#metoo

Den folgenden Text hatte ich lediglich auf meiner Facebook-Seite veröffentlichen wollen, weil er mir zwar ein großes Anliegen ist, aber nicht wirklich etwas mit dem Thema des Blogs zu tun hat.
Dann jedoch bin ich gebeten worden, meine Überlegungen auch außerhalb von Facebook zugänglich zu machen.
Und wer weiß, ob all das tatsächlich ohne Folgen geblieben ist …

Diesen Text habe ich aus ichweißnichtmehrwelchem Grund im Frühjahr 2019 zu schreiben begonnen, ihn dann aber aus dem Auge verloren.
Er ist mir wieder eingefallen, weil neuerdings diskutiert wird, ob #metoo am Ende ist, weil ein einziger Mann vor Gericht Recht bekommen hat.
Ich gebe ihn einfach mal so wieder, wie ich ihn seinerzeit geschrieben habe.

„Ich weiß gar nicht mehr, seit wann ich schon regelmäßig über #metoo stolpere …
Aber ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, was ich dachte, als ich den Hashtag zum ersten Mal gesehen habe:
„Das betrifft mich nicht, ich bin ja nie vergewaltigt worden. Nur ganz normal sexuell belästigt.“.
Es hat tatsächlich einen ganzen Tag gedauert, bis ich selber begriffen habe, was ich da gedacht habe:
„Nur.“
„ganz normal“
„sexuell belästigt“
Da habe ich mich angeschlossen, einfach mit dem Hinweis „metoo“.
Ich fand nicht, dass ich deswegen gleich meine Lebensgeschichte erzählen muss.
Aber vielleicht ist das doch sinnvoll. Um mal ein paar Missverständnisse zu klären.

Ich war neun Jahre alt, als ich mit einer Freundin eine Radtour gemacht habe. Auf einem Feldweg hat uns ein Mann aufgehalten indem er sein Fahrrad vor uns quer stellte. Da drüben im Wald, sagte er, würden zwei was machen (wir hatten nicht recht eine Vorstellung, was eigentlich) und unbedingt sollten wir mitkommen und uns das anschauen! Wir wussten sehr genau, dass wir auf gar keinen Fall mit fremden Männern mitgehen durften, aber was wir in diesem Moment hätten tun können, wussten wir nicht. Wir hatten Glück: Es näherten sich Leute und der Mann ist geflüchtet. Wir auch.
Nachdem ich das daheim erzählt hatte, haben meine Eltern umgehend Anzeige erstattet und wir mussten bei der Polizei eine Aussage machen. Wir waren wohl nicht die einzigen. Danach hatte ich lange Zeit Angst, dass der Mann wiederkommt und mich holt.

Ich war zwölf Jahre alt, als der Stiefvater meiner besten Freundin versucht hat, mich zu küssen und mir seine Zunge in den Mund zu schieben. Es war Karneval, er war betrunken. Ich hab ihm in die Zunge gebissen. Meinen Eltern hab ich nichts davon erzählt, sie hätten womöglich den Kontakt zu meiner Freundin unterbunden.

Ich war vierzehn und pferdeverrückt wie fast alle Mädchen in diesem Alter. Es gab da einen Mann auf dem Reiterhof, der konnte die Finger nicht bei sich behalten. Wir wussten das alle: Geriet man mit dem allein in eine Box, versuchte er, einen zu begrapschen. Dann galt es, schnell zu sein!
Wir waren schnell. Ich habe bis heute keine Ahnung, ob die anderen Erwachsenen davon wussten.

Während der Lehre gab es einen Mitarbeiter, der immer viel zu dicht neben mir saß, wenn er mir etwas erklärte. Der immer nach etwas auf meiner anderen Seite greifen musste und mir damit noch näher rückte. Der, als ich einen Stapel Papier lochen wollte, plötzlich seine Hände auf meine legte, um mir beim Drücken zu helfen. Immer mit einem tiefen Blick in meine Augen.
Darüber habe ich mich damals tatsächlich ganz impulsiv bei unserem Vorgesetzten beschwert und hatte das unfassbare Glück, Gehör zu finden (das war damals ganz sicher nicht generell üblich). Ich musste nie wieder mit diesem Menschen arbeiten. Überflüssig zu sagen, dass diese Beschwerde mein berufliches Fortkommen dennoch nicht gerade erleichtert hat.

Und so weiter und so weiter.
Während des Studiums, als der Handlungsspielraum … sagen wir … etwas größer war, habe ich einmal jemandem Prügel angedroht, falls er mich noch einmal anfassen sollte.

Danach dann, im „Arbeitsleben“, habe ich vieles einfach abperlen lassen. Oder war im Zweifel nicht um eine verbale, aber kernige Antwort verlegen. Diejenigen von Euch, die mich persönlich kennen, wissen das.

Einmal hat mir ein Nachbar sturzbesoffen in den Schritt gegriffen, während mein Ehemann daneben stand.
Bei ersten Mal habe ich nicht reagiert, weil ich viel zu überrascht war: Damit hatte ich nicht gerechnet!
Mit einer verbalen Ansage wäre ich schwerlich zu ihm durchgedrungen, aber in seinem Zustand hätte ich ihn problemlos aus den Schuhen hauen können, obwohl das eigentlich nicht meine Art ist. Ich hab den Selbstverteidigungskurs, den ich immer machen wollte, auch nie in Angriff genommen: Ich weiß nicht, wie man einen Menschen schlägt. Bei ihm hätte wahrscheinlich umschubsen gereicht. Aber seine Ehefrau stand ebenfalls dabei und ich hatte das ungute Gefühl, dass sie es ausbaden würde, wenn ich mich jetzt wehre.
Also habe ich getan, als sei nichts. Es hat ja nicht wehgetan und ich war nicht in Gefahr. Es war nur unfassbar widerlich und entwürdigend. Am meisten vermutlich für seine Frau.

Exkurs
Nur falls das irgendjemand nicht gemerkt haben sollte: Ich lasse hier verbale Übergriffe aus! Und zwar nicht, weil es keine gegeben hätte, sondern weil ich nicht den Ehrgeiz habe, einen Roman zu schreiben!

Nee. Als Opfer hab ich mich nie gesehen. Es war doch „nur“ die „ganz normale“ sexuelle Belästigung! Schon mit neun Jahren habe ich Wege gefunden, mich davor zu schützen – es ist uns ja nichts passiert damals. Ich habe immer Wege gefunden, auch wenn ich dabei beinahe mal einen arglosen Jogger umgenietet hätte, der nachts unverhofft von hinten auf mich zurannte.

Auf die #metoo-Frage „bist Du schon einmal sexuell belästigt worden?“ mit „ja“ zu antworten, macht mich verdammtnochmal! nicht zu einem Opfer!
Opfer geworden bin ich jedes Mal, wenn mir das zugestoßen ist. Weil mir das zugestoßen ist. Wie wenn man Opfer eines Verkehrsunfalles oder einer Naturkatastrophe geworden ist. Das passiert ja auch nicht dann, wenn man es feststellt, sondern dann, wenn es einem passiert!

#Metoo also, weil es mir auch passiert ist. Punkt.
Ich hab nie gefunden, dass DAS mein Leben zu etwas Besonderem macht. Im Gegenteil, das war halt so. Das war normal! Das kannten wir alle. Für ein ganzes Frauenleben war es nicht einmal besonders viel. Traumatisiert oder verletzt hat mich das nicht. Es hat mich auch nicht ängstlich, humorlos, verklemmt, frigide, oder gar männerfeindlich gemacht. Und nein, ich bin auch nicht deswegen Feministin geworden. Die Geschichte erzähle ich vielleicht ein andermal …

Wenn das für mich alles so normal war und mir auch gar nicht geschadet hat, warum reite ich dann so auf dem Thema herum?

Weil es so verdammt allgegenwärtig ist!

Kürzlich las ich eine Geschichte, die das sehr schön illustriert.
Eine Professorin bittet ihre männlichen Studenten, einmal alles zu nennen, was sie in ihrem Alltag tun, um sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen.
Die Studenten gehen gründlich in sich, aber es will ihnen nicht recht etwas einfallen.
Dann bittet sie ihre Studentinnen, das selbe zu tun. Die Hände fliegen hoch:

  • „Mein Getränk immer im Auge behalten, damit niemand etwas hineinschütten kann!“
  • „Keine Kleidung tragen, die aufreizend wirken könnte!“
  • „Keine Unterwäsche tragen, die aufreizend wirken könnte!“
  • „Immer nur ganz wenig, oder besser gar keinen Alkohol trinken!“
  • „Nachts nicht die U-Bahn, sondern lieber ein Taxi nehmen!“
  • „Im Taxi hinten sitzen!“
  • „Immer auf den Rücksitz schauen, bevor ich in mein Auto steige!“
  • „Immer eine Taschenlampe dabeihaben, damit ich auch im Dunkeln auf den Rücksitz schauen kann!“
  • „Beim Joggen keine Kopfhörer tragen!“

Die Liste wird sehr sehr lang.

Und das ist meines Erachtens ein ganz wichtiger Punkt!
Ja, Männer werden ebenfalls diskriminiert! Sie erfahren Gewalt!
Und ja: Auch sexuelle Gewalt!
Und das ist furchtbar und darf nicht sein! Aber es bestimmt offensichtlich nicht ihren Alltag.“

Was mir Stand heute dazu einfällt: Dass mir immer noch etwas dazu einfällt. Das Thema hat nichts an Aktualität verloren.

Ich bin nach wie vor in der glücklichen Lage, nie Opfer brachialer sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Aber ich habe angefangen, über konsensualen Sex nachzudenken. Den es nicht gibt: Sex ohne Konsens ist Vergewaltigung.
Ich denke über den „semi-konsensualen Sex“ nach, den ich gelegentlich hatte.
„Abwägungs-Sex“ sozusagen: Fang ich jetzt ne Diskussion an, dass und warum ich keinen Bock habe, oder hab ich das Elend schneller hinter mir, wenn ich ihn einfach machen lasse?
Gruselig, nicht wahr?

Ich denke über solche Situationen nach, nach denen ich mir Vorwürfe gemacht habe, dass ich „ES“ nicht habe kommen sehen. Nicht etwa dem Mann, von dem der Übergriff ausging.

Für mich waren (und sind) sexualisierte Übergriffe so etwas wie Risiken im Straßenverkehr: Gibt’s! Musste halt aufpassen!
DAS finde ich gruselig!

Montagsmodell III: „Z“ wie Zauberwort

Das ist ein ganz seltsamer Moment, wenn man plötzlich in den Stand eines Menschen erhoben wird, der an einer „richtigen“ Erkrankung leidet.
Gerade eben hat man noch zu denjenigen gehört, die regelmäßig ihrem Arzt mit unerklärlichen Symptomen auf die Nerven gehen und die auf die Frage „Wie geht’s dir so?“ entweder lügen, oder sich auf längere Gespräche des Inhaltes, ob sie denn dieses schon in Betracht gezogen und jenes schon probiert hätten, gefasst machen müssen.
„Was sagt denn dein Arzt?“
„Der meint, das sei psychosomatisch.“
„Ja … nee … der muss doch … da musst du doch …!“
Gar nix muss der. Ich kann meinen Arzt nicht zwingen, sich für mich in eine Ein-Mann-Forschungsstation zu verwandeln. Zumal ich meine Symptome selber ziemlich merkwürdig finde – ich kann ja nicht einmal lokalisieren, wo ich nun eigentlich Schmerzen habe.
Und dass ein Arzt angesichts eines Menschen, für den es eine Diagnose klipp und klar gibt, nämlich die, dass er psychisch krank ist, irgendwie auf den Gedanken verfällt, dessen Beschwerden könnten daher rühren, kann man ihm auch nicht wirklich vorwerfen.
Und ich muss auch nix. Ich mag auch nicht mehr. Schon wenn ich mir selber zuhöre, wie ich das Sammelsurium meiner Symptome zu schildern versuche, komme ich mir blöd vor – vor einem Arzt tu ich mir das nur an, wenn es gar nicht mehr auszuhalten ist.
Und dann sag ich „Also ich habe seit Monaten solche Schmerzen, dass ich mich kaum noch bewegen kann.“ und frage mich, ob er sich fragt, warum ich – wenn es doch angeblich so schlimm ist – monatelang gezögert habe, ihn aufzusuchen …

Und von jetzt auf gleich gibt es ein Zauberwort, das alles erklärt. Plötzlich passen die Puzzleteilchen zusammen. Keine Rede mehr von Angst oder Depression, ich hab eine richtig handfeste Erkrankung von der Sorte, die man am Blutbild ablesen kann.
Ich würde nicht soweit gehen wollen, von Triumph zu sprechen, aber so ein kleines „Ich hab’s euch doch gesagt!“-Gefühl meldet sich schon. Und eine sehr sehr große Erleichterung.

IMG_15126-webIn meinem Fall lautet das Zauberwort „Borreliose“.
Es ist eine alte Infektion, die nicht behandelt wurde, weil ich sie gar nicht bemerkt hatte. Ich habe bei Zeckenbissen immer sorgsam auf eventuelle Rötungen und anschließende fiebrige Infekte geachtet – dass diese zwar auf eine Infektion hinweisen, ihr Fehlen jedoch nicht garantiert, dass keine stattgefunden hat, habe ich nicht gewusst.
Und bislang gibt es in Südfrankreich so gut wie keine Fälle von Borreliose, deswegen hat auch sonst lange niemand daran gedacht.
Ob sie sich heilen lässt oder einen chronischen Verlauf nehmen wird, kann niemand sagen. Aber so oder so kann man sie behandeln!

Und – und das erscheint mir momentan noch viel gewichtiger – ich werde mich nie wieder fragen müssen, ob ich mich nicht vielleicht doch nur anstelle. Ob ich nicht doch einfach undiszipliniert und faul bin. Mir Schmerzen einbilde, um mich vor dem Leben zu drücken.
Nie! Wieder!

Jetzt erst wird mir klar, wie sehr diese Ungewissheit mich belastet hat: Noch bevor die Behandlung überhaupt begonnen hat, finde ich die Schmerzen sehr viel besser auszuhalten und das, obwohl ich die Schmerzmittel drastisch reduziert habe. Ich schaffe es, morgens aufzustehen – ein Unterfangen, das ich gerade dabei war, aufzugeben: Die ganze Kämpferei schien mir allmählich sinnlos.

Seltsam, nicht wahr? Dass man sich über eine – let’s face it! – ziemlich unangenehme und langwierige Erkrankung so freuen kann. Gut möglich, dass ich das im Laufe der Zeit auch wieder anders sehen werde. Für den Moment sehe ich einen Weg, der sich plötzlich vor mir öffnet. Und bin einfach froh darüber.

Mind Comedy

IMG_22240-webSeit ich mich erinnern kann, ist Lesen mir ebenso sehr Bedürfnis, wie Schreiben.
Und so lese ich, seit ich blogge, die Blogs anderer Menschen …
Einige davon finde ich spannend oder anrührend, manche sind mir regelrecht ans Herz gewachsen – und ich möchte sie Euch vorstellen.
Diesmal ist es zur Abwechslung ein Vlog.

„Huch!“, hab ich gedacht, als ich Leonard zum ersten Mal in einem seiner Videos gesehen habe: „Ist der jung!“ …
Und hab als Allererstes überlegt, ob man einen Menschen wie ihn nicht vor sich selbst und seinem Tun schützen müsste.
Er sitzt da und erzählt von seinem Leben mit einer bipolaren Störung, also dem, was man früher manisch-depressiv nannte, seiner Drogensucht, Aufenthalten in der Psychiatrie, dem Versuch, ohne Medikamente klarzukommen und dessen Scheitern.
Als ich mich entschieden habe, die Texte der Taucherin unter meinem Namen zu veröffentlichen, wusste ich, dass ich in diesem Leben kein Bewerbungsgespräch mehr würde führen müssen. Und kam mir trotzdem ziemlich wagemutig vor.
Er dagegen könnte durchaus eines Tages auf die lustige Idee kommen, zum Beispiel Finanzbuchhalter werden zu wollen. Dann wären Videos wie dieses aber echt mal hinderlich!
Und wie mögen seine LehrerInnen damit umgehen? Wie seine MitschülerInnen? Der wird ja auch mal älter … dann möchte er vielleicht nicht mehr, dass Menschen, die er gerade eben erst kennen lernt, schon so viel über ihn wissen …
Aber er macht das gut, finde ich. Er macht das richtig gut!
Authentisch und dabei sehr liebenswert. Berührend. Selbstironisch, witzig und stellenweise einfach zum Heulen.
Ich hätte es seinerzeit verlogen gefunden, auf meinem Blog psychisch kranke Menschen ermutigen zu wollen, sich zu ihrer Erkrankung zu bekennen, und dabei selbst anonym zu bleiben.
Leonard tut nichts anderes – nur ist seine Lage sehr viel weniger komfortabel, als meine: Mir konnte nicht mehr viel passieren.
Er dagegen macht sich angreifbar. Das ist aufrichtig und sehr mutig!
Wir sollten Menschen nicht daran hindern, aufrichtig und mutig zu sein. Das tut ihnen nicht gut.

Dieses ist das erste Video, das ich mir angeschaut habe. Es handelt davon, wie es sich anfühlt, wenn man einsehen muss, dass es ohne Medikamente nicht geht.

Bipolare Störung – Stimmung stabilisieren? Ich will gute Laune!

Mit Dank an Alice Wunder, der mich auf die Idee zu diesem Text gebracht hat.

Zwischen Weinen und Lachen

Die erste Kontrolluntersuchung meiner Augen liegt hinter mir: die Degeneration der Netzhaut schreitet nicht – oder jedenfalls nur sehr langsam – voran. Zukünftig werde ich das alle 6 Monate überprüfen lassen müssen. Und mich auch selbst beobachten: Es kommt vor, dass Blutgefäße in die Netzhaut einwachsen und deren Zustand dramatisch verschlechtern. Das immerhin kann man behandeln. Muss man dann auch. Über die Frage nachzudenken, wie das vonstatten geht, verkneife ich mir so gut es geht: Friemeln die sich dann mit irgendwelchen Gerätschaften um den Augapfel herum??? Ich will’s gar nicht wissen …
Für’s erste jedoch ist alles in Ordnung und ich habe den Klinikbesuch als sehr viel weniger aufregend empfunden, als bei den letzten Malen. Als die Krankenschwester mich auf Englisch anspricht – weil man ja nun weiß, dass ich nicht gut Französisch spreche – bin ich so perplex, dass ich im ersten Moment gar nicht antworten kann, obwohl mein Englisch tatsächlich sehr viel besser ist. Am besten komme ich mit einer der älteren Schwestern zurecht: Ich hab ihr eingangs gesagt, dass ich sie verstehe, wenn sie einfach langsam mit mir spricht. Und tatsächlich klappt das sehr gut.
Beim nächsten Mal, nehme ich mir vor, stecke ich meine Sonnenbrille ein: die Wirkung des Mittels, das für die Untersuchung die Pupillen vergrößert, hält eine ganze Weile an und jedes bisschen Licht blendet. Die Sicht verschwimmt dann auch ein wenig, aber ich bin guter Dinge, mich am anschließenden Einkauf dennoch beteiligen zu können.

Wir brauchen Waschmittel und nachdem ich ein Regal mit großen, bauchigen Kunststoffflaschen in Bonbonfarben geortet habe, bei denen es sich nur um Weichspüler handeln kann, gehe ich ganz zuversichtlich davon aus, dass das Waschmittel dann wohl in der Nähe stehen wird. Es ist jedoch ein Regal mit Sonderangeboten, das einfach freischwebend im Eingangsbereich steht. In der Nähe könnte das Waschmittel trotzdem zu finden sein, denke ich und mache mich auf den Weg. Ich muss dicht an die Regale heran, um erkennen zu können, was sie enthalten: Blumendünger, Batterien, Klebstoff …
Ich bin hier völlig falsch, weiß nicht, in welche Richtung ich mich nun wenden soll und fühle mich einen Moment lang so hilflos, so nutzlos, dass mir die Tränen kommen. Da stehe ich nun und weine auf irgendeine Tiefkühltruhe, die hier (vermutlich weil sie auch im Angebot ist) blöd im Weg herumsteht. So wie ich.

Als ich mich ein wenig gefasst habe, versuche ich mein Glück bei den Lebensmitteln: Gläser sind recht gut an ihrem Glanz zu erkennen. Ob sich in ihnen saure Gurken, Marmelade oder Prinzessböhnchen verbergen, kann ich zwar auch nur feststellen, indem ich ganz dicht herangehe, aber immerhin stehen die Regale nebeneinander. Hier hilft Geduld. Die Tiefkühlabteilung dagegen ist ein ganz großer Wurf: Im Gegensatz zum Rest des Supermarktes, der regelmäßig komplett umgeräumt wird, stehen die großen, schweren Truhen stets ganz verlässlich am selben Ort.

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Das nächste Mal stehen mir die Tränen beim Yoga in den Augen.
Weil es so weh tut. Und das tut es ganz sicher nicht, weil ich zu ehrgeizig wäre und die Übungen übertreiben würde. Selbst beim Shavasana, der „Todesstellung“, bei der man sich nicht etwa umbringen, sondern einfach ganz entspannt auf dem Rücken liegen soll, habe ich heftige Schmerzen.
Und weil es so frustrierend ist. Es ist ein Anfängerkurs, bei dem ich eher zu den jüngeren TeilnehmerInnen gehöre. Von den anmutigen Haltungen, die man regelmäßig auf Fotos zum Thema Yoga sieht, sind wir sehr sehr weit entfernt. Es geht erst einmal darum, überhaupt ein bisschen beweglicher zu werden. Ein Teil der Übungen ist mir aus dem Tanzsport vertraut: Da haben wir das zum Aufwärmen gemacht …
Und heute liege ich da und habe Angst, dass mir womöglich jemand wird aufhelfen müssen, weil in meinem Rücken mal wieder etwas einrastet.
Jetzt sollen wir uns vom Rücken auf den Bauch drehen. „Prima!“, denke ich … „nur wie?“. So müssen sich Schildkröten fühlen.

Letztlich reisst meine Nebenfrau es raus.
Nathalie erklärt uns Schritt für Schritt, wie wir uns in eine Posture hinein bewegen, erläutert – während wir diese halten – ihren Nutzen und nennt, kurz bevor die Übung aufgelöst wird, oft noch ein Tüpfelchen auf dem I, das sie, wenn der Rest gut klappt, vervollkommnet.
In diesem Falle befinden wir uns im Vierfüßlerstand und haben ein Bein sowie den entgegengesetzten Arm in die Horizontale gehoben. Das ist anstrengend, vor allem aber seeehr wackelig. Als Nathalie ihre Erläuterungen zu besagtem I-Tüpfelchen mit den Worten „si ça va bien …“ beginnt, verliert die Frau neben mir die Fassung und beginnt, haltlos zu kichern. Es ist ungeheuer ansteckend! Zwar gelingt es mir, die Posture ohne Würdeverlust zu verlassen, aber ich gluckse noch, als ich schon wohlbehalten in Garbhasana, der „Stellung des Kindes“, in der wir uns nun entspannen sollen, angekommen bin. Für den Moment ist der Schmerz weg.

Montagsmodell II: Ein Kind ohne Namen

Als ich angefangen habe, körperlich zu arbeiten, habe ich nachts oft nicht gewusst, wie ich liegen soll, weil mir so dermaßen die Knochen wehgetan haben. Mit der Zeit – und ein paar Muskeln mehr – ist das besser geworden und ich hatte nur noch dann arge Schmerzen, wenn ich etwas getan habe, von dem mir vorher klar war, dass ich es besser lassen sollte.
Ich erinnere mich lebhaft an einen Moment, in dem ich ein Schaf über den Zaun gehoben und vorsichtig abgesetzt hatte, damit es sich nicht wehtun solle. Ich hing über’m Zaun, kam nicht mehr hoch und dachte noch „Das. War. Nicht. Gut!“ …
Schieferplatten hangaufwärts rollen oder schieben zu wollen, weil ich sie nicht hochgehoben kriege, ist ebenfalls „Nicht. Gut!“. Dann kommt es vor, dass ich am nächsten Tag erst einmal eine Weile jaulend humpele, bevor mir aufrechter Gang gelingt.
Außerdem steht mein Becken schief. Und ich neige zu Verspannungen: das Schleudertrauma, das ich mir mit Mitte 20 bei einem Sportunfall eingehandelt, aber nicht vernünftig auskuriert habe – schließlich war ich Mitte 20 und wollte Sport treiben! – tut da sicher das seine. Und die Allerjüngste bin ich ja auch nicht mehr …

Kurzum: Ich hab mir nicht viel dabei gedacht, als die Rücken- und Gelenkschmerzen kamen. Bin, weil sie so gar nicht wieder verschwinden wollten, monatelang zur Physiotherapie gegangen, die durchaus hilfreich, aber auch frustrierend war: Kaum war ich an einer Stelle „kuriert“, schmerzte eine andere. Und ich habe mich geschont, soweit das irgend möglich war. Den Sommer über ging das auch recht gut, aber seit dem Herbst ist die Frage nicht mehr, ob ich Schmerzen habe, sondern nur noch wo. Und wie stark.

Es steckt keinerlei Logik hinter diesen Schmerzen. Über Wochen bin ich morgens von unangenehmen Magenschmerzen aufgewacht, die sich dann in einer Linie in den Unterleib zogen. Um einen Moment später in meinen Rücken zu sacken …
Ich bin also aufgewacht und dachte mir: „Mist! Magenkrämpfe …“ … „Nee, Bauchschmerzen!“ … „Quatsch! Rücken! Mir tut der Rücken weh!“ …
Oft wird es besser, wenn es mir gelingt, aufzustehen und mich zu bewegen, aber das fällt verdammt schwer.
Und manchmal geht es gar nicht: Dann habe ich solche Schmerzen, dass ich mich nicht einmal im Bett aufsetzen kann. Das fühlt sich an, als stecke ein Messer in meinem Rücken.
An solchen Tagen muss mich jemand beherzt an den Schultern packen und das Aufsetzen für mich erledigen. Ich schreie dann und weine meist auch erst einmal – aber immerhin sitze ich.
An diesen Tagen weiß ich nie, welche Bewegungen es sind, die das Messer in meinem Rücken herumdrehen. Aber wenn ich es erst einmal geschafft habe, mich überhaupt in Gang zu setzen, geht es – wenn auch unter gelegentlichem Aufschreien.

Häufig sind meine Arme und Hände taub und kribbeln. Links krampfen unter Belastung gerne die Finger, was zwar nicht allzu schmerzhaft, aber extrem lästig ist: Meine Finger zeigen dann völlig willkürlich in irgendwelche Richtungen und wenn ich gerade Gemüse schneide, muss ich immer wieder alles beiseite legen und sie erst einmal wieder gerade biegen. Wenn es ganz arg ist, setze ich mich eine Weile auf meine Hand.

Zum Arzt gehen mag ich mit meinen Beschwerden zunächst nicht: Selbst für die, die ich zuverlässig lokalisieren konnte, ist bisher kaum jemals ein greifbarer Grund gefunden worden. Dass ich zeitweise selbst nicht weiß, ob ich Bauch- oder Rückenschmerzen habe, mag ich grad gar niemandem schildern.

Als eine Freundin mir erzählt, sie glaube, an Fibromyalgie zu leiden, gebe ich – was ansonsten gar nicht meine Art ist – bevor ich nachschlage, was sich dahinter verbirgt, meine eigenen Symptome in eine Suchmaschine ein: Wandernde Schmerzen.
Et voilà: Ich lande ebenda.
Und muss beinahe lachen, als ich die Liste der Symptome sehe: Wenn ich die streiche, die ich nicht habe, bin ich schnell fertig!

Ich bin fasziniert und beginne, weiter zu recherchieren. Fibromyalgie ist eine Erkrankung, die ich nun wirklich niemandem wünschen würde … außer mir selbst. Ich würde mich geradewegs über die Diagnose freuen!
Das ist weniger seltsam, als es klingt, finde ich: So viele Phänomene, mit denen ich mich mehr oder weniger häufig herumschlage, wären plötzlich erklärlich!
Ich müsste mich nicht mehr in regelmäßigen Abständen fragen, was eigentlich mit mir nicht stimmt: ich wüsste es.

Zum Beispiel, warum es mir morgens selbst dann, wenn ich kaum Schmerzen habe, oft einfach nicht gelingt, mich zu bewegen.
Und ich rede da gar nicht von Unternehmungen wie „Aufstehen“ …
Ich bekomme morgens eine Tasse Tee ans Bett – die liebevolle Geste tut mir gut und ich habe tatsächlich auch den Eindruck, dass der Tee mir beim Wachwerden hilft.
Aber es kommt natürlich vor, dass ich „verkehrt herum“ liege, mit dem Rücken zur Teetasse. Und dann erwisch ich mich regelmäßig bei dem Gedanken „hoffentlich schaffe ich das, solange der Tee noch heiß ist! Oder wenigstens warm …“ …
Mich im Bett herumdrehen. Und dann den Arm nach der Tasse ausstrecken …

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Unser Hausarzt indes teilt meine „Begeisterung“ nicht.
Fibromyalgie, meint er, sei lediglich ein Begriff für ein Bündel von Symptomen, die sich niemand erklären könne. Man müsse, da es sich um eine Ausschlussdiagnose handelt, einen Rattenschwanz von Untersuchungen durchführen und sei anschließend auch nicht klüger.
Ganz Unrecht hat er da nicht: Man weiß nicht, warum Menschen an Fibromyalgie erkranken. Sie geht regelmäßig mit Depressionen einher, aber man weiß nicht einmal, ob die körperlichen Symptome die Depression auslösen, oder umgekehrt.
Fibromyalgie ist behandel-, aber nicht heilbar. Und zu den gängigen Medikamenten gehören Antidepressiva, die man in meinem Fall auch ohne gesonderte Diagnose verschreiben könnte. Für Psychotherapie gilt dasselbe, obwohl es schwierig bis unmöglich sein dürfte, in unserer Nähe überhaupt einen Therapieplatz für mich zu finden – geschweige denn bei einem Menschen, der Deutsch spricht. Was man unterstützend tun kann: Stress reduzieren, Entspannungs- oder Achtsamkeitstraining, Yoga … mache ich sowieso schon.

Er nehme psychosomatische Symptome durchaus ernst, versichert er mir, verursachten sie doch echtes Leiden – aber auch ohne ausgefuchste Diagnose hätte ich die Auswahl zwischen Psychotherapie, Antidepressiva, oder aber – wenn ich das so will – einem Annehmen der Symptome.
Das glaube ich dem Mann durchaus. Und der Witz ist: Ich will gar nicht behandelt werden! Abgesehen von den genannten Schwierigkeiten, einen Therapieplatz zu finden, habe ich derzeit absolut nicht das Gefühl, therapeutische Unterstützung zu benötigen. Und ganz bestimmt habe ich nicht mein Leben komplett umgekrempelt, damit ich ohne Antidepressiva leben kann, um jetzt wieder damit anzufangen! Ich fühle mich verdammt nochmal nicht depressiv! Graue Tage und verzweifelte Phasen gibt es, keine Frage, aber ich kann mich noch ganz gut erinnern, wie das war, wenn es mir richtig schlecht ging. Dagegen sind die Einbrüche, die ich jetzt erlebe, bestenfalls Mulden. Und im Annehmen von Schmerzen habe ich eine Menge Übung.

Was ich mir gewünscht hätte, ist ein Name.
Eine Bezeichnung, die ich anstelle langatmiger Erklärungen nennen kann. Die mich vor Nachfragen und Ratschlägen bewahrt. Eine richtige Krankheit.
Vor dummen Fragen und vor allem vor klugen Ratschlägen (dann womöglich auch noch von Ärzten), wendet er ein, könne das Zauberwort Fibromyalgie mich auch nicht bewahren, und vermutlich hat er auch damit Recht.

„Psychosomatische Symptome“ argumentiere ich, seien eine Botschaft des Körpers, dass irgendetwas schief laufe im eigenen Leben, dass man etwas ändern müsse. Ich sei der Meinung, ich hätte durchaus genug verändert und wolle nun endlich meine Ruhe.
Auch vor mir selbst: Ich wolle mich nicht mehr fragen müssen, ob ich nicht vielleicht doch disziplinlos und faul sei …
Und muss mich darauf hinweisen lassen, dass in diesem Fall vielleicht doch ein Gespräch mit einem Therapeuten …

Für’s Erste lassen wir das so stehen. Ich möchte keine Behandlung, und da ich selbst nicht daran glaube, womöglich an einer der Erkrankungen zu leiden, die man ausschließen müsste, bestehe ich nicht auf weiteren Untersuchungen. Ich muss das erst einmal sacken lassen …

Eines übrigens rechne ich unserem „Dorfarzt“ hoch an: Er hätte es sich bequem machen und sich meine Worte komplett übersetzen lassen können. Aber obwohl es langwierig und ziemlich anstrengend war, fand er es wichtig, von mir zu hören, worum es mir geht.
Bestimmt sei mein Französisch sehr viel besser, als ich dächte, meinte er. Nun ja …

***

Ich hätte immer noch gerne eine Diagnose. Einen Namen für das Kind. Und kreise um die Frage, warum mir das eigentlich so wichtig ist.
Da ist kein Arbeitgeber, dem ich Rechenschaft schuldig wäre, ich bin im Gegenteil bereits in Rente. Niemand auf dem Hof zweifelt daran, dass ich tatsächlich Schmerzen habe. Dass ich dennoch tue, was ich kann. Die kleine Inderin, vermute ich, würde jetzt fragen, wer das ist, dem ich beweisen muss, dass ich mich nicht einfach nur anstelle …

Derweil übe ich mich im Annehmen und beobachte meine Schmerzen beim Wandern, während ich auf den Moment warte, in dem ich es schaffe, mich im Bett aufzusetzen. Zuweilen hilft ein Bodyscan, der eine Art „wer will nochmal, wer hat noch nicht?“ Effekt auslöst und die Schmerzen für einen Moment gleichmäßig über den ganzen Körper verteilt. Das tut dann pro Körperteil nicht mehr allzu weh …
Und an guten Tagen kann ich darüber lachen, wenn ich mich kurz sammeln muss, bevor ich den Weg von der Küchentür zum Wäscheständer (das sind immerhin 20 Meter mit 25% Steigung!) in Angriff nehme. Von da aus muss ich dann nur noch 8 Treppenstufen schaffen, um das Badezimmer zu erreichen!
An schlechten, also an den ganz schlechten, denke ich darüber nach, ob ich doch wieder Psychopharmaka nehmen muss.

Montagsmodell I: Blindfisch

„Selbst Hypochonder können mal krank sein!“, hat meine Hausärztin in Deutschland geflachst, als sie mich überredet hat, meine Schilddrüse röntgen zu lassen. Da ich keinerlei Beschwerden verspürte, hatte ich zunächst nicht die Notwendigkeit für eine Untersuchung gesehen …
In diesem Falle hat sie Recht behalten (seitdem lebe ich ohne Schilddrüse), aber sie hat mir auch einmal gesagt, wie frustrierend es für sie sei, wenn ich wieder einmal mit Symptomen vorspräche, die sie sich schlicht nicht erklären könne. Damit war sie in guter Gesellschaft …

Teils hab ich einfach Pech gehabt:

Als sich im Teenageralter die Endometriose bemerkbar machte, kamen Menstruationsbeschwerden noch gleich nach Haarspitzenkatarrh. Sie stellten sich an, wurde den Frauen bedeutet, oder hätten ein Problem mit ihrer Weiblichkeit. Ich habe Schmerzmittel geschluckt, Sport getrieben, heiße Bäder genommen, Kräutertee getrunken, mir Wärmflaschen vor den Bauch gebunden und ja: ich habe mir alle Mühe gegeben, ein positives Verhältnis zu meiner Gebärmutter zu entwickeln. Und mir im Zweifel vorgebetet, dass man an Unterleibskrämpfen nicht stirbt – auch wenn es sich so anfühlt. Nachdem einer mir ein Rheumamittel dagegen verordnet hatte (und zwar just zur Zeit des großen Skandales um deren Nebenwirkungen), habe ich meine Beschwerden Ärzten gegenüber nicht mehr groß thematisiert, sondern mich einfach bemüht, sie anzunehmen. Und so war ich über 40, als ich meiner Gynäkologin gegenüber beiläufig erwähnte, ich hätte Bauchweh vom Magen bis zu den Knien …
Seitdem lebe ich ohne Gebärmutter.

Glomus Tumore im Nagelbett sind – im Gegensatz zu Endometriose – selten, was womöglich erklärt, warum bis zur Diagnose über 20 Jahre ins Land gegangen sind, obwohl ich mit meinen Beschwerden von Pontius zu Pilatus gerannt bin. Hier flachste zum guten Schluss der Dermatologe: „Keine Sorge, wenn der bösartig wäre, wären sie schon lange tot!“ …
Das war mir nach der ganzen Zeit schon selber klar, aber diese Sorte Tumore verursacht unerträgliche Schmerzen, wenn Druck auf sie ausgeübt wird. Beim Zuknöpfen meiner Jacke mit dem Fingernagel an einen Knopf zu stoßen, hat ausgereicht, mir die Tränen in die Augen zu treiben.
Ich hätte mir das oberste Fingerglied amputieren lassen, wenn das nötig gewesen wäre, aber tatsächlich fehlt mir nach der Operation nur der Nagel. Das fällt kaum auf.

Der Tumor in meiner Brust darf bleiben, obwohl er manchmal ordentlich kneift. Er ist gutartig und ich habe schlicht keine Lust, mir noch irgend etwas wegoperieren zu lassen.

Anderes ist rätselhaft geblieben:
Ich bin fünf, sechs Mal in verschiedene Krankenhäuser eingeliefert worden, weil ich mich übergeben habe und nicht mehr damit aufhören konnte. „Unstillbares Erbrechen“ nennt das der Fachmann, aber mehr ist nicht dabei herausgekommen. Es ließ sich keine Ursache finden.

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Ein weiteres Rätsel immerhin ist soeben gelöst worden.
Seit ca. 10 Jahren schwebt ein trüber Fleck vor meinem rechten Auge, der, wenn mir jemand gegenüber sitzt, ziemlich genau über dessen Gesicht liegt und es ein wenig verschwimmen lässt. Etwas später fiel mir auf, dass ich keine geraden Linien mehr sehen konnte: Im ersten Augenblick sehe ich Bögen. Einen Sekundenbruchteil später „ziehen sie sich grade“, aber das gilt für jede Linie, die ich anschaue auf’s Neue, was sich ziemlich seltsam anfühlt, wenn ich zum Beispiel beim Autofahren auf die Mittellinie schaue. Wupp! Wupp! Wupp!
Nicht, dass ich damit nicht bei diversen Ärzten vorgesprochen hätte …
Die mich stets dem üblichen Sehtest mit schwarzen Blockbuchstaben auf weißem Grund unterzogen haben, um hocherfreut festzustellen, dass ich völlig normal sehe.
Seit ich lesen gelernt habe, verbringe ich weite Teile meiner Zeit mit Lesen: Natürlich erkenne ich Buchstaben! Zur Not an ihrem Umriß …
Stellt man mich dagegen vor ein Supermarktregal, in dem zum Beispiel viele kleine bunte Verpackungen nebeneinander stehen, brauche ich ewig lange, bis ich jede einzelne angeschaut und „gerade gerückt“ habe. Und das muss ich, wenn ich etwas Bestimmtes suche …
Das allerdings interessiert die Ärzte nicht. Stattdessen untersuchen sie unverdrossen ein Problem, das ich erklärtermaßen gar nicht habe. Ich komme mir vor, als ginge ich mit Hämorrhoiden zum Arzt und würde nach einem Blick in meinen Rachen mit dem Hinweis, da sei nichts entzündet, wieder weggeschickt.

Vor einigen Monaten nun habe ich festgestellt, dass ich doppelt sehe. In der Nähe sind es nur sich überlappende Bilder, exponierte Objekte in größerer Entfernung dagegen sehe ich klar (für meine Verhältnisse jedenfalls) abgegrenzt doppelt. Den Mond zum Beispiel, oder einen Raubvogel (wenn sie absolut synchron fliegen, weiß ich, es ist nur einer …).
Ich hab begonnen, ein bisschen herumzuprobieren: mit beiden Augen gucken = zwei Vögel, nur mit links = ein Vogel, nur mit rechts = kein Vogel.
Weniger lustig fand ich den Umstand, dass ich manche Dinge jetzt tatsächlich gar nicht mehr erkenne.
Es fiel mir auf, als ich auf der Suche nach unseren Ziegen war: Ich sah etwas Weißes in ca. 100 Metern Entfernung und war mir sicher, dass es sich dabei nicht um einen Felsen handelte – einfach, weil ich mittlerweile weiß, wo auffällige Felsen zu sehen sind und wo nicht. Aber ob dieses Weiße nun Schaf oder Ziege war, habe ich beim besten Willen nicht erkennen können.
Also wieder einmal zum Augenarzt …, der nach dem üblichen Sehtest und dem üblichen Ergebnis wegen der Doppelbilder zu Augengymnastik rät. Der trübe Fleck interessiert ihn nicht: Mit meinen Augen sei alles okay. Sonst müsse man ein MRT machen.
Mein Hausarzt tippt zunächst auf ein psychosomatisches Phänomen: Es sei womöglich meine Angst, die mir im Supermarkt das Sehen erschwert. Dass ich schlechter sehe, wenn ich Angst oder aber ein depressives Tief habe, ist mir ja auch schon aufgefallen, aber in Supermärkten komme ich mittlerweile erstaunlich gut klar und warum um alles in der Welt sollte ich bei der Suche nach ausgebüxten Ziegen Angst haben?
Ich entscheide mich für ein MRT.
Anscheinend habe ich ja an allen möglichen Ecken und Enden Tumore, warum nicht auch am Sehnerv? Und bisher – toi!toi!toi! – waren alle harmlos.
Als ich anschließend zum CT gebeten werde, um zu klären, ob ich womöglich an einem Aneurisma leide, kriege ich dann aber doch Angst. Das finde ich sehr unheimlich!
Natürlich habe ich mich untersuchen lassen, damit endlich einmal festgestellt wird, was mit meinem Sehvermögen nicht stimmt, aber an etwas potentiell Lebensbedrohliches hatte ich keinen Moment lang gedacht!
Und so denke ich beim Stemmen der nächsten Schieferplatte nicht an meinen Rücken, sondern „was, wenn das jetzt platzt?“ …
Aber zumindest was das betrifft, ist in meinem Oberstübchen alles in Ordnung.

Nächste Station ist die Augenklinik und auch die verlasse ich um ein Haar ohne Befund.
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was die junge Ärztin schließlich stutzen lässt. Womöglich ist es meine vehemente Reaktion als ich, obwohl wie immer mit „Dolmetscher“ unterwegs, zu verstehen meine, dass sie über trübe Partikel im Glaskörper des Auges spricht, die ganz normal seien. GENAU damit hat mich vor 10 Jahren der erste Augenarzt nach Hause geschickt! Und das ist nicht das, was ich sehe!
Sie kommt mit einem Foto, auf dem ein Fleck über dem eigentlichen Motiv liegt …
Ob ich so etwas sehen würde?
JA! Genau so!
Und diese Linien?
Krumm!
Offenbar sind meine Symptome so typisch, dass man mit dem Krückstock dran kloppen kann …
Oder wären es, wenn ich deutlich älter wäre.
Einen weiteren Klinikbesuch und ein fluoreszierendes Kontrastmittel mit sehr lustigen Nebenwirkungen später steht die Diagnose: Fortgeschrittene Makuladegeneration im rechten Auge.
Die gute Nachricht: Es macht nichts, dass es so lange gedauert hat, bis die Diagnose gestellt wurde. Makuladegeneration ist nicht heilbar.
(Wenn sonst niemand blöde Sprüche klopft, muss man es halt selber tun …)
Man kann mit Nahrungsergänzungsmitteln und einer gesunden Lebensführung gegensteuern, aber Stand heute war es das dann auch.
Im linken Auge sind ebenfalls erste Schäden feststellbar, die bemerke ich allerdings selbst noch nicht.
Wenn die Beeinträchtigungen von jetzt auf gleich über mich hereingebrochen wären, würde ich sie vermutlich grauenvoll finden, aber so hatte ich ja über Jahre hinweg Zeit, mich allmählich daran zu gewöhnen. Und eine Erkrankung wird nicht schlimmer, wenn man eine Diagnose hat: Man hatte sie ja vorher schon. Außerdem wird man, auch wenn Makuladegeneration als Altersblindheit bezeichnet wird, nicht wirklich blind: An der Peripherie bleibt das Sehvermögen erhalten, man kann sich also nach wie vor orientieren.
Das linke Auge macht mir allerdings schon Sorgen.
Bisher kann ich mit Brille zwar problemlos lesen, aber ich tue es mit dem linken Auge. Halte ich es zu, sehe ich nur noch ein Gewoge, in dem ich selbst in Großdruck nur mit Mühe einzelne Buchstaben identifizieren kann. Nicht mehr lesen und schreiben zu können, würde mich sehr hart ankommen. Andererseits hat es Jahre gedauert, bis das Sehvermögen rechts so stark nachgelassen hat …
Ich habe also hoffentlich noch ein paar Jahre Zeit.

mysteriös

Als ich zum ersten Mal für einen Blogger Award nominiert worden bin, fand ich das sehr aufregend! Und habe mich tatsächlich geehrt gefühlt, war doch diejenige, die mich nominiert hatte, eine Bloggerkollegin, die ich ebenfalls schätzte.
Dass es sich dabei nicht um einen echten Award (es bleibt ja bei der Nominierung – eine Auszeichnung, für was und von wem auch immer, erhält man nicht) handelt und eine Nominierung durch eine beliebige Einzelperson darüber hinaus … nun ja … ein wenig schwach auf der Brust ist, hat mich nicht allzusehr gestört. Ich hab mich gefreut.
Trotzdem bin ich in aller Regel froh, wenn diese Sorte Kelch an mir vorübergeht: Eigentlich mag ich mich nicht damit beschäftigen, originelle Antworten auf (ebenso bemüht originelle) Fragen zu ersinnen, die – seien wir doch ehrlich – weder mich noch den Fragesteller wirklich interessieren.
Der Umstand, dass man in Bloggergruppen mit ermüdender Regelmäßigkeit „Ich soll für den Schlagmichtot-Award Blogger nominieren, wer von Euch will denn mal?“ liest, hat auch nicht zur Motivation beigetragen: Wer sich für die Inhalte anderer Blogs interessiert und deswegen ab und an welche liest, sollte eine solche Frage gar nicht stellen müssen.

Die Nominierung für den Mystery Award, die ich kürzlich erhalten habe, hat mich dennoch berührt.
Zugegeben, angesichts der Beschreibung
„Der Mystery Blogger Award ist eine Auszeichnung für erstaunliche Blogger*innen mit genialen Beiträgen. Dieser Blog fasziniert nicht nur, er inspiriert und motiviert.“
habe ich mich ein weiteres Mal geehrt gefühlt: Erstaunlich! Nicht nur faszinierend, nein, auch inspirierend und motivierend! Wow …

Vor allem aber ist mir beim Stöbern im Blog von Ut, die mich da nominiert hat, klargeworden, dass ich ihr Ansinnen nicht mit „Danke … aber nein.“ abtun möchte. Vielleicht wegen gewisser Ähnlichkeiten (und damit meine ich nicht nur die Namen der Blogs): Wir leben beide auf einem Bauernhof, schätzen die Gesellschaft der dort lebenden Tiere, lieben Hunde und essen vegetarisch. Und bei dem Stichwort „Cillit BANG“ habe ich breit grinsen müssen.
Ut hört Stimmen. Und erzählt authentisch, aber ganz ohne Larmoyanz von einem Leben in sehr kleinen Schritten. Mir gefällt das sehr.

Also habe ich beschlossen, mir zwar die Fragen zu sparen, wohl aber ein paar Dinge über mich zu erzählen – auch ein paar seltsame. Anstelle einer Liste von Nominierungen möchte ich einige Blogs nennen, die ich regelmäßig lese, weil ich sie erstaunlich und / oder inspirierend finde, oder schlicht Spaß an ihnen habe.

Über mich:

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Ich hasse es, wenn beim Essen mein Besteck nicht zueinander passt: Eine Gabel mit eckigem Griff im Stil der 70er zu einem Messer mit ovalem, womöglich noch mit Ornamenten? Geht gar nicht. Dass der Rest des Geschirres „bei Hofe“ ebenfalls höchstens zufällig mal zusammenpasst, stört mich überhaupt nicht, aber bei meinem Besteck bin ich empfindlich. Aufmerksame TischgenossInnen decken den Tisch entsprechend, oder tauschen gegebenenfalls unauffällig.

Spiegeleier, deren Eigelb beim Servieren ausläuft, kann ich ebenfalls überhaupt nicht leiden. Die verderben mir geradewegs den Spaß am Essen, weswegen auch da im Zweifel getauscht wird. Sowie ich dann das Ei wohlbehalten auf meinem Essen platziert habe, wird als erstes das Eigelb angepiekt, so dass es nach unten sickert. Das muss so!

Ich kann nicht in einem Raum schlafen, in dem eine Schranktür offensteht.

Seit meiner Teenagerzeit habe ich ein großes Faible für Horrorfilme. Als ich im Alter von 14 Jahren in England die Wahl zwischen „Little orphan Annie“ und „Dawn of the dead“ hatte, habe ich keinen Moment überlegen müssen. Wenn es zu arg ist, halte ich mir noch heute die Augen zu.

Wenn ich nicht gerade im Schatten tauche, lebe ich im sonnigen Süden und denke mir vegetarische Rezepte aus. Auch darüber blogge ich.

Über Blogs, die ich besonders mag:

Drogen, ihre Zubereitung sowie Erfahrungen mit dem Konsum derselben sind – von Tee und Bier (Kaffee und Wein scheint Chefredakteur Alice Wunder weniger zu schätzen) jetzt mal abgesehen – eigentlich überhaupt nicht mein Thema. Dennoch bin ich – nach einem kurzen Blick aus schierer Neugierde – treue Leserin der „Drogenpolitik“ geworden. Die Bandbreite der Themen ist sehr viel größer als gedacht und man merkt den Texten an, dass der Verfasser nicht nur schreibt, sondern auch liest. Romane zum Beispiel, ohne gleich Rezensionen verfassen zu wollen. Und weitere Blogs (die mich regelmäßig staunen lassen, auf was für Erfahrungen Menschen sich zum Beispiel einzulassen wagen), welche en passant vorgestellt werden.

Kassandra befasst sich mit Visionen anderer Art: Die Zukunft der Menschheit, wie sie vermutlich aussehen wird, wenn diese ihre bisherige Energie-, Finanz- und Gesellschaftspolitik unverändert beibehält. Das klingt sehr viel trockener, als es sich liest, zumal der Autor offensichtlich Science Fiction Fan ist und seine Texte gern mit Zitaten aus den einschlägigen Klassikern illustriert. Kassandra ist einer der wortgewaltigsten und bilderreichsten Blogs, die ich kenne und das liegt nicht an der Länge der Texte. Ich mag den ironischen bis bissigen Stil und habe meinen Spaß an den Anspielungen – auch wir haben offenbar dieselben Bücher gelesen …

Über Soja Koala bin ich gestolpert, als sie wöchentlich berichtet hat, wie es ist, sich die Haare nicht mehr zu waschen. Das fand ich im ersten Wurf mehr als schräg – Konzepte wie No Poo und NW/SO waren mir zu diesem Zeitpunkt noch völlig fremd. Ansonsten befasst die Autorin sich mit Nachhaltigkeit (und probiert dabei von Menstruationstassen, über handgestrickte Spülschwämme bis hin zu so originellen Erfindungen wie Stofftaschentüchern hemmungslos alles aus, was sich als nützlich erweisen könnte), veganer Küche, einem Leben ohne Pille … all das mit einer Schreibe, die ich einfach herzerfrischend finde.

Vegan & heimatlos ist einer der originellsten Foodblogs, die ich kenne – da ist jemand mit einer Menge Spaß, Kreativität und einem nicht geringen Spieltrieb in der Küche unterwegs. Und Marktfrau Jenny kocht nicht nur, sie erzählt auch Geschichten aus ihrem Alltag. Man meint, den Menschen hinter dem Marktstand / Kochtopf geradewegs persönlich zu kennen.

S.ina schlägt sich nicht nur mit ihrer Pubertät herum, sondern auch mit der Erkenntnis, dass sie Asperger Autistin ist. In ihrem Blog „Plötzlich Autistin“ (schon das Zitat hat mir gefallen!) hält sie ihre Erfahrungen auf Karteikarten fest, was ich so passend wie charmant finde. Ein ambitioniertes und mutiges Projekt! Außerdem hatten wir mal eine sehr lustige Diskussion über Spiegeleier …

Solltet Ihr nun Lust bekommen haben, ein paar seltsame Dinge über Euch zu erzählen, oder andere BloggerInnen wissen zu lassen, dass Ihr sie schätzt: Zögert nicht!

Ich und die anderen

Andy Gage wurde 1965 geboren und nicht lange danach von seinem Stiefvater, einem sehr bösen Menschen namens Horace Rollins, ermordet. Es war kein normaler Mord: die Mißhandlungen und Schändungen, die ihn töteten, waren zwar real, sein Tod aber nicht. Tatsächlich starb nur seine Seele, und als sie starb, zersplitterte sie.“

Ich erinnere mich noch lebhaft, wie „Ich und die anderen“ mich gefunden hat: Ich ging die Treppe zum Untergeschoss meiner bevorzugten Buchhandlung hinab, als ich plötzlich einen schreiend bunten Einband genau in Augenhöhe hatte. Der Autor, Matt Ruff, war mir ein Begriff, hatte ich doch „Fool on the hill“ mit großem Vergnügen gelesen. „Das ist schon … also … ziemlich anders …“, wandte die Buchhändlerin ein, aber für mich war – ohne auch nur den Klappentext gelesen zu haben – klar: meins!

Heute gehört eine Buchhandlung, in der ich stöbern und mich finden lassen kann, vor allem aber eine gutsortierte Leihbücherei, die mir das für kleines Geld ermöglicht, zu den wenigen Dingen, die mir ab und zu fehlen. Und so habe ich – wenn die letzte amazon-Bestellung wieder einmal „leergelesen“ war – begonnen, diejenigen Bücher noch einmal zu lesen, die mir hinreichend lieb und wert waren, sie bis in die Cevennen mitzunehmen.
„Ich und die anderen“ ist eines davon. Und über 10 Jahre nach der ersten Lektüre ist mir klargeworden, dass es für mich eines der liebevollsten Bücher ist, die ich je gelesen habe.

Andrew Gage leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung oder multipler Persönlichkeitsstörung – die Splitter seiner ursprünglichen Seele (Matt Ruff spricht hier von Seelen, nicht von Persönlichkeiten) sind zu eigenständigen Seelen geworden. Aber „Ich und die anderen“ ist nicht die Geschichte eines Leidenden, ihr Protagonist ist nicht gestört. Er mag sich zuweilen gestört fühlen, so wie es Menschen halt ergeht, die in einer – sagen wir: sehr buntgemischten – Wohngemeinschaft leben. Denn in dem, was einmal Andy Gages Kopf war, ist mit Hilfe einer Therapeutin ein Haus entstanden, das sich über hundert Seelen teilen. Die wenigsten von ihnen treten in den Vordergrund und das ist kompliziert genug, wenn sie – nachdem jeder seine private Zeit im Badezimmer hatte – sich zum Beispiel bemühen, bei einem einzigen Frühstück sowohl kaffee- oder aber teetrinkenden Erwachsenen, als auch den Fünfjährigen unter ihnen gerecht zu werden.
Es ist kompliziert, aber es liest sich nicht so. Vielmehr bekommt man den Eindruck einer liebevoll gezeichneten Großfamilie – das dazugehörige gelegentliche Chaos inklusive.

Mouse (eigentlich Penny) dagegen leidet. Sie weiß zum Beispiel, dass sie ihren Job ordentlich macht, aber weder, wie sie ihn bekommen hat, noch, was genau sie dort eigentlich tut. Oder warum sie ihn plötzlich doch verliert. Sie erwacht in fremden Betten und fragt sich nicht, was sie am Vorabend gemacht hat, sondern gleich, wieviele Tage oder womöglich Wochen diesmal vergangen sein mögen, ohne dass sie es mitbekommen hätte. Penny hat keine Ahnung, was mit ihr los ist.
Daher erkennt sie, als sie Andrew begegnet, ihre Gemeinsamkeiten nicht. Einige ihrer Seelen jedoch tun das sehr wohl. Und so sind sie es, die hinter Pennys Rücken ebenfalls Kontakt zu ihm aufnehmen. Zu ihm selbst oder einer der Seelen in seinem Körper.
Mit der beginnenden Freundschaft zwischen den beiden (?) wird die Geschichte zunächst tatsächlich ein wenig unübersichtlich, handelt es sich doch um eine Beziehung zwischen sehr vielen und höchst unterschiedlichen Beteiligten. Die durchaus witzige Blüten treibt, wenn zum Beispiel die freundliche Tante Sam und die aggressive und vulgäre Maledicta ihr gemeinsame Vorliebe für Billardspiele und Kuchenorgien entdecken.
Den Roadtrip und Krimi, zu dem sie sich später entwickelt, hätte ich persönlich nicht unbedingt gebraucht, hatte ich doch allein an der Interaktion der verschiedenen Seelen schon meine helle Freude, aber natürlich benötigen diese ein wenig Bewegungsspielraum.
Leserin und Leser wachsen dabei an ihren Aufgaben: Werden die einzelnen Seelen – wobei es sich durchaus auch um zwei Seelen in einer Brust handeln kann, die sich gerade unterhalten – zunächst durch die Gesprächssituation oder bestimmte Attribute (ein großes Interesse an Dinosauriern zum Beispiel weist darauf hin, dass es der kleine Jake ist, der sich gerade zu Wort meldet) kenntlich gemacht, kommt es später auch zu Dialogen, bei denen man plötzlich merkt, dass man auch ganz ohne Erklärung weiß, mit wem man es gerade zu tun hat. Was anfangs befremdlich gewirkt hat, ist ganz unmerklich zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Es ist diese Selbstverständlichkeit, die mich so für „Ich und die anderen“ einnimmt.
Matt Ruff verschweigt keineswegs, dass es sexuelle Gewalt gegen Kinder ist, die Seelen zersplittern lässt. Und so sind die Schilderungen derjenigen Seelen, die sich immerhin an die Begleitumstände, den Machtmißbrauch, die Hilflosigkeit erinnern können, anrührend und verstörend, selbst wenn sie den sexuellen Übergriff als solchen mit keinem Wort erwähnen.
Wie schmerzhaft die Erkenntnis ist, wie schwierig, eine geeignete Therapeutin / einen geeigneten Therapeuten zu finden, wie grauenvoll, sich zu erinnern … all das findet Erwähnung.
Aber der Fokus liegt im Jetzt. Jetzt ist es so. Jetzt sind sie da, die Seelen. Und müssen einen Weg finden, irgendwie miteinander klarzukommen.
Es geht nicht um Ursprung, Diagnose und Behandlung einer Störung, sondern um einen Haufen sehr unterschiedlicher Leute, die sich unfreiwillig einen Lebensraum teilen und mit so liebevollem Blick gezeichnet sind, dass man nicht einmal die unsympathischen und nervigen unter ihnen wirklich missen möchte.
„Ich und die anderen“ ist auch ein Buch über den liebevollen Umgang mit sich selbst. Eine Geschichte über das Klarkommen.
Schön, dass es mich gefunden hat!

Ich hätt‘ getanzt …

Bei der Lektüre eines Beitrages auf Meine Drogenpolitik hab ich mich erinnert, wann und unter welchen Umständen ich zuletzt getanzt habe …
Eigentlich ging es um bei dem Text um Erfahrungen mit dem Konsum von Ecstasy – ein Thema das mich lediglich in Hinblick darauf interessiert, was Menschen sich alles trauen, mit sich anzustellen. Ich hab ja so schon meine liebe Not damit, mit einer etwas „strubbeligen“ Gehirnchemie klarzukommen …
Aber am Rande ging es eben auch ums Tanzen.

img_8243-q-webIch habe immer wahnsinnig gerne getanzt. Standard und Latein (da steh ich zu: ich liebe Wiener Walzer!), Rock’n‘ Roll, Improvisationstanz, Flamenco und viel viel orientalischer Tanz. Oder einfach abzappeln …
In meinem jetzigen Leben weiß ich gar nicht, wie viele Autostunden die nächste Diskothek weg wäre. Und ob es dort Ü50 Parties gibt. So oder so trifft man Bauern recht selten des nachts beim Abfeiern an …
Vor allem aber würde mich vermutlich schon eine kleine Schlange am Eingang wirksam in die Flucht schlagen. Ich kann Menschenansammlungen nicht gut ertragen. Schon gar nicht in geschlossenen Räumen.
Im Allgemeinen vermiss ich nix. Wenn ich Lust hab, tanz ich in der Küche.

Keine Ahnung, was mich geritten hat, als mir auf dem Plakat für eine Feier im Nachbardorf das Stichwort „Batucada“ ins Auge sprang …
Batucada ist Samba. Die Sorte, bei der ganze Truppen von MusikerInnen und TänzerInnen durch die Straßen ziehen. Wenn eine richtig gute Sambatruppe Vollgas gibt, dann ist das, wie wenn ein großer Chor das tut: Da macht man sich fast in die Hose.

Die Menschenmengen, in die man auf den hiesigen Dorffesten geraten könnte, sind – nun ja – überschaubar … am meisten knubbelt es sich bei den Petanque Turnieren … Dennoch sind solche Veranstaltungen für mich sehr anstrengend. Man wird gesehen, beobachtet, eingeschätzt. Womöglich muss man Smalltalk halten, was ich schon furchtbar finde, wenn ich die Sprache beherrsche. Mein Französisch ist immer noch auf einem Niveau, das Gesprächsversuche schnell versanden lässt – dann hab ich sie zwar hinter mir, aber es ist peinlich. Ich muss schon einen ziemlich guten Tag haben, um mir das anzutun.

Aber ich wollte diese Batucada-Truppe sehen!
Wie sich zeigte, wurde das Musikprogramm von der dörflichen Musikschule organisiert und auch dargeboten und so haben wir zunächst einigen angehenden Gitarristen und Pianisten im Teenager-Alter sowie einem Laienchor gelauscht. Auch die ersehnte Batucada-Truppe hatte deutlich Anfänger-Niveau. Aber Spaß! Und im Finale haben die Leute Gas gegeben, so gut das eben ging! Das reicht, damit die Füße ein Eigenleben entwickeln und man auf den Oberschenkeln trommeln muss.
Und was ich eigentlich erhofft hatte, ist geschehen: Eine kleine Handvoll von Frauen ist aufgestanden und hat getanzt. Keinen brasilianischen Samba, einfach so …
Und ich hab mich einfach so dazugesellt – auf meinem Stuhl hätte man mich anbinden müssen.
Ich kann auch keinen Samba, aber die Bewegungen sind denen des orientalischen Tanzes recht ähnlich, alles ist sehr vertraut. Und der Rhythmus ist zwingend. Man muss nichts tun, einfach nur die Kontrolle vom Kopf an die Füße übergeben.
Es war ein kurzer, aber wunderbarer Moment: Wenn ich tanze, ist alles richtig! Es stört mich nicht, unter Menschen zu sein, auch wenn es vielleicht zu laut und zu voll ist. Ich muss mich nicht bemühen, normal zu wirken, ich bin richtig.

Wenn ich tanze, bin ich ganz und gar bei mir. Kein Grund, vor irgendetwas Angst zu haben.
Vielleicht sollte ich doch häufiger auf Dorffeste gehen …

2ND-PLANET-LEFT

Seit ich mich erinnern kann, ist Lesen mir ebenso sehr Bedürfnis, wie Schreiben.
Und so lese ich, seit ich blogge, die Blogs anderer Menschen …
Einige davon finde ich spannend oder anrührend, manche sind mir regelrecht ans Herz gewachsen – und ich möchte sie Euch vorstellen.
Diesmal:
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Hier war es schon der Name, an dem ich meine helle Freude hatte. Im ersten Moment dachte ich, es ginge darum, dass noch ein zweiter Planet übrig sei und musste mir einen kleinen, übriggebliebenen Planeten vorstellen. Tatsächlich – und auch das gefällt mir sehr – ist er die Antwort auf die Frage „Wo kommst Du eigentlich her?“.
Von diesem Planeten irgendwie nicht … es muss ein anderer sein … womöglich der zwote von links …

Auf dem zweiten Planeten von links geht es um Hochsensibilität, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom) und Asperger. Vor allem wohl um Asperger. Über Autisten hatte ich gelernt, ihnen fehle jegliche Empathie. Hochsensible dagegen besäßen sie im Übermaß. Auf die Idee, dass ein einziger Mensch beides in sich vereinen könnte, wäre ich im Leben nicht gekommen. Den Blick teilen zu dürfen, den ein solcher Mensch auf die Welt hat, finde ich außerordentlich faszinierend!
Auf dem zweiten Planeten von links findet man wenig Erklärung und Ratgebertum, aber viel Alltag – auch das finde ich sehr sehr angenehm!
Und er ist voll von Bildern: Sowohl von fragilen bis verstörenden Zeichnungen, als auch von sehr schönen Makrofotographien.
Ich bin gerne dort.