Trauma-Yoga

… ist eine Yoga-Praxis, die auf die Bedürfnisse traumatisierter Menschen abgestimmt wurde.
Das interessiert mich natürlich! Ich habe mich über Jahre außerordentlich wohlgefühlt mit meinen Übungen, hatte immer den Eindruck sie tun mir gut … bis sie mir plötzlich nicht mehr gut taten.
Die weise Yogini hat mir geraten, zu pausieren und stattdessen zu gehen – was ich auch tue.
Aber lieber noch möchte in meine Yoga-Praxis in einer Form wieder aufnehmen, die zu meiner derzeitigen Verfassung passt.

Obwohl es eigentlich nur die Übungen sind, die mich interessieren, schaffe ich es nicht, die Einleitung zu überspringen. Dabei weiß ich längst, wie Traumata sich auf den Körper auswirken und dass Yoga dabei hilft, diese zu bewältigen! Schließlich bin ich auf Trauma-Yoga überhaupt nur gekommen, weil ich „Verkörperter Schrecken“* gelesen habe!
Und so erfahre ich tatsächlich nicht viel Neues, aber ich werde ganz zappelig vor Widerwillen, muss immer wieder Pausen machen, weil mir das Atmen schwerfällt.
Irgendwann wird die Stimme laut und deutlich:
„Das ist etwas wirklich Schlimmes! Das hast du nicht! DU stellst Dich nur an!“

(„Verkörperter Schrecken“ habe ich – wie alles, was triggern könnte – auf dem Klo gelesen, also regelmäßig, aber immer nur sehr kurze Passagen. „Trauma-Yoga“ auf dem Sofa, weil ich begierig war, mit den Übungen anzufangen.)

Ich quäle mich weiter und erfahre, dass „normale“ Yoga-Kurse traumatisierte Menschen häufig komplett überfordern, weil schon die Anweisung, etwas zu tun, zu viel sein kann, unterstützend gemeinte Berührungen unerträglich sind und sie – sofern sie überhaupt so weit kommen – bei eher dynamischen Formen wie Vinyasa-Yoga „einfach“ dissoziieren.
„Prima“ denke ich mir „da war ich in meinem Hatha Yoga Kurs unter der einfühlsamen Leitung der weisen Yogini ja schon richtig gut aufgehoben!“
War ich auch! Abgesehen von der Klitzekleinigkeit, dass ich all die Jahre lang nicht bemerkt habe, welche Teile meiner Muskulatur sich dabei niemals auch nur andeutungsweise entspannt haben.
Ich wusste nicht einmal, dass die angespannt waren. Schlimmer noch: Ich muss andere Menschen fragen, wie das bei ihnen eigentlich ist, weil ich keine Ahnung habe, wie sich bestimmte Muskelpartien normalerweise anfühlen.
Es ist die weise Hebamme, die mich auf den Gedanken bringt, dass ich bei meinem bisherigen Training möglicherweise nicht immer dabei war.
Na toll.

Endlich zu den Übungen vorgedrungen, bin ich … erschüttert, tief enttäuscht.
Ich hatte mir großartige Erkenntnisse erhofft, aber was mir hier geboten wird, ist … minimalistisch.
Im Vergleich dazu ist das bisherige Hatha Yoga für Senior:innen Hochleistungssport!
Das ist kein Yoga! Das ist Pillepalle!“
Nun … ja.

Zunächst suche ich mein Heil darin, meine gewohnten Übungen um ein paar traumasensible Gimmicks zu erweitern, aber dann rufe ich mir in Erinnerung, dass ich bisher vermutlich dissoziiert habe und mir keinen Gefallen tue, wenn ich so weitermache.
Ich beschließe, einen Monat lang wirklich nur die Übungen aus dem Buch zu absolvieren.
Schadt ja nicht. Und dann guck ich, ob’s was genutzt hat.
Das fällt schwerer, als gedacht! Immer wieder habe ich die Idee, welche kleine Übung ich noch einbauen könnte. Oder ich könnte einmal pro Woche richtiges Yoga machen!
Dabei ist der Monat noch nicht einmal zur Hälfte vorbei …

Gleichzeitig empfinde ich die pillepalle Übungen als durchaus anstrengend – vermutlich, weil ich erst jetzt wirklich erforsche, was sie bewirken.
Ich lausche dem Knirschen, das entsteht, wenn ich meinen vornüber gebeugten Kopf vorsichtig hin und her rolle. Meine Schulterkreise holpern und rütteln auf eine Art und Weise, dass ich mich zu fragen beginne, ob es sich dabei wirklich um Kugelgelenke handeln kann. Am liebsten mag ich die Übung, bei der ich mich – mit gebeugten Knien wohlgemerkt! – einfach vornüber beuge: Die gehört für mich seit Jahren zur Trainingsroutine, aber jetzt erst geben meine Muskeln nach und ich bin völlig überrascht, wie anders sich das anfühlt.
Je weniger ich versuche, eine Übung „korrekt“ auszuführen, desto mehr kann ich mein Augenmerk darauf richten, was im „Rest“ meines Körpers passiert: Da entspannen sich plötzlich Muskeln, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie habe!

Zum Teil hätte ich mir eine detailliertere Beschreibung der Übungen gewünscht; andererseits könnte ich mir vorstellen, dass Menschen, für die Yoga ein Wagnis ist, das sie erst einmal in Angriff nehmen müssen, von wortreichen Anleitungen eher abgeschreckt werden.
Außerdem – und das ist den Autor:innen außerordentlich wichtig – geht es nicht darum, die Übungen korrekt auszuführen, sondern Menschen zu ermutigen, mit ihnen zu experimentieren.
Für völlig Ungeübte allerdings wäre wenigstens ein Tip schön, wie sie aus der Rückenlage in die Sitzhaltung kommen, ohne sich weh zu tun.

Hin und wieder dauert es mich, dass das Bisschen mühsam aufgebauter Muskelkraft und Gelenkigkeit nun vermutlich wieder schwinden wird, aber als der Monat endlich überstanden ist und ich wieder richtig Yoga machen könnte, merke ich, dass ich beim Pillepalle bleiben mag.
Mehr noch: Ich mache mittlerweile Pausen zwischen den einzelnen Übungen und manchmal sogar zwischen einzelnen Übungsschritten: Weil ich zum Beispiel gemerkt habe, dass meine Schultermuskulatur zwischendurch zu „zappeln“ beginnt. Jetzt warte ich, bis das vorbei ist – früher wäre es mir gar nicht erst aufgefallen.
Klar: Wenn mich der Hafer sticht, mache ich all die schönen Übungen, die ich in den letzten Jahren erlernt habe! Aber ansonsten mag ich erst einmal in meinem Körper ankommen.

Der dritte und letzte Teil des Buches richtet sich an Therapeut:innen und Yoga-Lehrer:innen. Ich lese auch den: Weil es mir schwer fällt, Bücher beiseite zu legen, ohne sie zu Ende gelesen zu haben, aber auch, weil ich mir weitere hilfreiche Informationen erhoffe.
Und tatsächlich werde ich nicht enttäuscht.
Die Vorstellung, meine eigene Therapeutin, meine eigene Yoga-Lehrerin zu sein, hilft mir, zu tun, was mir ansonsten oft schwer fällt: Für mich zu sorgen.
Eine unangenehme oder schmerzhafte Übung einfach mal abzubrechen; nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, dass mir kalt oder zu warm wird, sondern etwas daran zu ändern – und zwar sofort und nicht erst, wenn ich eine Übungssequenz komplett absolviert habe. Pausen zu machen!

Für mich sind das keine Selbstverständlichkeiten.
Genau genommen war für mich nichts von dem, was ich bei der Lektüre von Trauma-Yoga für mich entdeckt habe, eine Selbstverständlichkeit.
Ich würde mir sehr wünschen, dass das Buch für andere Betroffene ebenso hilfreich ist!

* „Verkörperter Schrecken“, Bessel van der Kolk, ISBN 978-3-944476-13-1

gereizt!

Als ich meine allerersten Hitzewallungen hatte, dachte ich „Aha! Die Wechseljahre!“.
Und habe amüsiert vermerkt, wie oft ich morgens im T-Shirt aus dem Haus gestürmt bin, um ein bis zwei Stunden später zu realisieren, dass ich für Temperaturen nahe null Grad nicht passend angezogen war.


In diesen Phasen habe ich mir abends zwei bis drei frische T-Shirts neben’s Bett gelegt, um ein nassgeschwitztes ohne großen Aufwand austauschen zu können. Das schien mir damals am schwierigsten: Aus der Feststellung „mir ist kalt!“ im Halbschlaf die richtigen Schlüsse zu ziehen – „ich bin klatschnass!“ – und dann auch noch das Richtige zu tun: „umziehen!“.
Weiter habe ich mir über das Phänomen keine Gedanken gemacht.

Meine „Wechseljahre“ kamen und gingen.
Die finale Bestätigung, das endgültige Ausbleiben der Menstruation, konnte ich nicht zu Rate ziehen: Seit meine Gebärmutter wegen schwerer Endometriose entfernt wurde, blute ich nicht mehr.
Und unter uns: Ich habe jahrzehntelang versucht, meinen Körper mit all seinen Funktionen anzunehmen, Mein Frau-Sein zu akzeptieren!
Die Entfernung meiner Gebärmutter hatte – wegen Zysten und Myomen – schon lange zur Debatte gestanden. Ich hab das – auch ohne ausgeprägten Kinderwunsch – immer abgelehnt.
Meine Gebärmutter war schließlich ein Teil von mir! Mein Zyklus war Teil meines Lebens!
Trotzdem ist mir der Abschied letztendlich leicht gefallen: Aus dem „gebärfähigen Alter“ war ich deutlich raus, ich hatte alles getan, mich mit meiner „Weiblichkeit“ zu arrangieren …
Es war okay, ab jetzt getrennte Wege zu gehen!
Und so habe ich Abschied genommen: Meiner Gebärmutter erklärt, dass ich sie sehr zu schätzen gewusst, mich aufrichtig bemüht habe, mit ihr und ihren Funktionen zu leben, dass es nun aber an der Zeit sei, sich zu trennen.
Und tatsächlich: Ich habe diesen Aspekt meines Frau-Seins keine Sekunde lang vermisst!

Aber ich benötige nun Blutuntersuchungen, um zu wissen, ob „es“ soweit ist.
Der aktuelle Stand: Mein Körper, der in so vieler Hinsicht nicht so funktioniert, wie er soll, kriegt das immer noch hin!
Der letzte Scan meines Unterleibes zeigt einen Eisprung.
Dennoch: Es wird passieren!
Und mir ist durchaus bewusst, wie erschreckend wenig ich über diesen Lebensabschnitt weiß.

Hitzewallungen, ja. Depressionen auch – aber warum eigentlich?
Ich habe keine Lust, mich damit zu beschäftigen, merke aber auf, als ich über „die gereizte Frau“ stolpere.
Ein Buch, welches mir nicht dabei helfen möchte, diesen Lebensabschnitt zu ertragen, sondern mich ermutigt, gereizt zu sein. Definitiv: Mein’s!

Gereizt zu sein, gehört nämlich ohne Wenn und Aber ebenfalls zur Perimenopause dazu, der Übergangszeit zwischen … ja, was eigentlich? Fruchtbarkeit und … was?
Definiert Weiblichkeit sich über Fruchtbarkeit und der Vorstellung jugendlicher Schönheit?
Und wenn nicht … worüber dann?

Ich erfahre, dass viele Symptome, die ich bisher meiner Erkrankung zugeordnet habe, auch dem Umstand geschuldet sein können, dass ich „in den Wechseljahren“ bin. Und, dass der Ausdruck Wechseljahre tatsächlich bedeuten kann, dass die Symptome 10 bis 15 Jahre lang andauern.
Bei mit passt alles: Was ich erlebe, könnten Begleiterscheinungen der Perimenopause sein, Symptome meiner chronischen Erkrankung, oder aber Nebenwirkungen der Medikamente, die ich nehme. Oder alles zusammen.
So weit, so nice … aber warum hat mir das nie jemand gesagt?
Konkrete Tips kann ich dem Buch daher nicht entnehmen: Zu viele Unbekannte.
Aber ich habe einen Riesenspaß beim Lesen!

Miriam Stein schreibt nicht einfach einen Ratgeber, sie erzählt, wie sie selbst die „Wechseljahre“ erlebt. Und sie tut das mit einem Ausmaß an Selbstironie und Humor, dass ich mich stellenweise vor Vergnügen nass machen möchte. Apropos Inkontinenz …
Ansonsten listet sie auf, was alles Frauen tun können, um diesen Lebensabschnitt nicht einfach zu ertragen, sondern zu gestalten.
Manches davon befremdet mich.
Ich habe „vulvovaginale Atrophie“ so lange langsam auszusprechen geübt, bis es mir halbwegs geschmeidig über die Lippen kommt. Aber ich glaube nicht, dass ich mir in diesem Leben die Vagina werde lasern lassen. Gleiches gilt für Facelifting und Fettabsaugung.
Und warum um alles in der Welt hätte ich meine Eizellen einfrieren lassen sollen, um wirklich jederzeit schwanger werden zu können? Jederzeit schwanger werden zu können war schlimm genug, als es noch ohne technologische Unterstützung möglich war …
Die Hitzewallungen – erwähnte ich die Hitzewallungen? – könnte ich durchaus missen, aber ansonsten bin ich bereit, einfach alt zu werden – mit allem was dazugehört.

Die Autorin selbst ist „gut situiert“, erfolgreich im Beruf.
Ich rechne ihr an, dass sie gelegentlich anmerkt, arme Frauen, Frauen in armen Ländern, hätten zu dem Großteil der Möglichkeiten, die sie beschreibt, keinen Zugang.
Dennoch möchte ich ihr hin und wieder zurufen „Gute Frau, in dieser Situation sind Klimakteriumsbeschwerden wirklich das kleinste aller Probleme!“.
Aber gut: Sie erzählt ihre Geschichte. Und sie listet auf, was geht. Wenn es denn geht.
Nicht ihre Schuld, dass meine Welt(sicht) eine ganz andere ist.

Gegen Ende des Buches sammelt Miriam Stein mich denn auch wieder ein:
Sie guckt auf ganz andere Weise über den Tellerrand, als ich das erwartet hätte, und erzählt zum Beispiel von Sheela- na-gig, einer Figur, die sich an den Fassaden mittelalterlicher Kirchen in Großbritannien und Irland findet. Die kleine, haarlose (gealterte?) Frau präsentiert ihre weit geöffnete Vulva und gilt heute als Schutzheilige irischer Feministinnen. Sie könnte eine kulturelle Bedeutung der Vulva transportieren, die nichts mit Sex oder Fruchtbarkeit zu tun hat, sondern – ähnlich wie der Phallus – eine Machtposition symbolisiert.
Weiter richtet sie ihren Blick nach Asien und berichtet von einem buddhistischen Ritual, welches Frauen den Übergang in die Menopause erleichtern soll, und sie gleichzeitig in der religiösen Gesellschaftsordnung aufsteigen lässt. Sie werden in die Schwesternschaft „Peng“ aufgenommen, deren Angehörige tief miteinander verbunden sind, sich austauschen und in der Gemeinschaft Halt finden.

Miriam Stein nimmt Sheela-na-gig und die Schwesternschaft Peng zum Anlass, eine feministische Utopie zu skizzieren, eine ganz eigene Vorstellung davon, wie eine Welt aussehen könnte, in der Frauen heranreifen, statt lediglich zu altern. In der sie in Verbindung gehen und sich ihrer Kraft bewusst werden.

Das klingt nach Aufbruch. Meins!

Ich und die anderen

Andy Gage wurde 1965 geboren und nicht lange danach von seinem Stiefvater, einem sehr bösen Menschen namens Horace Rollins, ermordet. Es war kein normaler Mord: die Mißhandlungen und Schändungen, die ihn töteten, waren zwar real, sein Tod aber nicht. Tatsächlich starb nur seine Seele, und als sie starb, zersplitterte sie.“

Ich erinnere mich noch lebhaft, wie „Ich und die anderen“ mich gefunden hat: Ich ging die Treppe zum Untergeschoss meiner bevorzugten Buchhandlung hinab, als ich plötzlich einen schreiend bunten Einband genau in Augenhöhe hatte. Der Autor, Matt Ruff, war mir ein Begriff, hatte ich doch „Fool on the hill“ mit großem Vergnügen gelesen. „Das ist schon … also … ziemlich anders …“, wandte die Buchhändlerin ein, aber für mich war – ohne auch nur den Klappentext gelesen zu haben – klar: meins!

Heute gehört eine Buchhandlung, in der ich stöbern und mich finden lassen kann, vor allem aber eine gutsortierte Leihbücherei, die mir das für kleines Geld ermöglicht, zu den wenigen Dingen, die mir ab und zu fehlen. Und so habe ich – wenn die letzte amazon-Bestellung wieder einmal „leergelesen“ war – begonnen, diejenigen Bücher noch einmal zu lesen, die mir hinreichend lieb und wert waren, sie bis in die Cevennen mitzunehmen.
„Ich und die anderen“ ist eines davon. Und über 10 Jahre nach der ersten Lektüre ist mir klargeworden, dass es für mich eines der liebevollsten Bücher ist, die ich je gelesen habe.

Andrew Gage leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung oder multipler Persönlichkeitsstörung – die Splitter seiner ursprünglichen Seele (Matt Ruff spricht hier von Seelen, nicht von Persönlichkeiten) sind zu eigenständigen Seelen geworden. Aber „Ich und die anderen“ ist nicht die Geschichte eines Leidenden, ihr Protagonist ist nicht gestört. Er mag sich zuweilen gestört fühlen, so wie es Menschen halt ergeht, die in einer – sagen wir: sehr buntgemischten – Wohngemeinschaft leben. Denn in dem, was einmal Andy Gages Kopf war, ist mit Hilfe einer Therapeutin ein Haus entstanden, das sich über hundert Seelen teilen. Die wenigsten von ihnen treten in den Vordergrund und das ist kompliziert genug, wenn sie – nachdem jeder seine private Zeit im Badezimmer hatte – sich zum Beispiel bemühen, bei einem einzigen Frühstück sowohl kaffee- oder aber teetrinkenden Erwachsenen, als auch den Fünfjährigen unter ihnen gerecht zu werden.
Es ist kompliziert, aber es liest sich nicht so. Vielmehr bekommt man den Eindruck einer liebevoll gezeichneten Großfamilie – das dazugehörige gelegentliche Chaos inklusive.

Mouse (eigentlich Penny) dagegen leidet. Sie weiß zum Beispiel, dass sie ihren Job ordentlich macht, aber weder, wie sie ihn bekommen hat, noch, was genau sie dort eigentlich tut. Oder warum sie ihn plötzlich doch verliert. Sie erwacht in fremden Betten und fragt sich nicht, was sie am Vorabend gemacht hat, sondern gleich, wieviele Tage oder womöglich Wochen diesmal vergangen sein mögen, ohne dass sie es mitbekommen hätte. Penny hat keine Ahnung, was mit ihr los ist.
Daher erkennt sie, als sie Andrew begegnet, ihre Gemeinsamkeiten nicht. Einige ihrer Seelen jedoch tun das sehr wohl. Und so sind sie es, die hinter Pennys Rücken ebenfalls Kontakt zu ihm aufnehmen. Zu ihm selbst oder einer der Seelen in seinem Körper.
Mit der beginnenden Freundschaft zwischen den beiden (?) wird die Geschichte zunächst tatsächlich ein wenig unübersichtlich, handelt es sich doch um eine Beziehung zwischen sehr vielen und höchst unterschiedlichen Beteiligten. Die durchaus witzige Blüten treibt, wenn zum Beispiel die freundliche Tante Sam und die aggressive und vulgäre Maledicta ihr gemeinsame Vorliebe für Billardspiele und Kuchenorgien entdecken.
Den Roadtrip und Krimi, zu dem sie sich später entwickelt, hätte ich persönlich nicht unbedingt gebraucht, hatte ich doch allein an der Interaktion der verschiedenen Seelen schon meine helle Freude, aber natürlich benötigen diese ein wenig Bewegungsspielraum.
Leserin und Leser wachsen dabei an ihren Aufgaben: Werden die einzelnen Seelen – wobei es sich durchaus auch um zwei Seelen in einer Brust handeln kann, die sich gerade unterhalten – zunächst durch die Gesprächssituation oder bestimmte Attribute (ein großes Interesse an Dinosauriern zum Beispiel weist darauf hin, dass es der kleine Jake ist, der sich gerade zu Wort meldet) kenntlich gemacht, kommt es später auch zu Dialogen, bei denen man plötzlich merkt, dass man auch ganz ohne Erklärung weiß, mit wem man es gerade zu tun hat. Was anfangs befremdlich gewirkt hat, ist ganz unmerklich zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Es ist diese Selbstverständlichkeit, die mich so für „Ich und die anderen“ einnimmt.
Matt Ruff verschweigt keineswegs, dass es sexuelle Gewalt gegen Kinder ist, die Seelen zersplittern lässt. Und so sind die Schilderungen derjenigen Seelen, die sich immerhin an die Begleitumstände, den Machtmißbrauch, die Hilflosigkeit erinnern können, anrührend und verstörend, selbst wenn sie den sexuellen Übergriff als solchen mit keinem Wort erwähnen.
Wie schmerzhaft die Erkenntnis ist, wie schwierig, eine geeignete Therapeutin / einen geeigneten Therapeuten zu finden, wie grauenvoll, sich zu erinnern … all das findet Erwähnung.
Aber der Fokus liegt im Jetzt. Jetzt ist es so. Jetzt sind sie da, die Seelen. Und müssen einen Weg finden, irgendwie miteinander klarzukommen.
Es geht nicht um Ursprung, Diagnose und Behandlung einer Störung, sondern um einen Haufen sehr unterschiedlicher Leute, die sich unfreiwillig einen Lebensraum teilen und mit so liebevollem Blick gezeichnet sind, dass man nicht einmal die unsympathischen und nervigen unter ihnen wirklich missen möchte.
„Ich und die anderen“ ist auch ein Buch über den liebevollen Umgang mit sich selbst. Eine Geschichte über das Klarkommen.
Schön, dass es mich gefunden hat!

Tobi Katze: „Morgen ist leider auch noch ein Tag“

katze-titel-h-webEinfach so, weil es auf der Bestsellerliste des SPIEGEL steht, hätte ich „Morgen ist leider auch noch ein Tag“ eher nicht gekauft. Auch nicht aus persönlichem Interesse? Aus dem schon mal gar nicht!
Ganz bestimmt muss mir niemand erklären, wie es ist, Depressionen zu haben. Wie man sie von der heiteren Seite nehmen kann, auch nicht, danke der Nachfrage.

Aber es ist fast unmöglich, über Depressionen zu bloggen und nicht über Tobi Katze (http://blogs.stern.de/dasgegenteilvontraurig/) zu stolpern. Dort habe ich mit großem Vergnügen herumgestöbert und recht schnell innerlich meinen Hut gezogen:
Da hatte sich jemand nicht einfach nur selbstmitleidig (das können wir alle!), sondern mit einem sehr klaren Blick beobachtet und, so fand ich, ganz wunderbar einprägsame Bilder für Zustände gefunden, die sich sonst gerne einer allgemeinverständlichen Beschreibung entziehen mögen.

Natürlich kann ich nicht wissen, ob besagte Bilder tatsächlich allgemein verständlich sind
Mir kamen sie ungeheuer einleuchtend vor: „Jahaha, wunderbar, genau so fühlt sich das an!“.
Objektiv ist anders, keine Frage. Normal sowieso.

Deswegen habe ich das Buch gekauft.
Trotz durchaus ambivalenter Gefühlslage (nee, echt jetzt – auch wenn ich generell dazu neige, kann ich die ja auch mal aus Gründen haben!):
Einerseits finde ich, dass gerade Menschen mit Depressionen unbedingt Humor brauchen, wenn sie die Nummer überleben wollen.
Aber müssen wir uns unbedingt von der heiteren Seite präsentieren, um verstanden und angenommen zu werden? Andererseits: Können und wollen wir anders?
Ich für mein Teil glaube, dass ich, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, blöde Witze zu reißen, einen guten Freund brauche, der mich erschießt.
Andererseits möchte ich mich und meine Erkrankung, ihre Symptome, die alltäglichen Widrigkeiten, die sie mit sich bringt, endlich einmal ernst genommen wissen!
Nochmal andererseits ist es sehr viel schöner, von jemandem zu lesen, dem die Schilderung seiner Erkrankung zu Prominenz verhilft, als von Prominenten, deren Depressionen nach ihrem Suizid an die Öffentlichkeit kommen.

Tatsächlich mache ich mir bei der Lektüre der ersten Kapitel fast in die Hose vor Lachen!
Das ist das Schöne am „persönlich betroffen“ sein: Ich darf das!

An anderen Stellen breche ich fast ebenso vehement in Tränen aus: Das sind die, an denen mir klar wird, dass ich auch dieses Problem, von dem ich nun wirklich immer dachte, es sei mein ganz eigenes, mit anderen teile. Dabei hätte ich gedacht, ich sei lange genug dabei, um mich in allen Spielarten meines Nicht-Dazugehörens auszukennen …

Wieder andere Kapitel befremden mich: So bin ich nicht! Ich möchte nicht, dass Menschen denken, ich sei auch so.
Und ich weiß nicht, was befremdlicher ist: Das Gefühl, dass die soeben entdeckte vertraute Seele dann doch anders ist, oder die Rückmeldung meiner Umgebung, dass ich sehr wohl so sei, das aber nicht wahrhaben wolle …

Manche Passagen wirken auf mich verstörend.
Es sind solche, in denen der Protagonist seine Mitmenschen aggressiv und letztlich selbstzerstörerisch zu zwingen versucht, ihn endlich wahrzunehmen. Nicht, dass depressive Menschen nicht aggressiv sein könnten oder dürften. Und warum sollte das Gefühl (ach was: die Überzeugung!), nicht dazuzugehören, ja, geradezu unsichtbar zu sein, nicht irgendwann in verzweifelte Wutausbrüche münden?
Aber die Schilderung überzeugt nicht, ist voll von Mißtönen und das erzeugt zumindest bei mir Beklemmungen.

Das Bemühen, das Fähnchen des Humors immerzu wacker hochzuhalten, berührt mich an diesen Stellen unangenehm.
Es gelingt sehr gut, wenn es um die Beschreibung von solchen Situationen geht, durch die – soweit ich sagen kann – nun wirklich jeder Depri wieder und wieder durch muss. Vielleicht ist es das: Das üben wir täglich. Und das Lachen darüber ebenso.
Wenn es aber wirklich wehtut, wenn die Selbstachtung ihren Jahresurlaub nimmt und man Dinge tut, von denen man selbst im Suff noch weiß, dass das jetzt mal richtig Kacke ist, dann sind Scherze für mein Empfinden einfach fehl am Platz.
Sie sind dann auch anders platziert: In solchen Momenten wird ein eher randständiges Detail auf die Schippe genommen und verhilft zu der erhofften humorvollen Betrachtungsweise. Das Sujet als solches bleibt bedrückend.

Was mir, obwohl es weh tut, wirklich gut gefällt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der bei aller sonstigen Selbstironie und Lustigkeit dem Umstand Rechnung getragen wird, dass Depression eine lebensgefährliche Erkrankung ist, die wir nicht alle überleben. An dieser Stelle ist der Ton herzzerreißend authentisch.

Fazit für die Depris unter Euch:
Wenn wir ungefähr ähnlich ticken, werdet Ihr an einigen Stellen fürchterlich heulen müssen – aber hej, wir sind Kummer gewöhnt, oder?
Und an anderen Stellen hoffentlich auch den Moment genießen, in dem das vertraute, alltägliche Elend plötzlich so witzig gespiegelt wird, dass Ihr ihm laut ins Gesicht lachen könnt.
Es tut gut, wenn jemand stellvertretend Menschen, die mit vermeintlich hilfreichen Kommentaren einfach nur nerven, ganz leichter Hand durch den Kakao zieht.
(Mein Lieblingszitat diesbezüglich ist „Ich schäme mich fast ein wenig dafür, nichts Anständiges zu haben. Krebs oder so. Da sagt keiner: ,Ich hab manchmal auch so Geschwüre. Aber dann hab ich mir lachende Katzenbabys angeschaut, da ging das wieder. Ich hab mich da eben nicht so reinfallen lassen in dieses Krebs-Ding. Ist alles ’ne Frage der Einstellung.‘ “ Ihr wisst, was ich meine …)

Für die „anderen“:
Ich glaube schon, dass das Buch hilft, Menschen wie mich besser zu verstehen – jedenfalls finde ich Bilder und Erklärungen darin, die ich auch verwenden würde, wenn mich Scharfsinn, Witz und Eloquenz in Situationen, in denen ich sie dringend bräuchte, nicht regelmäßig verlassen würden.
Tobi Katze kommt nicht mit langatmigen Erklärungen (die lassen sich bei Bedarf auch prima anderswo nachlesen) und vor allem nicht mit erhobenem Zeigefinger daher – er schreibt im Gegenteil höchst unterhaltsam und brennt ganz nebenbei Gefühlschaos und gedankliche Sackgassen auf eine Art und Weise in Bilder, die sie unmittelbar einleuchten lässt. Auch warnt er en passant vor den beliebtesten Fettnäpfen im Umgang mit psychisch kranken Menschen.

Muss man das Buch gelesen haben?
Nö. Ein Klassiker der Weltliteratur wird das nicht.

Aber seid versichert, Ihr habt Menschen wie uns in Eurem Bekannten- und Freundeskreis, unter Euren Arbeitskollegen oder in der Familie!
Dann ist es hilfreich.
Und es macht Spaß!