Montagsmodell I: Blindfisch

„Selbst Hypochonder können mal krank sein!“, hat meine Hausärztin in Deutschland geflachst, als sie mich überredet hat, meine Schilddrüse röntgen zu lassen. Da ich keinerlei Beschwerden verspürte, hatte ich zunächst nicht die Notwendigkeit für eine Untersuchung gesehen …
In diesem Falle hat sie Recht behalten (seitdem lebe ich ohne Schilddrüse), aber sie hat mir auch einmal gesagt, wie frustrierend es für sie sei, wenn ich wieder einmal mit Symptomen vorspräche, die sie sich schlicht nicht erklären könne. Damit war sie in guter Gesellschaft …

Teils hab ich einfach Pech gehabt:

Als sich im Teenageralter die Endometriose bemerkbar machte, kamen Menstruationsbeschwerden noch gleich nach Haarspitzenkatarrh. Sie stellten sich an, wurde den Frauen bedeutet, oder hätten ein Problem mit ihrer Weiblichkeit. Ich habe Schmerzmittel geschluckt, Sport getrieben, heiße Bäder genommen, Kräutertee getrunken, mir Wärmflaschen vor den Bauch gebunden und ja: ich habe mir alle Mühe gegeben, ein positives Verhältnis zu meiner Gebärmutter zu entwickeln. Und mir im Zweifel vorgebetet, dass man an Unterleibskrämpfen nicht stirbt – auch wenn es sich so anfühlt. Nachdem einer mir ein Rheumamittel dagegen verordnet hatte (und zwar just zur Zeit des großen Skandales um deren Nebenwirkungen), habe ich meine Beschwerden Ärzten gegenüber nicht mehr groß thematisiert, sondern mich einfach bemüht, sie anzunehmen. Und so war ich über 40, als ich meiner Gynäkologin gegenüber beiläufig erwähnte, ich hätte Bauchweh vom Magen bis zu den Knien …
Seitdem lebe ich ohne Gebärmutter.

Glomus Tumore im Nagelbett sind – im Gegensatz zu Endometriose – selten, was womöglich erklärt, warum bis zur Diagnose über 20 Jahre ins Land gegangen sind, obwohl ich mit meinen Beschwerden von Pontius zu Pilatus gerannt bin. Hier flachste zum guten Schluss der Dermatologe: „Keine Sorge, wenn der bösartig wäre, wären sie schon lange tot!“ …
Das war mir nach der ganzen Zeit schon selber klar, aber diese Sorte Tumore verursacht unerträgliche Schmerzen, wenn Druck auf sie ausgeübt wird. Beim Zuknöpfen meiner Jacke mit dem Fingernagel an einen Knopf zu stoßen, hat ausgereicht, mir die Tränen in die Augen zu treiben.
Ich hätte mir das oberste Fingerglied amputieren lassen, wenn das nötig gewesen wäre, aber tatsächlich fehlt mir nach der Operation nur der Nagel. Das fällt kaum auf.

Der Tumor in meiner Brust darf bleiben, obwohl er manchmal ordentlich kneift. Er ist gutartig und ich habe schlicht keine Lust, mir noch irgend etwas wegoperieren zu lassen.

Anderes ist rätselhaft geblieben:
Ich bin fünf, sechs Mal in verschiedene Krankenhäuser eingeliefert worden, weil ich mich übergeben habe und nicht mehr damit aufhören konnte. „Unstillbares Erbrechen“ nennt das der Fachmann, aber mehr ist nicht dabei herausgekommen. Es ließ sich keine Ursache finden.

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Ein weiteres Rätsel immerhin ist soeben gelöst worden.
Seit ca. 10 Jahren schwebt ein trüber Fleck vor meinem rechten Auge, der, wenn mir jemand gegenüber sitzt, ziemlich genau über dessen Gesicht liegt und es ein wenig verschwimmen lässt. Etwas später fiel mir auf, dass ich keine geraden Linien mehr sehen konnte: Im ersten Augenblick sehe ich Bögen. Einen Sekundenbruchteil später „ziehen sie sich grade“, aber das gilt für jede Linie, die ich anschaue auf’s Neue, was sich ziemlich seltsam anfühlt, wenn ich zum Beispiel beim Autofahren auf die Mittellinie schaue. Wupp! Wupp! Wupp!
Nicht, dass ich damit nicht bei diversen Ärzten vorgesprochen hätte …
Die mich stets dem üblichen Sehtest mit schwarzen Blockbuchstaben auf weißem Grund unterzogen haben, um hocherfreut festzustellen, dass ich völlig normal sehe.
Seit ich lesen gelernt habe, verbringe ich weite Teile meiner Zeit mit Lesen: Natürlich erkenne ich Buchstaben! Zur Not an ihrem Umriß …
Stellt man mich dagegen vor ein Supermarktregal, in dem zum Beispiel viele kleine bunte Verpackungen nebeneinander stehen, brauche ich ewig lange, bis ich jede einzelne angeschaut und „gerade gerückt“ habe. Und das muss ich, wenn ich etwas Bestimmtes suche …
Das allerdings interessiert die Ärzte nicht. Stattdessen untersuchen sie unverdrossen ein Problem, das ich erklärtermaßen gar nicht habe. Ich komme mir vor, als ginge ich mit Hämorrhoiden zum Arzt und würde nach einem Blick in meinen Rachen mit dem Hinweis, da sei nichts entzündet, wieder weggeschickt.

Vor einigen Monaten nun habe ich festgestellt, dass ich doppelt sehe. In der Nähe sind es nur sich überlappende Bilder, exponierte Objekte in größerer Entfernung dagegen sehe ich klar (für meine Verhältnisse jedenfalls) abgegrenzt doppelt. Den Mond zum Beispiel, oder einen Raubvogel (wenn sie absolut synchron fliegen, weiß ich, es ist nur einer …).
Ich hab begonnen, ein bisschen herumzuprobieren: mit beiden Augen gucken = zwei Vögel, nur mit links = ein Vogel, nur mit rechts = kein Vogel.
Weniger lustig fand ich den Umstand, dass ich manche Dinge jetzt tatsächlich gar nicht mehr erkenne.
Es fiel mir auf, als ich auf der Suche nach unseren Ziegen war: Ich sah etwas Weißes in ca. 100 Metern Entfernung und war mir sicher, dass es sich dabei nicht um einen Felsen handelte – einfach, weil ich mittlerweile weiß, wo auffällige Felsen zu sehen sind und wo nicht. Aber ob dieses Weiße nun Schaf oder Ziege war, habe ich beim besten Willen nicht erkennen können.
Also wieder einmal zum Augenarzt …, der nach dem üblichen Sehtest und dem üblichen Ergebnis wegen der Doppelbilder zu Augengymnastik rät. Der trübe Fleck interessiert ihn nicht: Mit meinen Augen sei alles okay. Sonst müsse man ein MRT machen.
Mein Hausarzt tippt zunächst auf ein psychosomatisches Phänomen: Es sei womöglich meine Angst, die mir im Supermarkt das Sehen erschwert. Dass ich schlechter sehe, wenn ich Angst oder aber ein depressives Tief habe, ist mir ja auch schon aufgefallen, aber in Supermärkten komme ich mittlerweile erstaunlich gut klar und warum um alles in der Welt sollte ich bei der Suche nach ausgebüxten Ziegen Angst haben?
Ich entscheide mich für ein MRT.
Anscheinend habe ich ja an allen möglichen Ecken und Enden Tumore, warum nicht auch am Sehnerv? Und bisher – toi!toi!toi! – waren alle harmlos.
Als ich anschließend zum CT gebeten werde, um zu klären, ob ich womöglich an einem Aneurisma leide, kriege ich dann aber doch Angst. Das finde ich sehr unheimlich!
Natürlich habe ich mich untersuchen lassen, damit endlich einmal festgestellt wird, was mit meinem Sehvermögen nicht stimmt, aber an etwas potentiell Lebensbedrohliches hatte ich keinen Moment lang gedacht!
Und so denke ich beim Stemmen der nächsten Schieferplatte nicht an meinen Rücken, sondern „was, wenn das jetzt platzt?“ …
Aber zumindest was das betrifft, ist in meinem Oberstübchen alles in Ordnung.

Nächste Station ist die Augenklinik und auch die verlasse ich um ein Haar ohne Befund.
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was die junge Ärztin schließlich stutzen lässt. Womöglich ist es meine vehemente Reaktion als ich, obwohl wie immer mit „Dolmetscher“ unterwegs, zu verstehen meine, dass sie über trübe Partikel im Glaskörper des Auges spricht, die ganz normal seien. GENAU damit hat mich vor 10 Jahren der erste Augenarzt nach Hause geschickt! Und das ist nicht das, was ich sehe!
Sie kommt mit einem Foto, auf dem ein Fleck über dem eigentlichen Motiv liegt …
Ob ich so etwas sehen würde?
JA! Genau so!
Und diese Linien?
Krumm!
Offenbar sind meine Symptome so typisch, dass man mit dem Krückstock dran kloppen kann …
Oder wären es, wenn ich deutlich älter wäre.
Einen weiteren Klinikbesuch und ein fluoreszierendes Kontrastmittel mit sehr lustigen Nebenwirkungen später steht die Diagnose: Fortgeschrittene Makuladegeneration im rechten Auge.
Die gute Nachricht: Es macht nichts, dass es so lange gedauert hat, bis die Diagnose gestellt wurde. Makuladegeneration ist nicht heilbar.
(Wenn sonst niemand blöde Sprüche klopft, muss man es halt selber tun …)
Man kann mit Nahrungsergänzungsmitteln und einer gesunden Lebensführung gegensteuern, aber Stand heute war es das dann auch.
Im linken Auge sind ebenfalls erste Schäden feststellbar, die bemerke ich allerdings selbst noch nicht.
Wenn die Beeinträchtigungen von jetzt auf gleich über mich hereingebrochen wären, würde ich sie vermutlich grauenvoll finden, aber so hatte ich ja über Jahre hinweg Zeit, mich allmählich daran zu gewöhnen. Und eine Erkrankung wird nicht schlimmer, wenn man eine Diagnose hat: Man hatte sie ja vorher schon. Außerdem wird man, auch wenn Makuladegeneration als Altersblindheit bezeichnet wird, nicht wirklich blind: An der Peripherie bleibt das Sehvermögen erhalten, man kann sich also nach wie vor orientieren.
Das linke Auge macht mir allerdings schon Sorgen.
Bisher kann ich mit Brille zwar problemlos lesen, aber ich tue es mit dem linken Auge. Halte ich es zu, sehe ich nur noch ein Gewoge, in dem ich selbst in Großdruck nur mit Mühe einzelne Buchstaben identifizieren kann. Nicht mehr lesen und schreiben zu können, würde mich sehr hart ankommen. Andererseits hat es Jahre gedauert, bis das Sehvermögen rechts so stark nachgelassen hat …
Ich habe also hoffentlich noch ein paar Jahre Zeit.

Veröffentlicht von

dieschattentaucherin

Schreibwütige Depressive auf ihrem Weg ins Sonnenlicht

9 Gedanken zu „Montagsmodell I: Blindfisch“

  1. Unfassbar, daß die Makuladegeneration bei den Symptomen nicht sofort in Betracht gezogen wurde. Was sind das für Ärzte??? Aber ich kenne das Phänomen von so vielen, die wie ich Multiple Sklerose haben. Da können die Symptome noch so typisch sein, es dauert zum Teil trotzdem ewig, bis ein Arzt MS überhaupt vermutet.
    Ich wünsche dir alles Gute für die Augen! (Für alles andere natürlich auch 😊)

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      1. Ja, total oft sogar. Mich wundert aber, dass es auch dann nicht erkannt oder vermutet wird, wenn es eigentlich paßt. Ich wäre jedenfalls nach dem was du beschrieben hast, sofort auf Makula Degeneration gekommen. Habe selbst eine Netzhautablösung gehabt, und beim Googeln meiner Symptome stieß ich u.a. auch auf Makula Degeneration. Ich hatte auch diese verzerrten Linien (unter anderem), aber der Rest passte nicht dazu. Zum Glück hat meine Augenärztin die Netzhautablösung sofort bei der Augenhintergrunduntersuchung gesehen. Das muss nämlich unverzüglich operiert werden, da kann man nicht lange nach der Diagnose forschen 😉

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      2. Die diagnostische Ausbildung von Medizinern heutzutage ist mittelmäßig lausig. Wozu noch genau hinsehen? Es gibt ja Röntgen, 3D-Sono, und CT und MRT.
        Ich hatte „Lesen von Röntgenbildern“ noch im Studium. Und mal genau Zuhören ist nicht – wir haben ja keine Zeit!

        Ich drücke alle Hufe, daß es besser wird. Ein Frohes Neues Jahr trotzdem.

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  2. Man weiß gar nicht, was man zu so einer Auflistung sagen soll. Außer, dass man wütend feststellen muss, dass jeder, der etwas anderes hat als die Top 3 der häufigsten Krankheiten, echt gebeutelt ist. Ich musste das selbst mit meinen 26 Jahren schon auf mindestens zwei Gebieten feststellen und hatte immer gehofft, dass ich nur besonders viel Pech habe. Und sowas in dem Land, dessen Pass zurzeit am „wertvollsten“, weil am privilegiertesten, ist, und in dem man nur mit einem 1,0 Abi Medizin studieren kann. Vielleicht sollte man auch wenigstens eine 2,0 in „Menschenverstand“ und „Empathie“ nachweisen müssen?
    Lass dich nicht unterkriegen,
    Sabine

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