Wenn eine Bloggerin, die von ihrem Leben mit Depressionen berichtet, ganz und gar verstummt, kann das ein Grund zur Besorgnis sein – oder eine gute Nachricht!
Bei mir ist letzteres der Fall: Es geht mir gut. Wenn ich heute einen wirklich schlechten Tag habe, dann habe ich so ziemlich genau das, was gesunde Menschen meinen, wenn sie (zum Missvergnügen derjenigen, die sich mit einer psychischen Erkrankung herumschlagen) „Das kenn ich, das geht mir manchmal ganz genauso!“ sagen.
Der Plan, mein Leben so zu verändern, dass ich es ohne Angst und Depression leben kann, ist aufgegangen. Darüber gibt es nicht mehr groß was zu erzählen.
Stattdessen sind, zu meiner nicht geringen Überraschung, die Ursachen meiner Erkrankung in den Fokus gerückt, von denen ich bisher immer angenommen hatte, sie seien schlicht nicht ausfindig zu machen.
Mit schwarzer Pädagogik habe ich mich eher zufällig und aus einem ganz anderen Grund zu beschäftigen begonnen, merke aber immer wieder, dass entsprechende Literatur irgendetwas in mir trifft, mich weinen macht und aus der Fassung bringt, so dass ich beim Lesen viele Pausen machen muss. Manches scheine ich schon in der Sekunde wieder zu vergessen, in der ich es wahrgenommen habe, gerade so, als wollte mein Gehirn nichts damit zu tun haben.
Dass ich zu den sogenannten KriegsenkelInnen gehöre, den Kindern der Kinder also, die den zweiten Weltkrieg mit tiefen Traumata überlebt haben, war mir bewusst. Wie umfänglich sich dieses „Erbe“ auf das Leben der Betroffenen auswirkt (und wie typisch meine Lebensgeschichte in vieler Hinsicht ist) erlese ich mir erst jetzt. Auch das mit vielen und langen Pausen.
Bis ich hierüber selbst zu schreiben in der Lage bin, wird noch eine Menge Zeit vergehen, dessen bin ich mir sicher.
***
Über mein Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers zu schreiben, schien mir ebenfalls ein lohnendes Unterfangen zu sein, allerdings konnte ich in diesem Moment nicht ahnen, wie zermürbend die nächsten Monate sein würden.
Irgendwann waren alle Ausschlussuntersuchungen gemacht, aber es gab keine Diagnose, sondern immer nur neue, unerklärliche Symptome.
Der bereits bestens bewährte Entengang erweiterte sich um eine Art Hühnerflügel-Position der Arme, die dabei half, im Zweifel das Gleichgewicht zu halten.
Zuweilen hat es sich angefühlt, als würden meine Beine wahlweise über ein paar Gelenke zu viel, oder aber zu wenig verfügen. Wer schon einmal versucht hat, Pedalo zu fahren (zwei etwa fußgroße Brettchen zwischen drei Räder-Paaren, auf denen balancierend man sich, mit einer Bewegung wie beim Fahrradfahren, vor- und zurückbewegen kann), kann sich das Zuviel an Gelenken vermutlich vage vorstellen. Das Zuwenig betraf häufig die Knie, die plötzlich zu fehlen schienen, was zu einer Art Stelzengang führte.
Je zügiger ich (womöglich bergauf) zu gehen versucht habe, desto unkoordinierter und langsamer wurden meine Bewegungen. Bis an schlechten Tagen gar nichts mehr ging.
Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es eine Frage der Konzentration war: Auf dem Hof, wo ich jeden Weg und Steg gut kenne, bin ich die meiste Zeit relativ gut klargekommen. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt jedoch musste ich achtgeben, wohin ich überhaupt wollte, keine PassantInnen anrempeln, eventuelle Hindernisse vermeiden, nicht über die Bordsteinkante stolpern, auf den Verkehr achten … das war viel zu viel, zum halbwegs normalen Gehen haben die Kapazitäten nicht mehr gereicht. Mit jedem Meter bin ich immer langsamer und immer eieriger vorangekommen und ich hab mir oft sehr gewünscht, wie eine ganz alte Dame am Arm geführt zu werden.
Entsprechende neurologische Untersuchungen waren samt und sonders ohne Befund. Bis eine junge Neurologin auf meinen Einwand hin, die zwei Meter ebenen Linoleumbodens in ihrem Untersuchungszimmer könne ich natürlich ohne Probleme überwinden, auf die Idee kam, mich einmal zügig den Gang der neurologischen Station entlanggehen zu lassen.
Zusammen mit meinen Freundinnen Ente und Huhn habe ich auch das prima hingekriegt und bin nur beim Wenden kurz mal aus dem Gleichgewicht geraten. Dann jedoch trat ganz unverhofft aus einem der Untersuchungsräume jemand in meinen Weg. Zumindest schien mir das so – später habe ich mir erzählen lassen, ich hätte reichlich Platz gehabt und einfach weitergehen können.
Die Vollbremsung, die mir in diesem Moment nötig schien, hat mich um ein Haar von den Füßen gerissen, mein Oberkörper kippte zu einer schwungvollen Verbeugung nach vorn, während beide Arme heftig ruderten um dabei nicht lang hinzuschlagen.
Das immerhin machte Eindruck, hinterließ ansonsten aber nichts als Ratlosigkeit.
Als nächstes waren meine Hände betroffen: Wenn ich nicht sehr konzentriert und vorsichtig zu Werke gehe, lasse ich kleine Dinge fallen, oder schleudere sie von mir. In etwa so, wie wenn man versucht, einen Marmeladen-Toast ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen an den Kanten zu halten und ihn stattdessen in eine Salto-ähnliche Drehung versetzt.
Zunächst habe ich mich gewundert, warum in meiner Gegenwart neuerdings so viele Dinge um- oder irgendwo herunter fallen, bis mir klar wurde, dass auch meine Arme ein Eigenleben führen. Weil sie das auch dann tun, wenn ich zum Beispiel Holz ins Feuer lege, verbrenne ich mich regelmäßig. Da trifft es sich gut, dass auch mit meinem Schmerzempfinden etwas nicht in Ordnung zu sein scheint: Ich kann zwar aus dem Umstand, dass es Brandblasen und zuweilen auch Narben gibt, schließen, dass ich mich ganz ordentlich verbrannt haben muss, aber sonderlich weh tut es nicht.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich mit Messern mittlerweile sehr sehr vorsichtig umgehe.
Im Restaurant zu essen hat sehr an herausfordernden Aspekten gewonnen. Ich habe mir zwar angewöhnt, alles, was ich vom Tisch fegen könnte, unauffällig aus dem Weg zu räumen, aber allein die Außenreize (ein unvertrauter Raum, fremde Menschen, Musik) saugen so viel Aufmerksamkeit ab, dass für die Handhabung von Messer und Gabel nicht genug davon übrigbleibt. Ich hantiere ungeschickt und regelmäßig fällt mir auf dem Weg zum Mund das Essen von der Gabel. Blattsalat ist eine Katastrophe.
Ein Gang zur Toilette will gut überlegt sein. Die Restaurants in Alès sind oft recht eng … Ich stehe also zunächst einmal auf (und hoffe, dass keines meiner Beine ausgerechnet jetzt wegknickt) und peile die Lage: Wo zwischen den Tischen muss ich lang? Wo kann ich mich gegebenenfalls festhalten und wo lieber nicht (die Schultern sitzender Gäste zum Beispiel bieten sich zwar an, sollten aber wirklich nur im Notfall gepackt werden)? Kann mir ein/e KellnerIn in die Quere kommen? Das alles will sorgsam geplant sein, bevor ich mich dann ganz langsam auf den Weg mache.
Die Menschen in Südfrankreich, so scheint es, sind entweder sehr ignorant, oder außerordentlich gelassen: Ich habe bisher nie den Eindruck gehabt, angestarrt zu werden.
Es ist mir auch nicht peinlich, so ungeschickt zu sein – oder jedenfalls nur selten: die Momente, in denen mir das Essen von der Gabel fällt, kann ich überhaupt nicht leiden. Ich glaube, die meiste Zeit fehlt es auch für Schamgefühle an den nötigen Ressourcen – dafür bin ich in diesen Momenten schlicht zu beschäftigt. Allerdings scheine ich auch nicht alles selbst mitzubekommen: Wie lange es dauert, zum Beispiel, bis ich mich, nachdem ich aufgestanden bin, um mich besser orientieren zu können, tatsächlich in Bewegung setze.
Aber es ist anstrengend, weil ich alles, was anderen Menschen ganz nebenbei gelingt, mit Bedacht tun muss.
Ich hätte nie gedacht, dass, obwohl keines meiner Symptome unerträglich ist, das schiere „krank sein“ einen Menschen so sehr beschäftigen, ja geradewegs absorbieren kann. Wie ermüdend das ist!
Und ich habe schnell die Lust verloren, darüber zu reden.
Was soll ich denn antworten, auf die Frage, wie es mir geht?
„Als ich aufgewacht bin, war mein linker Arm so taub, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Hand zu bewegen. Hab ich mal erwähnt, dass sie bei der Küchenarbeit häufig verkrampft, so dass die Finger stocksteif in alle Richtungen zeigen? Die muss ich dann mit der anderen Hand wieder zurechtbiegen und wenn es ganz arg ist, setze ich mich drauf – dann ist Ruhe. Aber mit der Arbeit komme ich so natürlich nicht voran. Heute hab ich Hilfe gebraucht, um mich im Bett aufzusetzen, aber immerhin bin ich überhaupt vor Mittag in die Gänge gekommen. Apropos Gänge: Das Gehen fällt ein bisschen schwer heute. Aber die Schmerzen sind ganz gut auszuhalten. Manchmal allerdings durchfahren mich Stiche, die so wehtun, dass ich laut aufschreie. Ich weiß nie, wann das passiert, deswegen hab ich immer ein bisschen Angst. Und ich hoffe sehr, dass mir das nicht irgendwann im Yoga-Kurs passiert. Aber dorthin zu fahren schaffe ich es eh nicht oft – wenn das linke Bein richtig zickt, weiß ich ja nicht, ob ich die Kupplung getreten kriege und meinen Armen traue ich auch nicht so recht. Aber sonst geht’s eigentlich.“
Wer um alles in der Welt soll sich das anhören? Und selbst wenn es solche wohlmeinenden Menschen gibt: Variationen dieses Textes wären an jedem verdammten Tag meines Lebens die Antwort. Schlimm genug, dass ich mich damit beschäftigen muss – ich will das nicht auch noch in Worte fassen.
Darüber zu schreiben will auch keine rechte Freude machen und das nicht nur, weil ich es selbst schon lange nicht mehr hören kann. Ich kann mich auch nicht mehr schreiben hören: Bisher sind die meisten meiner Texte entstanden, während ich eigentlich etwas anderes getan habe – spazieren gehen oder Auto fahren zum Beispiel. Anschließend musste ich sie nur noch abtippen.
Aber abgesehen davon, dass ich zu beidem nur noch selten in der Verfassung bin, scheinen die Worte in der anschließenden Erschöpfung zu verfliegen. Sie verschwinden meist lange bevor sie den Weg über die Tastatur finden.
Und sie stolpern in erschreckendem Ausmaß.
Es ist nicht bei Buchstabendrehern oder gänzlich verwirbelten Kombinationen geblieben, sondern ich habe begonnen, Wörter völlig willkürlich durch andere zu ersetzen. Wörter mit drei Buchstaben zum Beispiel finden ganz und gar beliebig Verwendung. Zuweilen wirkt es, als hätte ich eine eingebaute Spracherkennung mit Gehörschaden – ich schreibe mehr, wenn ich Meer schreiben will, oder nähen statt Mähne, wobei die Groß- und Kleinschreibung witzigerweise stets korrekt ist. Beim Buchstabieren der Worte selbst allerdings hapert es, das mache ich plötzlich so, wie man es spricht: neulich zu meinem Entsetzen unfähr statt unfair.
Für einen Rechtschreib-Freak wie mich, der Postings in Social Media gewohnheitsmäßig Korrektur liest, bevor die Enter-Taste gedrückt wird, ist das die Hölle auf Erden.
Es ist mir peinlich und es macht mir Angst.
Bis jetzt bemerke ich die meisten Fehler schon beim Schreiben und bei den wenigen, die ich tatsächlich übersehe, weiß außer mir ja niemand, dass es nicht die Autokorrektur ist, die da blühenden Unfug produziert, sondern mein Gehirn.
Was aber, wenn mir das nicht mehr gelingt?
Ich hätte mir, wird mir allmählich klar, sehr darin gefallen, darüber zu schreiben, wie ich mit einer chronischen Erkrankung zurechtkomme. Aber ich muss feststellen, ich komme nicht zurecht. Jedenfalls nicht so, dass ich etwas Kluges, Durchdachtes, oder gar Wegweisendes zu diesem Thema zu sagen hätte. Wenn es eine Diagnose gäbe, stelle ich mir vor, wüsste ich, womit ich es zu tun habe und könnte (hoffentlich) irgendwie damit umgehen. Stattdessen trage ich ein Wischiwaschi von Fachärztin zu Facharzt und hoffe jedes Mal auf’s Neue, dass es diesmal nicht mit einem Schulterzucken endet.
Die derzeitige Hoffnung klammert sich an die Abteilung für seltene Erkrankungen einer Universitätsklinik. Und sie wird eine Weile durchhalten müssen, die Hoffnung: Der Termin ist erst im Herbst.
Schreib:
wer bist du?
was willst du?
wie lebst du?
Krankheiten? Einschränkungen? bestimmen dich nicht.
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Danke für die Erinnerung!
Hin und wieder fällt es schwer, das nicht aus dem Auge zu verlieren …
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Ich freu mich so für dich, dass du die Depression gezähmt hast! Schwarze Pädagogik und Kriegsfolgen, Traumaweitergabe sind große, schwierige Themen, gut, dass du beim Lesen auf dich achtest. – Jetzt also diese körperliche Krankheit. Wann und was immer du schreibst, ich lese es gern.
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Dankeschön! 🙂
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Ach guck … wir kennen uns von TsD! 😀
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» Aber ich muss feststellen, ich komme nicht zurecht. «
Ich finde, genau diese Feststellung beweist das Gegenteil. Ich meine, das muß man erst einmal hinkriegen in unserer Welt voller Superfrauen, die ihre Küche mit Meister Propper blitzblank halten, die Wohnung mit Sagrotan keimfrei, dabei mit dem Fuß den Kochlöffel balancieren, während sie die Business-Innovation ins Vorstandsbüro mailen. Und dabei natürlich aussehen wie aus dem Ei gepellt.
Als Kerl ist man da sowieso aufgeschmissen. Das deprimierte Einhorn drückt dir die Hufe.
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So viel Ehrgeiz hatte ich nie! 😀
Ich fänd’s schön, wenn ich meine Gelassenheit wiederfände und (wenigstens etwas) weniger dünnhäutig wäre. Nicht ganz so ungeduldig und reizbar …
Dank Dir für die guten Wünsche!
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Ja. Das mit der Gelassenheit ist ein Problem. Kenne ich. Ich möchte in letzter Zeit immer öfter heulen. Aber ich bin ja ein Kerl und deshalb macht man das nicht.
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