Flöhe hüten

Die letzten Tage waren alles andere als einfach.
Die Ataxie nach einer entzückenden Romanfigur „Laufente Lisbeth“ zu nennen, kommt meiner Neigung, die Dinge möglichst von der heiteren Seite zu nehmen, entgegen, aber ganz so lustig, wie es klingt, ist es nicht, wenn man tatsächlich Bewegungs- und Koordinationsstörungen hat.
Ich muss höllisch aufpassen, nicht zu stürzen, hebe Tassen und Gläser vorsichtshalber mit beiden Händen zum Mund und übe mich in Gelassenheit, wenn mir der Käse zum dritten Mal vom Brot fällt.

Meine Anteile beginnen sich zu zeigen – nicht nur, wenn sie in der Meditation dazu eingeladen sind, sondern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit.
Natürlich materialisieren die sich nicht einfach. Und ich höre auch keine Stimmen … jedenfalls nicht wirklich.
Eigentlich – vermute ich jedenfalls – wissen wir alle, wie das ist : „Ich habe auch eine sehr fürsorgliche Seite“, „ich habe eine kreative Ader“ und ähnliche Beschreibungen klingen ja – ebenso wie die „zwei Seelen, ach!“ – nicht unvertraut. Und wir erinnern uns manchmal so lebhaft an die Worte einer Lehrerin oder unseres Großvaters, dass wir sie regelrecht hören können.
Wer alt genug ist, sich noch an das „Lenor-Gewissen“ zu erinnern, weiß, mit welcher Selbstverständlichkeit dieses Bild verstanden wurde und wird.
Meine Anteile scheinen halt … sagen wir … besonders eigenständig unterwegs zu sein.

Nachdem ich bereits verstanden habe, dass, wenn „produktiv“ und „kreativ“ sich verabredet haben, die Ärmel hochzukrempeln und gemeinsam ein Chaos in der Küche zu veranstalten, jemand, dem genau das nicht geheuer ist, sich nicht anders zu helfen weiß, als meinen Blutdruck in die Höhe zu jagen, bemühe ich mich, Ausgleich zu schaffen.
Wir nehmen mal eines der fünf Projekte in Angriff, wir machen das ganz in Ruhe und wir hören dabei einen Krimi (etwas vorgelesen bekommen mögen alle, Krimis die meisten und „das Kind in mir will achtsam morden“ passt einfach wie die Faust auf’s Auge). Das funktioniert.

Aber es ist auch wahnsinnig anstrengend!
Ich kann schließlich nicht jedes Mal, wenn jemandem – Entschuldigung! – ein Pups quer sitzt, eine halbe Stunde lang meditieren, ich muss das irgendwie on the fly koordiniert kriegen.
Und es sind ja nicht nur diese drei: Nach dem Motto „Wehe wenn sie losgelassen“ machen sich potentielle Anteile, Erinnerungen und Glaubenssätze in einem kunterbunten Durcheinander bemerkbar. Zuweilen ist es, als wären die Teile mehrerer Puzzles in eine Schachtel geraten.
Kein Wunder eigentlich, dass in solchen Momenten die (Fein)motorik leidet – das stockt und ruckelt dann wie bei einem Fuhrwerk, in dem jedes Pferd in eine andere Richtung losrennen will.

Immerhin: Es geht voran!
Mit dem Stichwort „Glaubenssatz“ ging es mir sehr ähnlich, wie mit „Dissoziation“ auch: Die Botschaft hörte ich wohl, allein sie kam nicht an … Da musste erst der erwähnte Krimi kommen, der die Information quasi nebenbei einsickern ließ:
Glaubenssätze entwickeln wir in der frühen Kindheit, wenn wir noch ganz und gar abhängig von unseren Eltern sind. Sie erklären uns entweder, warum unsere Bedürfnisse nicht erfüllt wurden („ich bin schlecht, ich habe das nicht verdient“), oder aber, was wir tun müssen, um vor den Augen unserer Eltern zu bestehen.
Da wir diese Sätze tief verinnerlicht haben, handeln wir danach, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Neulich hab ich beim Anblick der Wasserflasche auf dem Küchentisch bemerkt, wie durstig ich bin, gleichzeitig aber gesehen, dass die Spülmaschine zu Ende gelaufen war. Und wie selbstverständlich wollte ich diese erst einmal ausräumen, bevor ich etwas trinke.
„Was zur Hölle? Ich hab Durst! Was macht es schon, wenn ich zuerst etwas trinke?“

Ab diesem Moment habe ich angefangen, darauf zu achten, wie ich mit meinen eigenen Bedürfnissen umgehe. Und tatsächlich: Bevor ich mir eines erfülle, erledige ich stets erst irgend etwas anderes.
Kurz darauf hab ich die Worte dann auch klar und deutlich hören können: „Nicht immer alles sofort!“.
Wieder in einer Situation, in der ich Durst hatte. Diesmal allerdings angesichts einer gut gekühlten Flasche köstlichen Wasserkefirs.
Der musste – zugegeben – sehr vorsichtig geöffnet werden, ergo „Nicht immer alles sofort – du kannst Wasser trinken, wenn du jetzt Durst hast!“.
Ich war so empört, dass ich laut geantwortet habe: „Lass das doch mal! Wenn ich verdammt nochmal jetzt Wasserkefir trinken will, dann darf ich das auch!“.

Gesagt, getan.
Okay … die Flasche zu öffnen, war ein riskantes Unterfangen und ist schiefgegangen – gegen Wasserkefir ist selbst gut geschüttelter Champagner ein Niemand. Was sich nicht in der Küche verteilt hat, war dann aber wirklich lecker!
Explosiver noch war die Reaktion meines Körpers: Ich hatte das Gefühl darin regelrecht umhergeschleudert zu werden. Konfrontationskurs scheint als Taktik nur semi-geeignet zu sein …

Also hab ich zu überlegen begonnen, wann dieser Satz hilfreich für mich ist.
Er macht es mir leicht, zwischen den Mahlzeiten nicht zu naschen – darum mag der eine oder die andere mich durchaus beneiden.
Er bewahrt mich vor Spontankäufen: Bei teuren Wünschen kriege ich es mitunter fertig, über Jahre abzuwarten, ob ich etwas wirklich haben möchte. Manche Begehrlichkeit gerät darüber sicher in Vergessenheit, aber mit den Dingen, die ich letztlich tatsächlich kaufe, bin ich dann meist auch hochzufrieden.
Hier habe ich sozusagen Verhandlungsspielraum: Grundbedürfnisse werden zukünftig unverzüglich erfüllt, bei kostspieligen Wünschen soll und darf der Satz geschätzter Ratgeber bleiben.

Was ich gegen das innerliche Zittern, das Gefühl des umhergeschleudert Werdens tun kann, lehrt mich die weise Meditierende: Körperübungen wie Schütteln oder Klopfen geben mir das Gefühl zurück, in meine Haut hineinzupassen.

Dann allerdings, als ich gerade zu hoffen beginne, mit meinen Bemühungen auf einem richtig guten Weg zu sein, meldet sich ein Teil von mir zu Wort, den ich zwar nur zu gut kenne, aber so wenig leiden kann, dass ich ihn beim Einrichten meines Gasthauses sogar dann noch ignoriert habe, als er höchstpersönlich erschienen ist. Soviel zum Thema „ich mag meine Anteile willkommen heißen“ …

Es ist der Teil, der mich undiszipliniert und faul findet. Schon immer fand. Der den ganzen Quatsch mit Depression und Angststörung nie geglaubt hat. Der sich ganz sicher ist, dass ich mir meine Schmerzen lediglich einbilde, die neurologischen Erscheinungen simuliere. Und jetzt auch noch Persönlichkeitsanteile: Is klar!
Dieser Teil findet mich nicht undiszipliniert und faul, er weiß das! Und brüllt mit diesem Wissen alles nieder, bis ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.


Bei meinem nächsten Gespräch mit der weisen Hebamme breche ich in Tränen aus, kaum dass ich „Bonjour“ gesagt habe.
Ich bemühe mich, hervorzuwürgen, was mir widerfahren ist. Es ist mühselig und frustrierend, das nicht in meiner Muttersprache tun zu können – stattdessen wechseln wir ständig zwischen Französisch und Englisch, je nachdem, wo wir uns gerade beide des Vokabulars sicher sind – aber es verschafft mir auch ein wenig Distanz, so dass es mir leichter fällt, mich zu beruhigen.
Auch der Umstand, dass sie mir ganz und gar unaufgeregt und entspannt zuhört, tut mir gut.

Dafür, dass ich in der Meditation Dinge sehe, meint sie, seien zwei Gründe denkbar: Es könne sich um Erinnerungen aus meiner Familiengeschichte handeln, oder aber – ähnlich wie in Träumen – um Botschaften meines Unterbewusstseins.
Bezüglich der Stimme, die mir erklärt, undiszipliniert und faul zu sein, schlägt sie vor, diese nicht als Teil meiner selbst zu sehen, sondern als Teil meiner Erkrankung, eine Energie, die – einstmals überlebensnotwendig – aus der Vergangenheit bis in meine Gegenwart hinein gewirkt hat, und nun ihre eigene Daseinsberechtigung, ihr eigenes Überleben gefährdet sieht. Und deswegen mit aller Gewalt um sich schlägt.

Auch dieser Teil ist zu jemandes Schutz entstanden, denke ich mir, wenn auch nicht zu meinem: Scheint, ich habe ihn geerbt …
Und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob dieses Erbe mir ausschließlich zum Nachteil gereicht: Es könnte ja durchaus dieser Anteil sein, der mich in Krisensituationen völlig gelassen bleiben lässt, der mich befähigt, durchzuziehen, was ich einmal angefangen habe. Der Teil von mir, den andere „mutig“ finden, wenn ich nur tue, was mir unvermeidbar scheint.

Ich sollte ihm danken, finde ich.
Ich erweitere mein Gasthaus um eine Veranda, auf welcher eine alte Dame auf einem Schaukelstuhl sitzend und Erbsen pulend die Abendsonne genießen kann – yup! Rita Mae Brown lässt grüßen! „Jacke wie Hose“ um genau zu sein …
Vielleicht kann dieser Teil von mir sich nach und nach mit der Idee anfreunden, in den Ruhestand zu gehen. Im Fall der Fälle kann er ja immer noch die Ritterrüstung aus dem Schrank holen.

Veröffentlicht von

dieschattentaucherin

Schreibwütige Depressive auf ihrem Weg ins Sonnenlicht

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