren? Ich entscheide mich für Letzteres, aber es gelingt mir nicht, das „Licht wieder einzuschalten“. Am Ende der Hypnose soll ich ein Geschenk aus meinem sicheren Raum mitnehmen und sorgsam verwahren. Ich stelle mir mein Vertiko vor (ein Familienerbstück), in welchem eine Holzschatulle mit Schnitzereien steht, die meiner Mutter gehört hat. Dort verstaue ich mein Geschenk. Bei einer Gelegenheit ist das Vertiko mit Schwärze angefüllt und die Schatulle ist voll von etwas, das ich ganz sicher nicht sehen möchte. Es sieht aus wie Blut. Ich werfe mein Geschenk hinein und schließe eilig die Tür. Ein anderes Mal springt mich etwas an, als ich das Vertiko öffne. Ich werde mir einen anderen Aufbewahrungsort suchen müssen – offenbar haben Familienerbstücke so ihre Tücken …
Der Arzt hat mir gesagt, dass es nicht jeden Tag gleich gut klappen wird. Aber mit zunehmender Übung merke ich, dass ich mich mehr und mehr entspanne, kurz davor bin, einzuschlafen. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass ich weniger dazu neige meinen Kopf ein- und die Schultern hochzuziehen. Das tue ich sonst sogar im Schlaf: Mein Kopf ruht nie ganz entspannt auf dem Kissen, ein Ohr ist immer gespitzt, so, als könnte ich jeden Moment angegriffen werden. Kein Wunder, dass ich Verspannungen habe! Die schmerzen, hab ich mal gehört, am meisten, wenn sie sich lösen. Kommt mir auch so vor! Und selbst als die Schmerzen allmählich nachlassen fühle ich mich immer noch, als hätte ich mich körperlich völlig verausgabt. Dennoch: Ich genieße das Gefühl, mit dem mein Kopf ganz schwer in ein Kissen sinkt! In meinem safe room ist es (warum auch immer) zartgelb und herrlich weich. Ich nutze die täglichen 10 Minuten, um meinen Kopf wieder und wieder hineinsinken zu lassen, den Nacken zu strecken und die Schultern zu entspannen. Mein Körper ist hier sicher!
Die weise Hebamme unterstützt mich weiter darin, meine Träume zu interpretieren (siehe: Traumfrau), und es ist nicht ungewöhnlich, dass eine solche Sitzung drei Tage dauert. Jedenfalls für mich: Am Vortag übersetze ich Träume und/oder Überlegungen dazu ins Französische und bekomme erste Angstsymptome. Am Tag X selbst bin ich vor dem Termin aufgeregt bis panisch und danach fix und fertig: Dann muss ich erst einmal ins Bett. Am Tag darauf fühle ich mich, als hätte ich eine Mischung aus Ironwoman und Everest-Besteigung hinter mir.
Die Weise Meditierende (siehe: Drei weise Frauen) bietet einen weiteren Workshop an und ich stelle fest, dass ich diesmal, obwohl der Inhalt sich nicht allzu sehr verändert hat, die Meditation ganz anders erlebe, ganz neue Erkenntnisse daraus ziehe. Überflüssig zu erwähnen, dass ich am Tag nach dem mehrstündigen Auftakt, das Bett gehütet habe …
Meine Yoga-Praxis habe ich, nach einer Phase, in welcher sie mir nicht gut getan hat, auf traumasensibles Yoga umgestellt. Damit bin ich sehr zufrieden! Obwohl ich seit über sechs Jahren mehr oder weniger stets die selben Übungen gemacht und sie immer als wohltuend und entspannend empfunden hatte, habe ich mich in der letzten Zeit gefühlt, als sei mein Körper anschließend sehr aufgeregt, als stünde ich unter Strom. Angenehm war das nicht! Die traumasensiblen Übungen sind noch kleinteiliger als die, die ich bisher kannte, wirken wie Vorbereitungen auf das, was mir eh schon wie Yoga für Alte und Gebrechliche vorgekommen war. Und sie tun mir gut! Die Lektüre des entsprechenden Buches allerdings hat mich an meine Grenzen gebracht – dazu ein andermal mehr.
Last not least lerne ich, mich selbst zu hypnotisieren! Es war – und damit schließt sich sozusagen der Kreis – die weise Hebamme, die mir den Tip gegeben hat, dass die Schmerzabteilung der nächstgelegenen Universitätsklinik Hypnose anbietet. An dieser Stelle kann ich – trotz aller Bemühungen um eine positive Weltsicht – ein gewisses Maß an Frust und Verbitterung nicht leugnen: Dass ich unter chronischen Schmerzen leide, ist durchaus keine Neuigkeit und ich hatte in besagter Klinik schon mehr als einen Termin! Warum um alles in der Welt hat mich vorher niemand an diese Abteilung verwiesen? Aber sei’s drum: Jetzt jedenfalls habe ich den Fuß in der Tür!
Bleibt nur noch, meine diversen Termine so zu koordinieren, dass ich mich vom letzten halbwegs erholen kann, bevor ich Angst vor dem nächsten bekomme …
Als ich meine allerersten Hitzewallungen hatte, dachte ich „Aha! Die Wechseljahre!“. Und habe amüsiert vermerkt, wie oft ich morgens im T-Shirt aus dem Haus gestürmt bin, um ein bis zwei Stunden später zu realisieren, dass ich für Temperaturen nahe null Grad nicht passend angezogen war.
In diesen Phasen habe ich mir abends zwei bis drei frische T-Shirts neben’s Bett gelegt, um ein nassgeschwitztes ohne großen Aufwand austauschen zu können. Das schien mir damals am schwierigsten: Aus der Feststellung „mir ist kalt!“ im Halbschlaf die richtigen Schlüsse zu ziehen – „ich bin klatschnass!“ – und dann auch noch das Richtige zu tun: „umziehen!“. Weiter habe ich mir über das Phänomen keine Gedanken gemacht.
Meine „Wechseljahre“ kamen und gingen. Die finale Bestätigung, das endgültige Ausbleiben der Menstruation, konnte ich nicht zu Rate ziehen: Seit meine Gebärmutter wegen schwerer Endometriose entfernt wurde, blute ich nicht mehr. Und unter uns: Ich habe jahrzehntelang versucht, meinen Körper mit all seinen Funktionen anzunehmen, Mein Frau-Sein zu akzeptieren! Die Entfernung meiner Gebärmutter hatte – wegen Zysten und Myomen – schon lange zur Debatte gestanden. Ich hab das – auch ohne ausgeprägten Kinderwunsch – immer abgelehnt. Meine Gebärmutter war schließlich ein Teil von mir! Mein Zyklus war Teil meines Lebens! Trotzdem ist mir der Abschied letztendlich leicht gefallen: Aus dem „gebärfähigen Alter“ war ich deutlich raus, ich hatte alles getan, mich mit meiner „Weiblichkeit“ zu arrangieren … Es war okay, ab jetzt getrennte Wege zu gehen! Und so habe ich Abschied genommen: Meiner Gebärmutter erklärt, dass ich sie sehr zu schätzen gewusst, mich aufrichtig bemüht habe, mit ihr und ihren Funktionen zu leben, dass es nun aber an der Zeit sei, sich zu trennen. Und tatsächlich: Ich habe diesen Aspekt meines Frau-Seins keine Sekunde lang vermisst!
Aber ich benötige nun Blutuntersuchungen, um zu wissen, ob „es“ soweit ist. Der aktuelle Stand: Mein Körper, der in so vieler Hinsicht nicht so funktioniert, wie er soll, kriegt das immer noch hin! Der letzte Scan meines Unterleibes zeigt einen Eisprung. Dennoch: Es wird passieren! Und mir ist durchaus bewusst, wie erschreckend wenig ich über diesen Lebensabschnitt weiß.
Hitzewallungen, ja. Depressionen auch – aber warum eigentlich? Ich habe keine Lust, mich damit zu beschäftigen, merke aber auf, als ich über „die gereizte Frau“ stolpere. Ein Buch, welches mir nicht dabei helfen möchte, diesen Lebensabschnitt zu ertragen, sondern mich ermutigt, gereizt zu sein. Definitiv: Mein’s!
Gereizt zu sein, gehört nämlich ohne Wenn und Aber ebenfalls zur Perimenopause dazu, der Übergangszeit zwischen … ja, was eigentlich? Fruchtbarkeit und … was? Definiert Weiblichkeit sich über Fruchtbarkeit und der Vorstellung jugendlicher Schönheit? Und wenn nicht … worüber dann?
Ich erfahre, dass viele Symptome, die ich bisher meiner Erkrankung zugeordnet habe, auch dem Umstand geschuldet sein können, dass ich „in den Wechseljahren“ bin. Und, dass der Ausdruck Wechseljahre tatsächlich bedeuten kann, dass die Symptome 10 bis 15 Jahre lang andauern. Bei mit passt alles: Was ich erlebe, könnten Begleiterscheinungen der Perimenopause sein, Symptome meiner chronischen Erkrankung, oder aber Nebenwirkungen der Medikamente, die ich nehme. Oder alles zusammen. So weit, so nice … aber warum hat mir das nie jemand gesagt? Konkrete Tips kann ich dem Buch daher nicht entnehmen: Zu viele Unbekannte. Aber ich habe einen Riesenspaß beim Lesen!
Miriam Stein schreibt nicht einfach einen Ratgeber, sie erzählt, wie sie selbst die „Wechseljahre“ erlebt. Und sie tut das mit einem Ausmaß an Selbstironie und Humor, dass ich mich stellenweise vor Vergnügen nass machen möchte. Apropos Inkontinenz … Ansonsten listet sie auf, was alles Frauen tun können, um diesen Lebensabschnitt nicht einfach zu ertragen, sondern zu gestalten. Manches davon befremdet mich. Ich habe „vulvovaginale Atrophie“ so lange langsam auszusprechen geübt, bis es mir halbwegs geschmeidig über die Lippen kommt. Aber ich glaube nicht, dass ich mir in diesem Leben die Vagina werde lasern lassen. Gleiches gilt für Facelifting und Fettabsaugung. Und warum um alles in der Welt hätte ich meine Eizellen einfrieren lassen sollen, um wirklich jederzeit schwanger werden zu können? Jederzeit schwanger werden zu können war schlimm genug, als es noch ohne technologische Unterstützung möglich war … Die Hitzewallungen – erwähnte ich die Hitzewallungen? – könnte ich durchaus missen, aber ansonsten bin ich bereit, einfach alt zu werden – mit allem was dazugehört.
Die Autorin selbst ist „gut situiert“, erfolgreich im Beruf. Ich rechne ihr an, dass sie gelegentlich anmerkt, arme Frauen, Frauen in armen Ländern, hätten zu dem Großteil der Möglichkeiten, die sie beschreibt, keinen Zugang. Dennoch möchte ich ihr hin und wieder zurufen „Gute Frau, in dieser Situation sind Klimakteriumsbeschwerden wirklich das kleinste aller Probleme!“. Aber gut: Sie erzählt ihre Geschichte. Und sie listet auf, was geht. Wenn es denn geht. Nicht ihre Schuld, dass meine Welt(sicht) eine ganz andere ist.
Gegen Ende des Buches sammelt Miriam Stein mich denn auch wieder ein: Sie guckt auf ganz andere Weise über den Tellerrand, als ich das erwartet hätte, und erzählt zum Beispiel von Sheela- na-gig, einer Figur, die sich an den Fassaden mittelalterlicher Kirchen in Großbritannien und Irland findet. Die kleine, haarlose (gealterte?) Frau präsentiert ihre weit geöffnete Vulva und gilt heute als Schutzheilige irischer Feministinnen. Sie könnte eine kulturelle Bedeutung der Vulva transportieren, die nichts mit Sex oder Fruchtbarkeit zu tun hat, sondern – ähnlich wie der Phallus – eine Machtposition symbolisiert. Weiter richtet sie ihren Blick nach Asien und berichtet von einem buddhistischen Ritual, welches Frauen den Übergang in die Menopause erleichtern soll, und sie gleichzeitig in der religiösen Gesellschaftsordnung aufsteigen lässt. Sie werden in die Schwesternschaft „Peng“ aufgenommen, deren Angehörige tief miteinander verbunden sind, sich austauschen und in der Gemeinschaft Halt finden.
Miriam Stein nimmt Sheela-na-gig und die Schwesternschaft Peng zum Anlass, eine feministische Utopie zu skizzieren, eine ganz eigene Vorstellung davon, wie eine Welt aussehen könnte, in der Frauen heranreifen, statt lediglich zu altern. In der sie in Verbindung gehen und sich ihrer Kraft bewusst werden.
Die weise Hebamme aka Psychotherapeutin im Nachbarort hat mir vorgeschlagen, über meine Träume zu sprechen. Zwar glaube ich durchaus, dass manche unserer Träume uns etwas sagen wollen, und ich schreibe sie schon seit vielen Jahren auf, aber jetzt bin ich skeptisch. Traumdeutung? Ich weiß ja nicht … Andererseits: Warum nicht? Ein Versuch kann ja nicht schaden!
Ich übersetze einen meiner Träume, der mir interessant erscheint, ins Französische und drucke den Text aus. Um meinen Traum zu erzählen, müsste ich nicht nur die neuen Vokabeln pauken, sondern mir auch diverse grammatische Verwicklungen merken. Ich müsste den Text quasi auswendig lernen. So geht es schneller.
Das Gespräch führen wir nach wie vor hauptsächlich auf Englisch. Das ist mühsam, weil wir dann beide nicht unsere Muttersprache nutzen und immer wieder durch Rückfragen klären müssen, ob wir einander richtig verstanden haben. Aber ich bin schon froh, dass wir überhaupt eine gemeinsame Sprache sprechen!
Der weitere Verlauf ist völlig anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich hatte irgendetwas in Richtung „Wenn Sie von einem weißen Pferd träumen, dann bedeutet das, dass sie ein problematisches Verhältnis zu ihrem Vater haben!“ erwartet; in etwa das, was in Zeitschriften gleich links von den Horoskopen zu lesen ist. Unterdessen beschämt mich mein mangelndes Zutrauen in ihre Fähigkeiten.
Wir gehen den Traum ganz langsam, Schritt für Schritt durch und sie stellt mir Fragen dazu: Erkenne ich Personen oder Orte wieder? Kann ich sie beschreiben? Habe ich eine solche Situation schon einmal erlebt? Was fällt mir ein, wenn ich an ein bestimmtes Detail denke? Es ist sozusagen freies Assoziieren entlang des roten Fadens meines Traumes und ich bin überrascht, wie viele Erinnerungen dabei auftauchen.
Je intensiver ich mich mit meinen Träumen beschäftige, desto detaillierter wird meine Erinnerung daran. Dass ich sich wiederholende Träume habe, weiß ich schon lange, aber erst jetzt fällt mir auf, wie viele Details immer wieder auftauchen. Gleichzeitig beobachte ich, dass die regelmäßig wiederkehrenden Träume jetzt andere Verläufe nehmen – ganz so, als würde mein Handlungsspielraum sich vergrößern.
Unsere Gespräche über diesen Traum, die sich über mehrere Sitzungen hinziehen, sind eher unterhaltsam, als schmerzlich. Oft muss ich selbst im Englischen Hände und Füße zur Hilfe nehmen, um mich verständlich zu machen. Wir lachen viel. Ich mag die weise Hebamme gut leiden und fühle mich sicher bei ihr. Dennoch bekomme ich mit der Zeit mehr und mehr Angst vor unseren Treffen.
Bei einem der letzten Termine schaffe ich es gerade so eben, Contenance zu wahren, solange ich im Wartebereich sitze. Kaum schließt sich die Tür hinter mir, bekomme ich eine der heftigsten Panikattacken meines Lebens. Sie rät mir, loszulassen, der Attacke ihren Lauf zu lassen. Und ich antworte „Wenn ich das tue, bricht alles auseinander. Dann werde ich verschwinden.“
Nach meinen Treffen mit der weisen Hebamme suche ich stets einen weisen Mann auf: Es ist der Physiotherapeut, dessen Behandlungsräume gleich neben ihrem liegen. Ich kenne ihn schon seit einigen Jahren. Er spricht ausschließlich Französisch, ist aber in der Lage, meine Beschwerden mit seinen Händen zu orten, selbst wenn ich sie nicht beschreiben, sondern nur mit dem Finger dahin deuten kann, wo es wehtut. Er ist „eingeweiht“: Er weiß, dass ich gerade aus der Psychotherapie komme und unter Umständen in schlechter Verfassung bin.
Manchmal „berührt“ er das Trauma in meinem Körper, dann bekomme ich Angst, mir wird übel, oder ich beginne zu dissoziieren. Die weise Hebamme hat ihm erklärt, dass das passieren kann. In solchen Momenten rede ich mir selbst gut zu: Dass wir diesen Mann schon lange kennen. Dass er weiß, was er tut, und wir ihm vertrauen können. Das hilft.
An diesem Tag bitte ich ihn, einfach irgendetwas zu tun, damit ich ruhiger werde. Er hilft mir, entspannt und tief zu atmen. An besseren Tagen übt er während der Behandlung Französisch mit mir.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich nicht mehr selbst Auto fahre: Ich muss mich fahren lassen.
Über die Zeit lässt die Angst vor den Therapiesitzungen nach und ich sehe meinem nächsten Termin geradewegs gelassen entgegen. Abgesehen davon allerdings, dass es mir gelingt, mich so geschickt im der genauen Uhrzeit zu irren, dass es mir um ein Haar gelungen wäre, nur zur Physiotherapie zu müssen.
Eine halbe Stunde immerhin haben wir noch! Die weise Hebamme beginnt, mir ihre Interpretation meines Traumes zu schildern. Dann geht alles ganz schnell: Tränenausbruch, Schnappatmung, der Tinnitus kreischt in meinen Ohren, so dass ich sie kaum noch hören kann. Ich bekomme einen Tunnelblick, an den Seiten wird es schwarz. Und ich spüre, wie ich neben meinen Körper trete. Ungefähr so, als sei ich mein eigenes Lenorgewissen, allerdings habe ich Sorge, dabei vom Stuhl zu fallen.
„Loslassen“ kann ich das nicht, aber ich bemühe mich, nicht die Luft anzuhalten, sondern wenigstens in Bruchstücken rauszuquetschen, was mir passiert.
Mir kommen in diesem Moment keine Erinnerungen ins Bewusstsein, es überwältigen mich keine Emotionen … ich bin nur Körper. Und – als die Attacke abklingt – absolut ratlos. Ich begreife überhaupt nicht, was mir da passiert ist!
Traumata vererben sich über mehrere Generationen. An vieles habe ich keine Erinnerung, aber sie steckt in meinem Körper. Insofern scheint es mir folgerichtig, dass die „Aufarbeitung“ ebenfalls in meinem Körper vonstatten geht. Danach fühle ich mich sehr ruhig. Und ich bin unglaublich müde. So müde, dass ich auf der Liege des Physiotherapeuten beinahe einschlafe.
Das, was wir bis zu diesem Moment besprochen haben, war übrigens lediglich der Beginn eines langen, detailreichen Traumes. Der Beginn einer Mischung aus Geister- und Achterbahnfahrt.
Den folgenden Text hatte ich lediglich auf meiner Facebook-Seite veröffentlichen wollen, weil er mir zwar ein großes Anliegen ist, aber nicht wirklich etwas mit dem Thema des Blogs zu tun hat. Dann jedoch bin ich gebeten worden, meine Überlegungen auch außerhalb von Facebook zugänglich zu machen. Und wer weiß, ob all das tatsächlich ohne Folgen geblieben ist …
Diesen Text habe ich aus ichweißnichtmehrwelchem Grund im Frühjahr 2019 zu schreiben begonnen, ihn dann aber aus dem Auge verloren. Er ist mir wieder eingefallen, weil neuerdings diskutiert wird, ob #metoo am Ende ist, weil ein einziger Mann vor Gericht Recht bekommen hat. Ich gebe ihn einfach mal so wieder, wie ich ihn seinerzeit geschrieben habe.
„Ich weiß gar nicht mehr, seit wann ich schon regelmäßig über #metoo stolpere … Aber ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, was ich dachte, als ich den Hashtag zum ersten Mal gesehen habe: „Das betrifft mich nicht, ich bin ja nie vergewaltigt worden. Nur ganz normal sexuell belästigt.“. Es hat tatsächlich einen ganzen Tag gedauert, bis ich selber begriffen habe, was ich da gedacht habe: „Nur.“ „ganz normal“ „sexuell belästigt“ Da habe ich mich angeschlossen, einfach mit dem Hinweis „metoo“. Ich fand nicht, dass ich deswegen gleich meine Lebensgeschichte erzählen muss. Aber vielleicht ist das doch sinnvoll. Um mal ein paar Missverständnisse zu klären.
Ich war neun Jahre alt, als ich mit einer Freundin eine Radtour gemacht habe. Auf einem Feldweg hat uns ein Mann aufgehalten indem er sein Fahrrad vor uns quer stellte. Da drüben im Wald, sagte er, würden zwei was machen (wir hatten nicht recht eine Vorstellung, was eigentlich) und unbedingt sollten wir mitkommen und uns das anschauen! Wir wussten sehr genau, dass wir auf gar keinen Fall mit fremden Männern mitgehen durften, aber was wir in diesem Moment hätten tun können, wussten wir nicht. Wir hatten Glück: Es näherten sich Leute und der Mann ist geflüchtet. Wir auch. Nachdem ich das daheim erzählt hatte, haben meine Eltern umgehend Anzeige erstattet und wir mussten bei der Polizei eine Aussage machen. Wir waren wohl nicht die einzigen. Danach hatte ich lange Zeit Angst, dass der Mann wiederkommt und mich holt.
Ich war zwölf Jahre alt, als der Stiefvater meiner besten Freundin versucht hat, mich zu küssen und mir seine Zunge in den Mund zu schieben. Es war Karneval, er war betrunken. Ich hab ihm in die Zunge gebissen. Meinen Eltern hab ich nichts davon erzählt, sie hätten womöglich den Kontakt zu meiner Freundin unterbunden.
Ich war vierzehn und pferdeverrückt wie fast alle Mädchen in diesem Alter. Es gab da einen Mann auf dem Reiterhof, der konnte die Finger nicht bei sich behalten. Wir wussten das alle: Geriet man mit dem allein in eine Box, versuchte er, einen zu begrapschen. Dann galt es, schnell zu sein! Wir waren schnell. Ich habe bis heute keine Ahnung, ob die anderen Erwachsenen davon wussten.
Während der Lehre gab es einen Mitarbeiter, der immer viel zu dicht neben mir saß, wenn er mir etwas erklärte. Der immer nach etwas auf meiner anderen Seite greifen musste und mir damit noch näher rückte. Der, als ich einen Stapel Papier lochen wollte, plötzlich seine Hände auf meine legte, um mir beim Drücken zu helfen. Immer mit einem tiefen Blick in meine Augen. Darüber habe ich mich damals tatsächlich ganz impulsiv bei unserem Vorgesetzten beschwert und hatte das unfassbare Glück, Gehör zu finden (das war damals ganz sicher nicht generell üblich). Ich musste nie wieder mit diesem Menschen arbeiten. Überflüssig zu sagen, dass diese Beschwerde mein berufliches Fortkommen dennoch nicht gerade erleichtert hat.
Und so weiter und so weiter. Während des Studiums, als der Handlungsspielraum … sagen wir … etwas größer war, habe ich einmal jemandem Prügel angedroht, falls er mich noch einmal anfassen sollte.
Danach dann, im „Arbeitsleben“, habe ich vieles einfach abperlen lassen. Oder war im Zweifel nicht um eine verbale, aber kernige Antwort verlegen. Diejenigen von Euch, die mich persönlich kennen, wissen das.
Einmal hat mir ein Nachbar sturzbesoffen in den Schritt gegriffen, während mein Ehemann daneben stand. Bei ersten Mal habe ich nicht reagiert, weil ich viel zu überrascht war: Damit hatte ich nicht gerechnet! Mit einer verbalen Ansage wäre ich schwerlich zu ihm durchgedrungen, aber in seinem Zustand hätte ich ihn problemlos aus den Schuhen hauen können, obwohl das eigentlich nicht meine Art ist. Ich hab den Selbstverteidigungskurs, den ich immer machen wollte, auch nie in Angriff genommen: Ich weiß nicht, wie man einen Menschen schlägt. Bei ihm hätte wahrscheinlich umschubsen gereicht. Aber seine Ehefrau stand ebenfalls dabei und ich hatte das ungute Gefühl, dass sie es ausbaden würde, wenn ich mich jetzt wehre. Also habe ich getan, als sei nichts. Es hat ja nicht wehgetan und ich war nicht in Gefahr. Es war nur unfassbar widerlich und entwürdigend. Am meisten vermutlich für seine Frau.
Exkurs Nur falls das irgendjemand nicht gemerkt haben sollte: Ich lasse hier verbale Übergriffe aus! Und zwar nicht, weil es keine gegeben hätte, sondern weil ich nicht den Ehrgeiz habe, einen Roman zu schreiben!
Nee. Als Opfer hab ich mich nie gesehen. Es war doch „nur“ die „ganz normale“ sexuelle Belästigung! Schon mit neun Jahren habe ich Wege gefunden, mich davor zu schützen – es ist uns ja nichts passiert damals. Ich habe immer Wege gefunden, auch wenn ich dabei beinahe mal einen arglosen Jogger umgenietet hätte, der nachts unverhofft von hinten auf mich zurannte.
Auf die #metoo-Frage „bist Du schon einmal sexuell belästigt worden?“ mit „ja“ zu antworten, macht mich verdammtnochmal! nicht zu einem Opfer! Opfer geworden bin ich jedes Mal, wenn mir das zugestoßen ist. Weil mir das zugestoßen ist. Wie wenn man Opfer eines Verkehrsunfalles oder einer Naturkatastrophe geworden ist. Das passiert ja auch nicht dann, wenn man es feststellt, sondern dann, wenn es einem passiert!
#Metoo also, weil es mir auch passiert ist. Punkt. Ich hab nie gefunden, dass DAS mein Leben zu etwas Besonderem macht. Im Gegenteil, das war halt so. Das war normal! Das kannten wir alle. Für ein ganzes Frauenleben war es nicht einmal besonders viel. Traumatisiert oder verletzt hat mich das nicht. Es hat mich auch nicht ängstlich, humorlos, verklemmt, frigide, oder gar männerfeindlich gemacht. Und nein, ich bin auch nicht deswegen Feministin geworden. Die Geschichte erzähle ich vielleicht ein andermal …
Wenn das für mich alles so normal war und mir auch gar nicht geschadet hat, warum reite ich dann so auf dem Thema herum?
Weil es so verdammt allgegenwärtig ist!
Kürzlich las ich eine Geschichte, die das sehr schön illustriert. Eine Professorin bittet ihre männlichen Studenten, einmal alles zu nennen, was sie in ihrem Alltag tun, um sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Die Studenten gehen gründlich in sich, aber es will ihnen nicht recht etwas einfallen. Dann bittet sie ihre Studentinnen, das selbe zu tun. Die Hände fliegen hoch:
„Mein Getränk immer im Auge behalten, damit niemand etwas hineinschütten kann!“
„Keine Kleidung tragen, die aufreizend wirken könnte!“
„Keine Unterwäsche tragen, die aufreizend wirken könnte!“
„Immer nur ganz wenig, oder besser gar keinen Alkohol trinken!“
„Nachts nicht die U-Bahn, sondern lieber ein Taxi nehmen!“
„Im Taxi hinten sitzen!“
„Immer auf den Rücksitz schauen, bevor ich in mein Auto steige!“
„Immer eine Taschenlampe dabeihaben, damit ich auch im Dunkeln auf den Rücksitz schauen kann!“
„Beim Joggen keine Kopfhörer tragen!“
Die Liste wird sehr sehr lang.
Und das ist meines Erachtens ein ganz wichtiger Punkt! Ja, Männer werden ebenfalls diskriminiert! Sie erfahren Gewalt! Und ja: Auch sexuelle Gewalt! Und das ist furchtbar und darf nicht sein! Aber es bestimmt offensichtlich nicht ihren Alltag.“
Was mir Stand heute dazu einfällt: Dass mir immer noch etwas dazu einfällt. Das Thema hat nichts an Aktualität verloren.
Ich bin nach wie vor in der glücklichen Lage, nie Opfer brachialer sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Aber ich habe angefangen, über konsensualen Sex nachzudenken. Den es nicht gibt: Sex ohne Konsens ist Vergewaltigung. Ich denke über den „semi-konsensualen Sex“ nach, den ich gelegentlich hatte. „Abwägungs-Sex“ sozusagen: Fang ich jetzt ne Diskussion an, dass und warum ich keinen Bock habe, oder hab ich das Elend schneller hinter mir, wenn ich ihn einfach machen lasse? Gruselig, nicht wahr?
Ich denke über solche Situationen nach, nach denen ich mir Vorwürfe gemacht habe, dass ich „ES“ nicht habe kommen sehen. Nicht etwa dem Mann, von dem der Übergriff ausging.
Für mich waren (und sind) sexualisierte Übergriffe so etwas wie Risiken im Straßenverkehr: Gibt’s! Musste halt aufpassen! DAS finde ich gruselig!
Mit Beginn des Krieges in der Ukraine bekommt das Stichwort „transgenerationales Trauma“ eine vollkommen neue Bedeutung für mich. Im ersten Moment muss ich mich um ein Haar übergeben. Dann werde von dem Gefühl überwältigt, dass mir DAS! WIEDER! passiert.
Wie bei einem déjà-vu, nur dass es nicht mit einem kurzen „mir ist, als hätte ich das schon einmal erlebt“ Moment getan ist. Es ist grauenvoll. Und es hört nicht auf! Nach zwei Tagen voller Panik, während derer ich wieder und wieder in Tränen ausbreche, tritt Aglaia nach vorn und bekämpft Feuer mit Feuer: Ich bekomme höllische Schmerzen. Das funktioniert: Ich kann nicht gleichzeitig Schmerzen und Panik haben.
Obwohl ich meine Anteile noch gar nicht kenne – habe ich doch gerade erst verstanden, dass ich überhaupt Anteile habe – spüre ich, dass sie zu helfen versuchen. Aber mit Fortdauern des Krieges werden alle anderen – selbst T. – sehr still. So still, dass ich anfange, sie zu vermissen.
Ich hatte gerade begonnen, sie wahrzunehmen, habe mich bemüht, ihnen zuzuhören, zu vermitteln wenn sie unterschiedliche Bedürfnisse hatten … jetzt komme ich mir vor, als müsse ich meine gesamte Energie darauf verwenden, nicht einfach auseinanderzufallen.
Morgens liege ich im Bett und schaue meinen Schmerzen beim Wandern zu – eine Art umgekehrter Bodyscan. Ressourcen wie Humor und Kreativität, die – vermute ich – von mehreren Anteilen genutzt werden, liegen brach und ich quäle mich durch die Tage. Mag den Hof nicht verlassen: Mir ist alles zu viel.
Glücklicherweise scheine ich beim Yoga vom „Tun“ ins „Sein“ übergegangen zu sein … das ist sehr viel weniger überkandidelt, als es klingt: Etwas zu tun (oder zu lassen), muss ich jeden Tag auf’s Neue entscheiden, etwas zu sein, nicht. Es ist ein Unterschied, ob ich entscheide, heute mal nicht zu rauchen, oder heute auf Fleisch zu verzichten, oder ob ich Nichtraucherin oder Vegetarierin bin. Dann nämlich ist die Entscheidung ein für alle Mal getroffen, ich denke nicht mehr darüber nach. Ich bin eine Yogini, ein Mensch, der Yoga praktiziert, und lande, ohne mich oder einen inneren Schweinehund groß überwinden zu müssen, so ziemlich jeden Tag auf meiner Matte. Ganz gleich, wie es mir geht, es fühlt sich richtig an!
Für die, die mich / uns noch nicht kennen und um Missverständnissen vorzubeugen: Yoga, wie ich es praktiziere, hat äußerst wenig mit Sport oder Gymnastik, aber eine Menge mit innerer Arbeit zu tun. Das kann von außen durchaus so aussehen, als läge ich – wenn auch ein wenig verdreht – einfach nur da. Sportlichen Ehrgeiz entwickle ich zwar durchaus auch, aber nur, wenn ich mal einen richtig guten Tag habe.
Beim Meditieren dagegen bin ich deutlich noch im „Tun“ und ohne Anleitung fällt es mir zur Zeit noch schwer. Aber es ist mir gelungen, die Götter des Internet gnädig zu stimmen und kann immerhin regelmäßig am Online-Kurs teilnehmen. Außerdem ist mir die traditionelle cevenole Schlendermeditation wieder eingefallen!
Dass unser Badezimmer nicht im Haus, sondern ein eigenes Häuschen ist, zu dem wir ein paar Schritte laufen, hab ich sicher mal erzählt! Mindestens einmal am Tag laufe ich auf dem Rückweg um die Hofgebäude herum – „take the long way home“ sozusagen … Und gebe dabei acht: Betrachte den Boden, registriere all die winzigen Pflanzen und Insekten, die Düfte, spüre Sonne und Wind, schnuppere, spitze meine Ohren. Seit ich mich habe aufraffen können, ein wenig zu gärtnern besuche ich auch regelmäßig „meine“ Pflänzchen und schaue ihnen beim Wachsen zu. Dann gelingt es mir, einen Moment lang, einfach zu tun, was ich tue.
Ein kleiner Waldmeister
Die Weisheit des Mönches
Ein Mönch wurde gefragt, warum er trotz seiner vielen Aufgaben immer so gesammelt sein könne: „Wie gestaltest du denn dein Leben, dass du so bist, wie du bist, so gelassen und so in dir ruhend?“ Der Mönch sprach: „Wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich gehe, dann gehe ich; wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich schlafe, dann schlafe ich; wenn ich esse, dann esse ich; wenn ich trinke, dann trinke ich; wenn ich schweige, dann schweige ich; wenn ich schaue, dann schaue ich; wenn ich lese, dann lese ich; wenn ich arbeite, dann arbeite ich; wenn ich bete, dann bete ich.“
Da fielen ihm die Fragenden ins Wort: „Das tun wir doch auch. Aber was machst du noch, was ist das Geheimnis deines Mensch-seins?“
Der Mönch antwortete erneut in gleicher Weise.
Da warfen die Fragenden ein: „Das wissen wir jetzt. Das tun wir alles auch!“
Der Mönch aber widersprach: „Nein, eben das tut ihr nicht: Wenn ihr steht, dann lauft ihr schon; wenn ihr geht, seid ihr schon angekommen; wenn ihr sitzt, dann strebt ihr schon weiter; wenn ihr schlaft, dann seid ihr schon beim Erwachen; wenn ihr. esst, dann seid ihr schon fertig; wenn ihr trinkt, dann kostet ihr nicht genug; wenn ihr sprecht, dann antwortet ihr schon auf Einwände; wenn ihr schweigt, dann seid ihr nicht gesammelt genug; wenn ihr schaut, dann vergleicht ihr alles mit allem; wenn ihr hört, überlegt ihr euch schon wieder Fragen; wenn ihr lest, wollt ihr andauernd wissen; wenn ihr arbeitet, dann sorgt ihr euch ängstlich; wenn ihr betet, dann seid ihr von Gott weit weg.“
Mir schwant nichts Gutes, als am Tag des Online-Workshops zur Einführung in die Arbeit mit inneren Anteilen böiger Wind aufkommt … Unser Tun und Lassen wird weit über landwirtschaftliche Belange hinaus vom Wetter bestimmt: Bei Gewitter ist stets mit Stromausfällen zu rechnen, bei starkem Wind bläst es uns das Internet weg … In der Küche ist eingeheizt, Yogamatte und Kuscheldecke einerseits, Papier und Stifte andererseits liegen bereit … und ich komme nicht über die Einleitung hinaus, erfahre gerade eben, was ich erfahren würde, wenn ich denn online bliebe … Das erinnert schon ein bisschen an die Zeiten, als Funksprüche auf die Informationen zwischen all dem „rrrrks“ und „knacks“ abgehört wurden …
„Gasthaus“ schnappe ich auf, „Anteile treffen“ … „drei auswählen“ … Bei angeleiteten Meditationen gibt es immer wieder Pausen des Schweigens – die Meditierenden sollen sich ja auf ein Bild, eine Frage oder dergleichen fokussieren und nicht einfach zugeschwallt werden. Ich versuche, die Länge der Pausen einzuschätzen und spinkse hin und wieder zur Kamera und ihrem Lämpchen: Grün … grün … aus! Dann wechsle ich von der Yogamatte auf den Küchenstuhl und versuche, die Götter des Internets gnädig zu stimmen. So kann ich nicht meditieren!
Manchmal bleibt die Verbindung zwar erhalten, aber das Bild friert ein und ich höre nichts. Es gelingt mir, Bröckchen des Theorieteils zu erhaschen. Aber den größten Teil der Zeit sitze ich einfach frustriert und gelangweilt vor dem Rechner.
Einem Teil meiner Anteile bin ich ja schon begegnet … zur Not kann ich sicher drei aussuchen, mit denen ich später arbeiten möchte. „Nicht ausgerechnet gleich die schwierigsten“ … soviel immerhin habe ich mitbekommen. Aber so oft ich im Hundetraining auch gepredigt habe, dass wir immer vom Leichten zum Schwierigen trainieren: Ich konnte mich noch nie an meine eigenen Ratschläge halten.
„Du bist einfach nur faul und undiszipliniert!“ habe ich unterdessen an anderer Stelle gelernt, ist womöglich die Stimme eines täternahen, täterloyalen Anteils, oder ein sogenanntes Täterintrojekt. Das Wort „Täter“ ist, finde ich, an dieser Stelle missverständlich, weil zumindest ich an „Täter“ im Sinne von „Straftäter“, „Gewalttäter“ denken muss, was so aber gar nicht zwingend gemeint ist. „Täter“ können zum Beispiel auch einfach Elternteile sein, die ihrerseits instabil, nicht zuverlässig ansprechbar und schützend sind. „Auslöser“ oder „Verursacher“ wäre vielleicht passender. Mein allererster Therapeut hat mir mal erklärt, man spreche in der Therapie nicht von Schuld, sondern von ursächlicher Beteiligung. Irgendwie so …
Ein solcher Anteil wertet nicht, sondern hält dem ursächlich beteiligten Menschen die Treue, beschützt ihn und generiert so Nähe und Sicherheit. Täternahe Anteile verzeihen dem Täter – allerdings nicht aus einer friedfertigen, heilenden Haltung heraus: („Ein kleiner Klaps hat noch niemandem geschadet!“ wäre ein ganz typischer Ausspruch eines solchen Anteiles). Es sind außerordentlich starke Anteile, deren Entstehen dem Überleben dient: Sie sind hart gegen „sich“ selbst und verhindern den Zusammenbruch des Systems, indem sie schwächere, verletzbare Anteile beschützen.
Das Thema windet sich wie ein Aal, so richtig bekomme ich es noch nicht zu fassen* – ähnlich wie bei „Dissoziation“ und „Glaubenssatz“, werde ich wohl einfach warten müssen, bis mein Verstand die Information in einer Form vorfindet, die er für „verdaulich“ hält. Aber gestolpert bin ich nun einmal darüber und das Detail „hat dem Täter verziehen“ hat mich kurzerhand von den Füßen geholt.
Im Hier und Jetzt sitze ich immer noch vor dem Rechner. Nichts tut sich. „Täterintrojekt“ sinniere ich … „TI“ … „T“! T ist eine von Taras Persönlichkeiten in „Taras Welten“, sie trägt ein „T.“ Tattoo auf dem Po. Mein Blick fällt auf die bereitgelegten Stifte. Ich beginne, ein pinkfarbenes T zu zeichnen. Seit Jahren habe ich nicht zu zeichnen versucht: Durch die Makuladegeneration verschwindet alles, was ich direkt anschaue, hinter einer grauen Fläche und auch mit meiner Feinmotorik steht es grad nicht zum Besten.
Dementsprechend krakelig fällt mein T aus. Trotzdem habe ich Lust, aus dem Punkt ein Herzchen zu machen und das T selbst auch noch mit Lila zu dekorieren.
Mit meiner Angst sollte ich vielleicht auch einmal ein Wörtchen reden … Es gibt eine Sorte Spinnen, die ich für mich „Eckenspinnen“ nenne, weil sie gern in Ecken sitzen. Sie bestehen fast nur aus Beinen und sind so hauchzart, dass man sie kaum sieht. Erschrecken sie, beginnt der ganze Körper zu beben. Bei Gefahr rennen sie eilig davon. Beim Staubsaugen achte ich immer sehr darauf, ihnen reichlich Vorsprung zu lassen, damit ich sie nicht versehentlich aufsauge.
Die Eckenspinne gelingt schon besser.
Außerdem, fiel mir auf, weiß ich gar nicht, wer Aglaia eigentlich ist … Für sie möchte ich einen Raben zeichnen. Um Raben ranken sich zahlreiche Mythen – sie gelten als Unglücks- oder gar Todesboten, ursprünglich aber auch als Bringer des Lichts. Der germanische Gott Odin führte stets zwei Raben, Munin und Hugin, mit sich, die er jeden Tag ausschickte, um zu erfahren, was in der Welt Wichtiges geschah.Im Mittelalter galten Raben als Begleiter von Hexen. Schon als Kind habe ich mir einen zahmen Raben erträumt und der Anblick „unserer Raben“ weckt, wenn sie über dem Hof kreisen, immer mal wieder eine gewisse Begehrlichkeit. Als ich versuche, einen Raben zu „sehen“ (man kann nicht zeichnen, wovon man keine genaue Vorstellung hat) fällt mir Wilhelm Buschs Hans Huckebein ein, seine Vorliebe für Alkohol und sein unwürdiges Ende …
Zurück zum Bild eines beeindruckenden Rabenvogels! Leider gelingt mir lediglich eine schwarze Friedenstaube mit großem Schnabel …
Zu meinem Selbst will mir zunächst so gar nichts einfallen, also schreibe ich einfach ein dünnes „Selbst“ auf das entsprechende Blatt. Wie sich zeigt, habe ich trotz der „Funkstille“ alles richtig gemacht: Wir hätten den Namen oder ein Stichwort für den jeweiligen Anteil auf ein Blatt schreiben sollen, Zeichnungen werden normalerweise später angefertigt. Die Blätter werden auf dem Fußboden ausgelegt: Auf dem „Selbst“ stehen wir, die Anteile liegen vor uns. Ganz kurz höre ich eine Stimme aus dem OFF, die das extrem albern findet. In (oder eben auf) unserem Selbst können wir uns verankern: Sollte der Kontakt mit einem der Anteile schwierig werden, können wir zu uns selbst zurückkehren. Ich stehe stabil, ganz leicht im Knie und erinnere mich an einen Ratschlag, den ich einmal gelesen habe: Stell dir vor, du hättest einen langen, muskulösen Schwanz, mit dem du dich zusätzlich auf dem Boden abstützen kannst. Und mir wird klar: Ein Känguru! Das Bild für mein Selbst ist ein Känguru. Und es trägt Boxhandschuhe.
Nun sind wir eingeladen, uns „auf“ den Anteil zu stellen, mit dem wir in Kontakt treten möchten.
Ich hatte mit T beginnen wollen, bekomme aber plötzlich solche Angst, dass ich es sinnvoller finde, mich zuerst auf die Eckenspinne zu stellen. Kaum dort angekommen, beginne ich zu weinen. Es ist ein Weinen, das ich von mir gar nicht kenne: Ich selbst verkrampfe mich dabei, ziehe die Schultern hoch, halte die Luft an – hier weint jemand ganz entspannt. Und rät mir, einmal zu schauen, ob meine Höhenangst womöglich etwas damit zu tun hat, dass ich nicht „zu hoch hinaus wollen“ darf.
Nach einer Verschnaufpause bei mir selbst, versuche ich, Kontakt zu T aufzunehmen. Im ersten Moment habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Dann: Nichts. Keine Reaktion. Erst als ich zu meinem Selbst zurückkehre, spüre ich einen deutlichen Schub von hinten, als solle ich wieder zu T hin … Das wird – wenn auch nicht jetzt sofort – mit Sicherheit passieren. „Vielleicht“, schießt mir durch den Kopf, „freut sie sich für’s Erste einfach, dass ich ihr ein Bild gemalt habe.“.
Nun zu Aglaia. Ich bekomme sofort heftige Schmerzen in der linken Körperhälfte. Vom Kopf bis zu den Füßen – sogar die Zähne tun weh. Ansonsten schweigt sie. Der größte Teil der Anleitung zum Umgang mit meinen Anteilen, ist leider an mir vorbeigerauscht – da war was, aber ich erinnere mich nicht … Nur daran, dass ich meinen Anteilen einen guten Wunsch senden kann. Aglaia, von der ich glaube, dass mit ihr auch die bleierne Schwere einhergeht, die es mir manchmal unmöglich macht, mich auch nur im Bett aufzusetzen, wünsche ich, dass ihr Flug gelingen möge.
Die letzten Tage waren alles andere als einfach. Die Ataxie nach einer entzückenden Romanfigur „Laufente Lisbeth“ zu nennen, kommt meiner Neigung, die Dinge möglichst von der heiteren Seite zu nehmen, entgegen, aber ganz so lustig, wie es klingt, ist es nicht, wenn man tatsächlich Bewegungs- und Koordinationsstörungen hat. Ich muss höllisch aufpassen, nicht zu stürzen, hebe Tassen und Gläser vorsichtshalber mit beiden Händen zum Mund und übe mich in Gelassenheit, wenn mir der Käse zum dritten Mal vom Brot fällt.
Meine Anteile beginnen sich zu zeigen – nicht nur, wenn sie in der Meditation dazu eingeladen sind, sondern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Natürlich materialisieren die sich nicht einfach. Und ich höre auch keine Stimmen … jedenfalls nicht wirklich. Eigentlich – vermute ich jedenfalls – wissen wir alle, wie das ist : „Ich habe auch eine sehr fürsorgliche Seite“, „ich habe eine kreative Ader“ und ähnliche Beschreibungen klingen ja – ebenso wie die „zwei Seelen, ach!“ – nicht unvertraut. Und wir erinnern uns manchmal so lebhaft an die Worte einer Lehrerin oder unseres Großvaters, dass wir sie regelrecht hören können. Wer alt genug ist, sich noch an das „Lenor-Gewissen“ zu erinnern, weiß, mit welcher Selbstverständlichkeit dieses Bild verstanden wurde und wird. Meine Anteile scheinen halt … sagen wir … besonders eigenständig unterwegs zu sein.
Nachdem ich bereits verstanden habe, dass, wenn „produktiv“ und „kreativ“ sich verabredet haben, die Ärmel hochzukrempeln und gemeinsam ein Chaos in der Küche zu veranstalten, jemand, dem genau das nicht geheuer ist, sich nicht anders zu helfen weiß, als meinen Blutdruck in die Höhe zu jagen, bemühe ich mich, Ausgleich zu schaffen. Wir nehmen mal eines der fünf Projekte in Angriff, wir machen das ganz in Ruhe und wir hören dabei einen Krimi (etwas vorgelesen bekommen mögen alle, Krimis die meisten und „das Kind in mir will achtsam morden“ passt einfach wie die Faust auf’s Auge). Das funktioniert.
Aber es ist auch wahnsinnig anstrengend! Ich kann schließlich nicht jedes Mal, wenn jemandem – Entschuldigung! – ein Pups quer sitzt, eine halbe Stunde lang meditieren, ich muss das irgendwie on the fly koordiniert kriegen. Und es sind ja nicht nur diese drei: Nach dem Motto „Wehe wenn sie losgelassen“ machen sich potentielle Anteile, Erinnerungen und Glaubenssätze in einem kunterbunten Durcheinander bemerkbar. Zuweilen ist es, als wären die Teile mehrerer Puzzles in eine Schachtel geraten. Kein Wunder eigentlich, dass in solchen Momenten die (Fein)motorik leidet – das stockt und ruckelt dann wie bei einem Fuhrwerk, in dem jedes Pferd in eine andere Richtung losrennen will.
Immerhin: Es geht voran! Mit dem Stichwort „Glaubenssatz“ ging es mir sehr ähnlich, wie mit „Dissoziation“ auch: Die Botschaft hörte ich wohl, allein sie kam nicht an … Da musste erst der erwähnte Krimi kommen, der die Information quasi nebenbei einsickern ließ: Glaubenssätze entwickeln wir in der frühen Kindheit, wenn wir noch ganz und gar abhängig von unseren Eltern sind. Sie erklären uns entweder, warum unsere Bedürfnisse nicht erfüllt wurden („ich bin schlecht, ich habe das nicht verdient“), oder aber, was wir tun müssen, um vor den Augen unserer Eltern zu bestehen. Da wir diese Sätze tief verinnerlicht haben, handeln wir danach, ohne uns dessen bewusst zu sein.
Neulich hab ich beim Anblick der Wasserflasche auf dem Küchentisch bemerkt, wie durstig ich bin, gleichzeitig aber gesehen, dass die Spülmaschine zu Ende gelaufen war. Und wie selbstverständlich wollte ich diese erst einmal ausräumen, bevor ich etwas trinke. „Was zur Hölle? Ich hab Durst! Was macht es schon, wenn ich zuerst etwas trinke?“
Ab diesem Moment habe ich angefangen, darauf zu achten, wie ich mit meinen eigenen Bedürfnissen umgehe. Und tatsächlich: Bevor ich mir eines erfülle, erledige ich stets erst irgend etwas anderes. Kurz darauf hab ich die Worte dann auch klar und deutlich hören können: „Nicht immer alles sofort!“. Wieder in einer Situation, in der ich Durst hatte. Diesmal allerdings angesichts einer gut gekühlten Flasche köstlichen Wasserkefirs. Der musste – zugegeben – sehr vorsichtig geöffnet werden, ergo „Nicht immer alles sofort – du kannst Wasser trinken, wenn du jetzt Durst hast!“. Ich war so empört, dass ich laut geantwortet habe: „Lass das doch mal! Wenn ich verdammt nochmal jetzt Wasserkefir trinken will, dann darf ich das auch!“.
Gesagt, getan. Okay … die Flasche zu öffnen, war ein riskantes Unterfangen und ist schiefgegangen – gegen Wasserkefir ist selbst gut geschüttelter Champagner ein Niemand. Was sich nicht in der Küche verteilt hat, war dann aber wirklich lecker! Explosiver noch war die Reaktion meines Körpers: Ich hatte das Gefühl darin regelrecht umhergeschleudert zu werden. Konfrontationskurs scheint als Taktik nur semi-geeignet zu sein …
Also hab ich zu überlegen begonnen, wann dieser Satz hilfreich für mich ist. Er macht es mir leicht, zwischen den Mahlzeiten nicht zu naschen – darum mag der eine oder die andere mich durchaus beneiden. Er bewahrt mich vor Spontankäufen: Bei teuren Wünschen kriege ich es mitunter fertig, über Jahre abzuwarten, ob ich etwas wirklich haben möchte. Manche Begehrlichkeit gerät darüber sicher in Vergessenheit, aber mit den Dingen, die ich letztlich tatsächlich kaufe, bin ich dann meist auch hochzufrieden. Hier habe ich sozusagen Verhandlungsspielraum: Grundbedürfnisse werden zukünftig unverzüglich erfüllt, bei kostspieligen Wünschen soll und darf der Satz geschätzter Ratgeber bleiben.
Was ich gegen das innerliche Zittern, das Gefühl des umhergeschleudert Werdens tun kann, lehrt mich die weise Meditierende: Körperübungen wie Schütteln oder Klopfen geben mir das Gefühl zurück, in meine Haut hineinzupassen.
Dann allerdings, als ich gerade zu hoffen beginne, mit meinen Bemühungen auf einem richtig guten Weg zu sein, meldet sich ein Teil von mir zu Wort, den ich zwar nur zu gut kenne, aber so wenig leiden kann, dass ich ihn beim Einrichten meines Gasthauses sogar dann noch ignoriert habe, als er höchstpersönlich erschienen ist. Soviel zum Thema „ich mag meine Anteile willkommen heißen“ …
Es ist der Teil, der mich undiszipliniert und faul findet. Schon immer fand. Der den ganzen Quatsch mit Depression und Angststörung nie geglaubt hat. Der sich ganz sicher ist, dass ich mir meine Schmerzen lediglich einbilde, die neurologischen Erscheinungen simuliere. Und jetzt auch noch Persönlichkeitsanteile: Is klar! Dieser Teil findet mich nicht undiszipliniert und faul, er weiß das! Und brüllt mit diesem Wissen alles nieder, bis ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.
Bei meinem nächsten Gespräch mit der weisen Hebamme breche ich in Tränen aus, kaum dass ich „Bonjour“ gesagt habe. Ich bemühe mich, hervorzuwürgen, was mir widerfahren ist. Es ist mühselig und frustrierend, das nicht in meiner Muttersprache tun zu können – stattdessen wechseln wir ständig zwischen Französisch und Englisch, je nachdem, wo wir uns gerade beide des Vokabulars sicher sind – aber es verschafft mir auch ein wenig Distanz, so dass es mir leichter fällt, mich zu beruhigen. Auch der Umstand, dass sie mir ganz und gar unaufgeregt und entspannt zuhört, tut mir gut.
Dafür, dass ich in der Meditation Dinge sehe, meint sie, seien zwei Gründe denkbar: Es könne sich um Erinnerungen aus meiner Familiengeschichte handeln, oder aber – ähnlich wie in Träumen – um Botschaften meines Unterbewusstseins. Bezüglich der Stimme, die mir erklärt, undiszipliniert und faul zu sein, schlägt sie vor, diese nicht als Teil meiner selbst zu sehen, sondern als Teil meiner Erkrankung, eine Energie, die – einstmals überlebensnotwendig – aus der Vergangenheit bis in meine Gegenwart hinein gewirkt hat, und nun ihre eigene Daseinsberechtigung, ihr eigenes Überleben gefährdet sieht. Und deswegen mit aller Gewalt um sich schlägt.
Auch dieser Teil ist zu jemandes Schutz entstanden, denke ich mir, wenn auch nicht zu meinem: Scheint, ich habe ihn geerbt … Und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob dieses Erbe mir ausschließlich zum Nachteil gereicht: Es könnte ja durchaus dieser Anteil sein, der mich in Krisensituationen völlig gelassen bleiben lässt, der mich befähigt, durchzuziehen, was ich einmal angefangen habe. Der Teil von mir, den andere „mutig“ finden, wenn ich nur tue, was mir unvermeidbar scheint.
Ich sollte ihm danken, finde ich. Ich erweitere mein Gasthaus um eine Veranda, auf welcher eine alte Dame auf einem Schaukelstuhl sitzend und Erbsen pulend die Abendsonne genießen kann – yup! Rita Mae Brown lässt grüßen! „Jacke wie Hose“ um genau zu sein … Vielleicht kann dieser Teil von mir sich nach und nach mit der Idee anfreunden, in den Ruhestand zu gehen. Im Fall der Fälle kann er ja immer noch die Ritterrüstung aus dem Schrank holen.