4 Dinge, die Du im Umgang mit depressiven Menschen gleich wieder vergessen kannst

Menschen, die an Depressionen leiden, fühlen sich häufig (und häufig vollkommen zu Recht) unverstanden, nicht ernst genommen. Und ja: Es ist schwierig bis unmöglich, sich in einen depressiven Menschen hineinzufühlen, wenn man selbst nie unter Depressionen gelitten hat. Deswegen ist es gut und richtig, dass in den letzten Jahren zunehmend über diese und andere psychische Erkrankungen informiert wird, um Vorurteile abzubauen und Hilfestellung im Umgang mit psychisch kranken Menschen zu geben. Meineeine gibt sich da ja auch durchaus Mühe.

Und so ist es vermutlich keine Überraschung, dass es auch zu diesem Thema unterdessen einige dieser inflationär verbreiteten Kurzratgeber gibt, die in aller Regel mit „X Dinge, die Du …“ betitelt sind – und was anderswo ausführlich erläutert wird auf ein paar wenige, leicht verdauliche Stichpunkte eindampfen –, so dass man sich informiert fühlen kann, ohne eine Aufmerksamkeitsspanne von mehr als 3 Minuten zu benötigen.
Ich persönlich mag die nicht leiden und hab in aller Regel schon angesichts der suchmaschinenoptimierten Überschrift keine Lust mehr. Aber sei’s drum: Vielleicht muss man in schnelllebigen Zeiten auch schnelllebig erklären.

Neulich nun stolperte ich über einen, der versprach, zu verraten, was man wissen muss, wenn man einen depressiven Menschen liebt.
Oh! Liebe
Texte, die sich aus diesem Blickwinkel mit dem Thema Depression befassen, hatte ich bisher nicht gesehen. Das hat meine Aufmerksamkeit erregt, mein Interesse geweckt. Tut das Stichwort Liebe das nicht immer?

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Die Illustration stand dem Titel in nichts nach: Ein Portrait einer rothaarigen Schönheit, die – die Frisur leicht zerzaust – mit kokettem Blick und leicht geöffneten Lippen den Betrachter anschaut. Wow! Den Prototyp einer depressiven Frau hätte ich mir so jetzt nicht vorgestellt. Oder sehen so Frauen aus, die depressive Männer lieben? Aber gut: Das ist natürlich ein sehr viel wirksamerer Eyecatcher als irgend so ein Schwarzweißfoto mit See und Bäumen im Nebel …

Leider war das dann aber auch schon alles, was diesen Text zu etwas Außergewöhnlichem machte.
Der Inhalt war der sattsam bekannte und hätte ebenso gut unter der Überschrift „Was Sie tun können, wenn ein Arbeitskollege an Depressionen erkrankt“ stehen können. Vielleicht mit einem Foto einer grauen, zerknitterten Gestalt, die an einem Schreibtisch sitzt.

Clickbaiting“ hätte ich mir gedacht und das ganze Ding rasch vergessen, wären da nicht ein paar wirklich ärgerliche Details gewesen.

„Depressionen gelten als Geisteskrankheit“ lese ich und tatsächlich findet dieser Begriff in der juristischen Diktion und in der forensischen Psychiatrie bis heute Verwendung (wenn auch nicht für Depressionen, sondern für „psychische Störungen von erheblichem Ausmaß wie Schizophrenie oder auch für geistige Behinderung“, Quelle: Wikipedia). Aus dem alltäglichen Sprachgebrauch ist er aus guten Gründen längst verschwunden, stigmatisiert er doch die Betroffenen.
Wenn man einmal die Stichwörter „Depression“ und „Geisteskrankheit“ zusammen bei Google eingibt, erhält man einen ganzen Rattenschwanz von Artikeln, in denen nachzulesen ist, dass und warum Depression keine Geisteskrankheit ist. Aber offenbar ist schon das für „X Dinge, die Du …“ AutorInnen zu viel der Recherche.
Haarspalterei? Ganz ehrlich: Das Etikett „geisteskrank“ empfinde ich als beleidigend. Ich habe schließlich auch, als es mir richtig schlecht ging, eine Klinik aufgesucht und war nicht im Irrenhaus.
Da gibt also jemand hochwichtige Tips, wie mit Menschen wie mir umzugehen sei, und macht sich dabei nicht einmal die Mühe, mich auch nur angemessen anzusprechen.
Da wird mir doch gleich ganz warm ums Herz von dem ganzen Verständnis für meine Erkrankung!
Vielleicht geh ich mal zu meinem schwarzafrikanischen Nachbarn und drücke ihm mein Mitgefühl dafür aus, dass die Neger immer diskriminiert werden …

Die gute Nachricht: Es sei möglich, dass die Depression einen Menschen kreativer, leistungsfähiger und empathischer mache. Untersuchungen hätten außerdem gezeigt, dass depressive Menschen ein besseres Urteilsvermögen und eine schärfere Wahrnehmung hätten. Das mit der Leistungsfähigkeit kann ich nun nicht bestätigen, zumal „Antriebslosigkeit“ ja eines der klassischen Symptome einer Depression ist, und auch das Urteilsvermögen lässt vermutlich eher zu wünschen übrig, wenn man – wie viele depressive Menschen – mit Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen hat.
Aber „kreativ und empathisch“, „schärfere Wahrnehmung“! Das klingt gut!

Nur … warum muss man das wissen, wenn man mich liebt?
Entweder ich bin kreativ und empathisch, dann sollte ein liebender Mensch das – Depresse hin oder her – irgendwann mal mitgekriegt haben.
Oder ich bin es eben nicht. Dann würde ich mir doch aber trotzdem Verständnis für meine Erkrankung erhoffen, oder?
Oder soll das ein Kriterium für die Partnerwahl sein – so nach dem Motto „okay, sie ist geisteskrank, aber mit ein bisschen Glück ist sie kreativ!“?

Aber es klingt erst einmal so nett: Endlich sagt mal jemand etwas Wertschätzendes über Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Also: Über mich.
Und tatsächlich dauert es eine ganze Weile, bis mit klar wird, warum mir das solches Unbehagen bereitet.
Man ersetze einmal „Depression“ durch eine andere Erkrankung:
„Es ist möglich dass eine Krebserkrankung einen Menschen kreativer, leistungsfähiger und empathischer macht.“,
„Untersuchungen haben gezeigt, dass Diabetiker ein besseres Urteilsvermögen und eine schärfere Wahrnehmung haben.“ …
Klingt komisch, oder? Irgendwie unangemessen.
Schließlich sind das ernsthafte Erkrank … „ooops!“ …

Depression ist eine ernsthafte Erkrankung und wenn man im Umgang mit depressiven Menschen irgend etwas dringend wissen sollte, dann DAS!

Immerhin bringt mich das auf einen Tip, den man gut brauchen kann, wenn man einen depressiven Menschen liebt (oder mag, oder schätzt, oder einfach irgendwie mit ihm klarkommen muss):
Bevor Du etwas sagst, ersetze „Depression“ durch „Krebs“, oder – wenn Dir das zu hart erscheint – durch Oberschenkelhalsbruch oder Fischvergiftung. Wenn es sich dann blöd anhört, behalt es einfach für Dich.

Menschen mit einer psychischen Erkrankung möchten ernst genommen werden!
Und das bringt mich doch wahrhaftig zu einem weiteren ärgerlichen Detail:
Es sei wichtig, werde ich belehrt, zu verstehen, dass der Gemütszustand eines depressiven Menschen nichts mit dessen Partner zu tun habe, sondern nur mit ihm selbst.
Spontan fällt mir dazu ein steinalter Paranoikerwitz ein: „Dass ich Paranoia habe, bedeutet nicht, dass ich nicht verfolgt werde!“. Frauen, die, wenn sie sich über etwas ärgern, darauf reduziert werden, sie hätten wohl ihre Tage, werden das Gefühl ebenfalls kennen.
Wenn ich mich in der Beziehung zu meinem Partner unglücklich fühle, dann könnte das verdammt nochmal durchaus bedeuten, dass dort etwas im Argen liegt! Einen Partner, der dann findet, das habe nichts mit ihm zu tun, brauche ich ungefähr so dringend, wie ein Loch im Kopf.

Das Beste kommt zum Schluss:
Einen Menschen zu lieben, der unter Depressionen leidet, sei eine Herausforderung.
Die Niagarafälle in einer Zinkbadewanne zu befahren, das ist eine Herausforderung! Eine Herausforderung nimmt man an, wenn einen das reizt, weil man (sich) etwas beweisen will. Oder lässt es eben bleiben. Das hat durchaus sportlichen Charakter.
Ich für mein Teil möchte einfach geliebt werden. Weil ich ein liebenswerter Mensch bin. Und nicht, weil oder obwohl das angeblich eine Herausforderung ist.

Warum mich ein paar Zeilen lieblos zusammengenagelter Pseudo-Ratschläge überhaupt so ärgern?
Weil sie tatsächlich verbreitet werden. Und zwar nicht einmal von solchen Menschen, die’s betrifft (den PartnerInnen, FreundInnen, KollegInnen depressiver Menschen), sondern von denen, über die gesprochen wird.
Da vertritt jemand unsere Interessen, wirbt um Verständnis und sagt sogar etwas Nettes über uns!
Jo. Aber mal ernsthaft: meint Ihr nicht, wir hätten was Besseres verdient?
Gründlich recherchiert zum Beispiel? Frei von Vorurteilen? Zusammenhängend womöglich, anstelle von Telegrammstil?
Warum sind wir mit so wenig zufrieden? Weil wir schon selbst verinnerlicht haben, dass wir nur Mühe machen, ihrer aber nicht wert sind?

Ersetzen wir doch noch einmal was und denken uns neue Überschriften aus:
„X Dinge, die Du wissen musst, wenn Du
einen Holländer
eine Hundehalterin
einen Veganer
eine Blondine
liebst.
Keine Frage: das Ergebnis wird satirischer, wenn nicht anzüglich / platter Natur sein.
Dem angesprochenen Personenkreis und den Besonderheiten, die sich in einer solchen Beziehung ergeben mögen, kann es gar nicht gerecht werden. Soll es in diesem Fall auch nicht: Es ist einfach lustig.
Was um alles in der Welt aber lässt uns der Sache mehr Sinngehalt beimessen, wenn es um Menschen mit Depressionen geht?

Ich würde mir von einem Menschen, der mich liebt, ehrlich gesagt ein bisschen mehr wünschen, als dass er sich nach der Lektüre weniger Zeilen der „Herausforderung“ gewachsen fühlt.
Nö, er muss keine einschlägigen Artikel und Bücher lesen. Es wäre toll, ja! Aber der Fairness halber muss ich gestehen, dass ich mich mit Fachliteratur über Dinge, die meinen Partner interessieren, auch nicht zwingend beschäftige.
Ich würde mir wünschen, dass er sich mit mir auseinandersetzt. Ich bin da, ich kann sprechen. Ich kann schildern, wo Schwierigkeiten liegen, ich kann formulieren, was meine Bedürfnisse sind.
Wir können unseren Weg finden, wie alle anderen Paare auch.

Es sei denn, er findet, er habe mit der Lektüre von „X Dinge, die Du …“ sein Teil getan. Dann wird das nix.

P.S.: Ich verlinke den Text, über den ich mich so geärgert habe, hier ganz bewusst nicht. Der ist keinen weiteren Click wert.

Veröffentlicht von

dieschattentaucherin

Schreibwütige Depressive auf ihrem Weg ins Sonnenlicht

4 Gedanken zu „4 Dinge, die Du im Umgang mit depressiven Menschen gleich wieder vergessen kannst“

  1. Oh! Liebe …

    Ich höre da leichte Würgegeräusche in meinem geistigen Lesezimmer?

    mit See und Bäumen im Nebel

    Nebel ❤ Sind Nebeltage nicht völlig großartig? Aber das verstehen die meisten Normalos eben nicht 😉

    Aber offenbar ist schon das für „X Dinge, die Du …“ AutorInnen zu viel der Recherche.

    Recherche! Pfahh! Verehrte schattige Taucherin – in einer Zeit, in der Bots und Praktikanten online Artikel zusammenschustern, in denen nicht mal mehr Possessivpronomen und ähnlich geheimnisvolle Dinge korrekt benutzt werden? Wie z. B. Rechtschreibung oder Interpunktion?

    „An Depression erkrankt“ ist auch schön, oder? Wie so’n Schnupfen.

    okay, sie ist geisteskrank, aber mit ein bisschen Glück ist sie kreativ!“?

    Cute but psycho but cute. Offenbar war der Verfasser des Artikels kein Empath/In/ix.

    dass der Gemütszustand eines depressiven Menschen nichts mit dessen Partner zu tun habe, sondern nur mit ihm selbst.

    Jetzt verstehe ich langsam, warum dich das aufgeregt hat. Unfaßbarer Dünnsinn. Natürlich entstehen Depressionen niemals aus irgendeiner Interaktion mit der Umgebung. Völlig absurde Idee!

    Du solltest dich übrigens mehr aufregen, finde ich. Ich stelle für mich immer fest, daß mir das oft weiterhilft.

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      1. Sehr gut. Nächste Stufe: Zorn.
        „Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“ – Gregor der Große

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