Wir beginnen mit der Geschichte vom Gasthaus, als das wir eingeladen sind, uns unser Dasein vorzustellen: Jeden Tag stehen neue Gäste vor der Tür, die wir einlassen, willkommen heißen und liebevoll bewirten. Diese Gäste können Freude, Momente der Achtsamkeit, aber auch Ärger, Missgunst und unangenehme Erlebnisse sein – wir behandeln alle gleich, lassen niemanden vor der Türe stehen. Denn sie alle wurden aus einem bestimmten Grund aus einer anderen Welt zu uns geschickt.
In der darauf folgenden Meditation haben wir Gelegenheit, diese Form des „Annehmens“ unangenehmer Gedanken und Erfahrungen zu üben – idealerweise zunächst an einem einfachen Beispiel, einem lediglich geringfügigen Ärgernis, oder einem Konflikt, der bereits bereinigt ist, uns aber noch beschäftigt.
Mein Gasthaus stelle ich mit als eine Mischung aus dem Wirtshaus in „Tiger and Dragon“ und der Küche einer Alpe vor, auf der ich selbst gerne zu Gast bin. Und als Übungsobjekt – eingedenk meiner ersten Erfahrung mit einer Meditation über einen schmerzvollen Gedanken – eine kleine Verstimmung, die längst bereinigt ist.
Aber ich liege noch nicht ganz auf meiner Yoga-Matte, da springen auch schon die Schmerzen ein: Aglaia begehrt Einlass!
Nun gut … ich biete ihr gar nicht erst einen Tisch, sondern gleich einen Platz an meiner Seite an. Und spüre im nächsten Moment ihr Gewicht: Von der linken Schulter bis zum Knöchel, als würde jemand auf mir liegen.
Das Gasthaus
Dieses menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht – auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit kommt unverhofft als Besucher.
Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar Sorgen ist, die gewaltsam dein Haus seiner Möbel entledigt, selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht reinigt er dich ja für neue Wonnen.
Den dunklen Gedanken der Scham und Bosheit – begegne ihnen lachend an der Tür und lade sie zu dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt, denn alle sind zu deiner Führung geschickt worden aus einer andern Welt.
Rumi, Sufi-Dichter aus dem 13. Jahrhundert
Anschließend lernen wir Mettā kennen, die liebende Güte – eine Form der Achtsamkeit, die ihre Aufmerksamkeit nicht frei von Wertung, sondern explizit freundlich-wohlwollend auf alles Leben richtet.
Geübt wird – wie immer – vom Einfachen zum Schwierigen:
Im ersten Schritt sind wir eingeladen, Sätze der liebenden Güte an uns selbst zu senden, später dann an nahestehende Personen, an solche, denen wir neutral gegenüberstehen und zu guter Letzt auch an die, die uns Schwierigkeiten bereiten.
Sätze der liebenden Güte können zum Beispiel folgende sein:
Möge ich frei sein von Gefahr.
Möge ich glücklich sein.
Möge ich körperlich gesund sein.
Möge ich leicht durchs Leben gehen.
Ich lerne, dass es keine Rolle spielt, ob ich die „ich“, oder die „du“ Form verwende: Ich kann direkt zu mir selbst sprechen, oder aber mir vorstellen, ich spräche zu einer lieben Freundin. Häufig sind wir im Umgang mit FreundInnen sehr viel nachsichtiger und liebevoller, als mit uns selbst …
Ich spreche mit Aglaia. Und ihr Satz der liebenden Güte scheint mir „mögest du dich geborgen fühlen!“ zu lauten. Aber ich mag nicht einfach Formeln wiederholen! Stattdessen verspreche ich ihr, sie zu halten. Immer. Ich gelobe, sie niemals allein zu lassen!
Nie wieder soll sie sich in der Dunkelheit fürchten müssen.
Zum Abschluss versuchen wir uns an einem wohlwollenden Bodyscan, richten unsere Aufmerksamkeit Schritt für Schritt auf unseren Körper, nehmen wahr und liebevoll an.
Aglaia liegt immer noch schwer auf meiner linken Seite. Den Weg auf die Yoga-Matte hat sie gefunden, aber sie kommt nicht gut mit den Unterbrechungen klar, während derer ich weiter am Workshop teilnehmen möchte.
Schon zu Beginn habe ich mich dabei erwischt, dass ich Aglaia mit den Worten „Komm, Mäuschen, leg dich zu mir!“ eingeladen habe …
„Mäuschen“, „Hase“, „Haselmaus“ … so spreche ich sonst die mir anvertrauten Tiere an.
Jetzt, wo wir so Schritt für Schritt meinen Körper erkunden, mag ich sie weiter ermutigen.
Der Bodyscan erfragt, wie mein Gesicht sich gerade anfühlt … und ich frage Aglaia „Hast du schonmal gelächelt? Komm! Probier mal!“.
Gleichzeitig habe ich furchtbare Angst. Was, wenn nicht Aglaia meinen Körper für sich entdeckt, sondern die Schwärze ihn ganz und gar flutet? Was, wenn alles zu viel ist?
Dennoch lade ich sie weiter ein: „Du musst dich nicht an meiner linken Körperseite festkrallen! Rutsch mal rüber nach rechts!
Dieser Körper ist auch deiner!“
„Guck! Dein Lächeln! Deine Arme! Deine Beine!“ …
Am Ende habe ich Schwierigkeiten, von der Yogamatte zurück auf den Stuhl zu klettern, muss mich dazu an Lehne und Tischkante festhalten. Auch das Gehen fällt mir in der nächsten halben Stunde schwer und zum ersten Mal seit Langem komme ich mir wieder wie Laufente Lisbeth vor.
„Logisch!“ denke ich mir dann: „Sie versucht das ja zum ersten Mal …“
NACHTRAG
Ich habe nicht bedacht, dass Aglaia gewohnt ist, sich in Form von Schmerzen mitzuteilen. Darüber wird noch zu reden sein in meinem Gasthaus …
Ein Gedanke zu “Achtsamkeit mit Hindern … Aglaia”