3 Jahre ohne

Es ist jetzt gut drei Jahre her, dass ich mir die Frage gestellt habe, ob es nicht vielleicht doch möglich sein müsse, ein Leben ohne Psychopharmaka zu führen.
Bis zu diesem Moment hatte ich etliche Jahre lang ununterbrochen Antidepressiva genommen.
Zu Beginn meiner „Depri-Karriere“ hab ich sie noch abgesetzt, sobald ich Grund zu der Hoffnung hatte, es werde mir nun dauerhaft besser gehen. Aber jedes Mal, wenn diese Hoffnung wieder trog, hat es auch wieder 6 Wochen gedauert, bis das Medikament Wirkung zeigte. Und jedes Mal wieder habe ich mich mit den anfänglichen Nebenwirkungen herumgeschlagen: Die Mundtrockenheit ist leicht zu handeln, man geht einfach nie wieder ohne eine Flasche Wasser aus dem Haus und tröstet sich damit, dass es ja wichtig ist, viel zu trinken. Das unkontrollierte Muskelzucken kann man mit einem Scherz überspielen und es stört eigentlich kaum, wenn man nicht gerade Auto fährt. Und am Straßenverkehr sollte man ja sowieso nicht teilnehmen, wenn einem ständig schwindelig ist. Die bleierne Müdigkeit nervt zwar, unterscheidet sich aber nicht allzu sehr von der depressiven Bleischwere …
img_20289-q-webNach drei, vier Versuchen fand ich es sehr viel komfortabler, auch in guten Phasen eine minimale Dosis meiner Medikamente zu nehmen. So konnte ich beim nächsten Tief schnell und ohne große Nebenwirkungen gegensteuern. Ich habe über die Zeit tatsächlich ein recht gutes Gefühl dafür entwickelt, wieviel ich brauchte, bin also nicht ständig unter maximaler Dröhnung unterwegs gewesen. Aber eben auch nicht ohne.

Bis ich – eher zufällig – einen Schritt aus meinem bisherigen Leben hinaus getan habe. Zufällig und nur für einen Besuch – aber plötzlich schien alles möglich.
Ich habe voller Zuversicht meine Medikamente abgesetzt, bin in mein altes Leben zurückgekehrt … und fürchterlich auf die Fresse gefallen. In diesem Leben ging es nicht, soviel war sehr schnell klar.
Gar nichts ging mehr. Zu meinen demütigendsten Erinnerungen aus dieser Zeit gehört eine Radfahrt zum Freibad: Ich hatte versäumt, frühzeitig zu sagen, dass ich keinesfalls die Hauptstraße entlang fahren könne (zu viel Verkehr, zu nah, zu laut), sondern den Umweg über die kleinen Seitenstraßen nehmen müsse. Bin durch mein verängstigtes Zögern zurückgefallen, wollte aber auch nicht allein eine andere Strecke nehmen und anschließend die anderen im Freibad suchen müssen. Also bin ich ihnen zitternd und weinend hinterhergestrampelt. Ich bin tatsächlich angekommen und ja, ich bin auch geschwommen. Aber stellt Euch eine erwachsene, eine alte Frau vor, die, Badelaken und -anzug auf dem Gepäckträger, tränenblind quer durch die Stadt radelt. Klingt das irgendwie erstrebenswert?

Da es vorkommt, dass es psychisch Kranken an Einsicht fehlt und ich nach all den Jahren großes Vertrauen zu meiner Psychiaterin hatte, habe ich sie vorsichtshalber gefragt, ob ich ihrer Ansicht nach denn überhaupt in der Lage sei, selbst über meinen Medikamentenkonsum zu entscheiden …
Man hört und liest immer wieder von ÄrztInnen, die leichtfertig, ja fahrlässig ihre PatientInnen mit Psychopharmaka abspeisen – die meine hat das Gegenteil getan.
Sie hat mich von meinen Zweifeln und Sorgen erzählen lassen und mich dann gefragt „Möchten Sie Antidepressiva nehmen?“ Um mir dann zurückzugeben, meine verbale Antwort, vor allem aber meine Körpersprache sei ein klares und eindeutiges „Nein!“. Ich dürfe mich ruhig trauen, auf meine innere Stimme zu hören. Offenbar hätte ich einen Weg für mich gefunden, dem dürfe ich dann auch folgen.
Für mich hieß das: Meine Finger von Psychopharmaka lassen und die Brocken hinschmeißen.

Und da bin ich nun. Mit hingeschmissenen Brocken, einem neuen Leben … und einer Vorratspackung Antidepris für alle Fälle.
Ich könnte, sollte es nötig werden …
Aber es sind gar nicht die Tiefs, nicht die bleiernen Tage, die mich in Versuchung führen.
Ganz allmählich habe ich ein bißchen Vertrauen darein entwickelt, dass sie lange vor eventuellen Nebenwirkungen oder gar Wirkungen enden werden.

In Versuchung gerate ich, wenn ich einen dieser Wutanfälle habe, bei denen ich mich mit aller Macht zusammenreißen muss, um nicht alles kurz und klein zu schlagen, oder mit dem Kopf vor die Wand zu rennen.
Oder einen dieser Zusammenbrüche, wenn ich mir wieder einmal sicher bin, dass ich selbst hier niemals klarkommen werde. Wenn ich weinend auf dem Boden zusammensacke und nach meiner Mutter schreien möchte. Wenn ich nur noch nach Hause will – wissend, dass es in Deutschland kein Zuhause mehr für mich gibt.
Dann möchte ich tot sein, bis es mir wieder besser geht. Oder wenigstens im Koma liegen.
Eine Tageshöchstdosis meines gewohnten Medikamentes, von jetzt auf gleich verabreicht, würde das vermutlich leisten.

Bisher ist die Packung jedoch unangetastet und wenn es nach mir geht, bleibt sie das auch.

Veröffentlicht von

dieschattentaucherin

Schreibwütige Depressive auf ihrem Weg ins Sonnenlicht

19 Gedanken zu „3 Jahre ohne“

  1. In Versuchung gerate ich, wenn ich einen dieser Wutanfälle habe, bei denen ich mich mit aller Macht zusammenreißen muss, um nicht alles kurz und klein zu schlagen, oder mit dem Kopf vor die Wand zu rennen.

    Ich wüßte nicht, was passieren würde, wenn das jemand bei mir mit Medikamenten ausschaltet. Ich würde vermutlich den Strick nehmen. Und dann den Arzt damit erwürgen. Irgendwie so was.

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      1. Die Wutanfälle sind relativ neu und machen mich selber noch etwas ratlos …

        Die Antidepressiva habe ich damals bekommen, weil ich nur unter Schwierigkeiten die Wohnung verlassen konnte. Den Großteil des Tages habe ich dagesessen oder -gelegen, gedöst, oder vor mich hingestiert. Ich wollte wieder am Leben teilnehmen. Und das ging mit dem Zeug.

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      2. Klar, das ist einleuchtend. Ich habe es bisher glücklicherweise noch immer hingekriegt, die Bude irgendwann auch wieder zu verlassen. Obwohl da draußen diese Menschen rumfallen. Da bin ich auch sehr dankbar für.

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  2. Liebe Schattentaucherin,
    herzlichen Glückwunsch für 3 Jahre Durchhaltevermögen! Ich nehme bereits seit 8 Jahren AD und hatte schon den ein oder anderen Absetzversuch, der jedes Mal kläglich scheiterte. Seit einem Jahr gehe ich kontinuierlich in kleinen Minischritten runter und bin mittlerweile bei der Hälfte der Dosierung angelangt. Du machst mir Hoffnung, dass ich es wirklich schaffen kann! Alles Gute und halt die Ohren steif!
    Annie

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  3. Hi Iris,
    Wut ist jetzt vielleicht Ausdruck für das, was vormals deine bleierne Schwere war. Du hattest es vielleicht nur in dir eingeschlossen? Es verändert sich bei dir was. Nur, wenn sich etwas ändert, gibt es die Chance, dass es auch besser wird.
    Liebe Grüße

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    1. Liebe Melanie,
      ich hoffe auch, dass die Wutanfälle bedeuten, dass etwas in Bewegung gekommen ist.
      Im Moment finde ich sie allerdings noch ziemlich beängstigend.
      Und drücke mich so’n bißchen davor, darüber zu schreiben …
      Liebe Grüße
      Iris

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  4. Liebe Iris, herzlichen Glückwunsch zu dieser Entscheidung. Ich bin nach dem Tod meines geliebten Mannes in ein tiefes Loch gefallen. Ich bin dankbar, das ich die Chance hatte, in der Klinik Berus Hilfe beim Herauskrabbeln zu bekommen. Sie setzen vor allem auf selbstbestimmung, Bewegung und Erweiterung des Erfahrungshorizontes, zur Not gibt es auch Medikamente. Für mich eine gute Adresse, falls es mal wieder eng wird. Alles Gute Dir, je t’embrasse
    gruss aus ouagadougou Gabriele

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  5. Hallo liebe Iris,
    Du bist zwar mit Deiner liebenswerten Art noch immer bei mir und wohl auch bei Lotti in unseren Herzen, aber ich freue mich für Dich ganz sehr, dass Du das heute schreiben kannst. Sei lieb gegrüßt von uns!

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  6. Hallo Schattentaucherin und auch von mir einen herzlichen Glückwunsch daß Du Dich Deinen Dämonen stellst anstatt ihnen mithilfe von Medikamenten davonzulaufen oder sie zu unterdrücken.

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      1. Ist schon schräg, oder? Wenn jemand zwei Wochen in die Südsee fliegt und sich dort die Birne zuknallt um sein Leben zu vergessen dann ist das Urlaub. Wenn Du nach Südfrankreich fährst um Dein Leben in Ordnung zu bringen dann ist das Flucht…

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