Den folgenden Text hatte ich lediglich auf meiner Facebook-Seite veröffentlichen wollen, weil er mir zwar ein großes Anliegen ist, aber nicht wirklich etwas mit dem Thema des Blogs zu tun hat.
Dann jedoch bin ich gebeten worden, meine Überlegungen auch außerhalb von Facebook zugänglich zu machen.
Und wer weiß, ob all das tatsächlich ohne Folgen geblieben ist …

Diesen Text habe ich aus ichweißnichtmehrwelchem Grund im Frühjahr 2019 zu schreiben begonnen, ihn dann aber aus dem Auge verloren.
Er ist mir wieder eingefallen, weil neuerdings diskutiert wird, ob #metoo am Ende ist, weil ein einziger Mann vor Gericht Recht bekommen hat.
Ich gebe ihn einfach mal so wieder, wie ich ihn seinerzeit geschrieben habe.
„Ich weiß gar nicht mehr, seit wann ich schon regelmäßig über #metoo stolpere …
Aber ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, was ich dachte, als ich den Hashtag zum ersten Mal gesehen habe:
„Das betrifft mich nicht, ich bin ja nie vergewaltigt worden. Nur ganz normal sexuell belästigt.“.
Es hat tatsächlich einen ganzen Tag gedauert, bis ich selber begriffen habe, was ich da gedacht habe:
„Nur.“
„ganz normal“
„sexuell belästigt“
Da habe ich mich angeschlossen, einfach mit dem Hinweis „metoo“.
Ich fand nicht, dass ich deswegen gleich meine Lebensgeschichte erzählen muss.
Aber vielleicht ist das doch sinnvoll. Um mal ein paar Missverständnisse zu klären.
Ich war neun Jahre alt, als ich mit einer Freundin eine Radtour gemacht habe. Auf einem Feldweg hat uns ein Mann aufgehalten indem er sein Fahrrad vor uns quer stellte. Da drüben im Wald, sagte er, würden zwei was machen (wir hatten nicht recht eine Vorstellung, was eigentlich) und unbedingt sollten wir mitkommen und uns das anschauen! Wir wussten sehr genau, dass wir auf gar keinen Fall mit fremden Männern mitgehen durften, aber was wir in diesem Moment hätten tun können, wussten wir nicht. Wir hatten Glück: Es näherten sich Leute und der Mann ist geflüchtet. Wir auch.
Nachdem ich das daheim erzählt hatte, haben meine Eltern umgehend Anzeige erstattet und wir mussten bei der Polizei eine Aussage machen. Wir waren wohl nicht die einzigen. Danach hatte ich lange Zeit Angst, dass der Mann wiederkommt und mich holt.
Ich war zwölf Jahre alt, als der Stiefvater meiner besten Freundin versucht hat, mich zu küssen und mir seine Zunge in den Mund zu schieben. Es war Karneval, er war betrunken. Ich hab ihm in die Zunge gebissen. Meinen Eltern hab ich nichts davon erzählt, sie hätten womöglich den Kontakt zu meiner Freundin unterbunden.
Ich war vierzehn und pferdeverrückt wie fast alle Mädchen in diesem Alter. Es gab da einen Mann auf dem Reiterhof, der konnte die Finger nicht bei sich behalten. Wir wussten das alle: Geriet man mit dem allein in eine Box, versuchte er, einen zu begrapschen. Dann galt es, schnell zu sein!
Wir waren schnell. Ich habe bis heute keine Ahnung, ob die anderen Erwachsenen davon wussten.
Während der Lehre gab es einen Mitarbeiter, der immer viel zu dicht neben mir saß, wenn er mir etwas erklärte. Der immer nach etwas auf meiner anderen Seite greifen musste und mir damit noch näher rückte. Der, als ich einen Stapel Papier lochen wollte, plötzlich seine Hände auf meine legte, um mir beim Drücken zu helfen. Immer mit einem tiefen Blick in meine Augen.
Darüber habe ich mich damals tatsächlich ganz impulsiv bei unserem Vorgesetzten beschwert und hatte das unfassbare Glück, Gehör zu finden (das war damals ganz sicher nicht generell üblich). Ich musste nie wieder mit diesem Menschen arbeiten. Überflüssig zu sagen, dass diese Beschwerde mein berufliches Fortkommen dennoch nicht gerade erleichtert hat.
Und so weiter und so weiter.
Während des Studiums, als der Handlungsspielraum … sagen wir … etwas größer war, habe ich einmal jemandem Prügel angedroht, falls er mich noch einmal anfassen sollte.
Danach dann, im „Arbeitsleben“, habe ich vieles einfach abperlen lassen. Oder war im Zweifel nicht um eine verbale, aber kernige Antwort verlegen. Diejenigen von Euch, die mich persönlich kennen, wissen das.
Einmal hat mir ein Nachbar sturzbesoffen in den Schritt gegriffen, während mein Ehemann daneben stand.
Bei ersten Mal habe ich nicht reagiert, weil ich viel zu überrascht war: Damit hatte ich nicht gerechnet!
Mit einer verbalen Ansage wäre ich schwerlich zu ihm durchgedrungen, aber in seinem Zustand hätte ich ihn problemlos aus den Schuhen hauen können, obwohl das eigentlich nicht meine Art ist. Ich hab den Selbstverteidigungskurs, den ich immer machen wollte, auch nie in Angriff genommen: Ich weiß nicht, wie man einen Menschen schlägt. Bei ihm hätte wahrscheinlich umschubsen gereicht. Aber seine Ehefrau stand ebenfalls dabei und ich hatte das ungute Gefühl, dass sie es ausbaden würde, wenn ich mich jetzt wehre.
Also habe ich getan, als sei nichts. Es hat ja nicht wehgetan und ich war nicht in Gefahr. Es war nur unfassbar widerlich und entwürdigend. Am meisten vermutlich für seine Frau.
Exkurs
Nur falls das irgendjemand nicht gemerkt haben sollte: Ich lasse hier verbale Übergriffe aus! Und zwar nicht, weil es keine gegeben hätte, sondern weil ich nicht den Ehrgeiz habe, einen Roman zu schreiben!
Nee. Als Opfer hab ich mich nie gesehen. Es war doch „nur“ die „ganz normale“ sexuelle Belästigung! Schon mit neun Jahren habe ich Wege gefunden, mich davor zu schützen – es ist uns ja nichts passiert damals. Ich habe immer Wege gefunden, auch wenn ich dabei beinahe mal einen arglosen Jogger umgenietet hätte, der nachts unverhofft von hinten auf mich zurannte.
Auf die #metoo-Frage „bist Du schon einmal sexuell belästigt worden?“ mit „ja“ zu antworten, macht mich verdammtnochmal! nicht zu einem Opfer!
Opfer geworden bin ich jedes Mal, wenn mir das zugestoßen ist. Weil mir das zugestoßen ist. Wie wenn man Opfer eines Verkehrsunfalles oder einer Naturkatastrophe geworden ist. Das passiert ja auch nicht dann, wenn man es feststellt, sondern dann, wenn es einem passiert!
#Metoo also, weil es mir auch passiert ist. Punkt.
Ich hab nie gefunden, dass DAS mein Leben zu etwas Besonderem macht. Im Gegenteil, das war halt so. Das war normal! Das kannten wir alle. Für ein ganzes Frauenleben war es nicht einmal besonders viel. Traumatisiert oder verletzt hat mich das nicht. Es hat mich auch nicht ängstlich, humorlos, verklemmt, frigide, oder gar männerfeindlich gemacht. Und nein, ich bin auch nicht deswegen Feministin geworden. Die Geschichte erzähle ich vielleicht ein andermal …
Wenn das für mich alles so normal war und mir auch gar nicht geschadet hat, warum reite ich dann so auf dem Thema herum?
Weil es so verdammt allgegenwärtig ist!
Kürzlich las ich eine Geschichte, die das sehr schön illustriert.
Eine Professorin bittet ihre männlichen Studenten, einmal alles zu nennen, was sie in ihrem Alltag tun, um sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen.
Die Studenten gehen gründlich in sich, aber es will ihnen nicht recht etwas einfallen.
Dann bittet sie ihre Studentinnen, das selbe zu tun. Die Hände fliegen hoch:
- „Mein Getränk immer im Auge behalten, damit niemand etwas hineinschütten kann!“
- „Keine Kleidung tragen, die aufreizend wirken könnte!“
- „Keine Unterwäsche tragen, die aufreizend wirken könnte!“
- „Immer nur ganz wenig, oder besser gar keinen Alkohol trinken!“
- „Nachts nicht die U-Bahn, sondern lieber ein Taxi nehmen!“
- „Im Taxi hinten sitzen!“
- „Immer auf den Rücksitz schauen, bevor ich in mein Auto steige!“
- „Immer eine Taschenlampe dabeihaben, damit ich auch im Dunkeln auf den Rücksitz schauen kann!“
- „Beim Joggen keine Kopfhörer tragen!“
Die Liste wird sehr sehr lang.
Und das ist meines Erachtens ein ganz wichtiger Punkt!
Ja, Männer werden ebenfalls diskriminiert! Sie erfahren Gewalt!
Und ja: Auch sexuelle Gewalt!
Und das ist furchtbar und darf nicht sein! Aber es bestimmt offensichtlich nicht ihren Alltag.“
Was mir Stand heute dazu einfällt: Dass mir immer noch etwas dazu einfällt. Das Thema hat nichts an Aktualität verloren.
Ich bin nach wie vor in der glücklichen Lage, nie Opfer brachialer sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Aber ich habe angefangen, über konsensualen Sex nachzudenken. Den es nicht gibt: Sex ohne Konsens ist Vergewaltigung.
Ich denke über den „semi-konsensualen Sex“ nach, den ich gelegentlich hatte.
„Abwägungs-Sex“ sozusagen: Fang ich jetzt ne Diskussion an, dass und warum ich keinen Bock habe, oder hab ich das Elend schneller hinter mir, wenn ich ihn einfach machen lasse?
Gruselig, nicht wahr?
Ich denke über solche Situationen nach, nach denen ich mir Vorwürfe gemacht habe, dass ich „ES“ nicht habe kommen sehen. Nicht etwa dem Mann, von dem der Übergriff ausging.
Für mich waren (und sind) sexualisierte Übergriffe so etwas wie Risiken im Straßenverkehr: Gibt’s! Musste halt aufpassen!
DAS finde ich gruselig!