Mein Freund der Baum

Als die weise Meditierende bei unserem vorerst letzten Treffen zur gemeinsamen Achtsamkeitspraxis ein Experiment vorschlägt, spüre ich, dass einige Angst bekommen, lasse mich aber darauf ein, weil ich andererseits auch neugierig bin und nichts verpassen möchte.
Aglaia ist sofort bei mir – sie wirkt alarmiert.

Aber es beginnt ganz harmlos: Wir sind eingeladen, uns einen Baum vorzustellen. Es kann ein Baum sein, den wir kennen, oder einer, den wir in unserer Phantasie erstehen lassen. Ich muss spontan an die große Steineiche denken, den schönsten Baum des Hofes. Andererseits sind dort die Hunde begraben … ob das eine gute Idee ist? Birken mag ich auch! Vielleicht lieber eine Birke?

Das Bild der Steineiche schiebt sich immer wieder in den Vordergrund. Nun denn … immerhin kann ich diesen Baum deutlich vor mir sehen.

Es ist eine kontemplative Übung, eine Betrachtung.
Wir beginnen damit, die Wurzeln des Baumes zu betrachten, die ihm Halt und Sicherheit geben, aus denen er seine Kraft zieht, und stellen uns die Frage, was unsere eigenen Wurzeln sind.
Unsere Familie vielleicht, oder die Kultur, in der wir aufgewachsen sind.
Über meine familiären Wurzeln möchte ich lieber nicht nachdenken, so viel ist sicher!
Kultur? Seit ich im Ausland lebe, weiß ich, dass ich sehr viel deutscher bin, als ich immer dachte – aber grad ist das auch keine Hilfe.
Steineichen wurzeln tief, denn der Boden, in welchem sie gedeihen, ist karg und trocken. Sonderlich nährend kommt mir das jetzt auch nicht vor.
Mir wird bewusst, dass Traumata den Betroffenen all das nehmen: Das Gefühl, verwurzelt zu sein und Halt zu finden. In Sicherheit zu sein. Kein Wunder, dass ich mit dem Bild nicht klarkomme!
Die Erkenntnis tut weh und Aglaia macht sich bemerkbar: Dunkelheit breitet sich aus und ich bekomme Schmerzen. Ich versichere ihr, dass ich vorsichtig sein werde.
Wenn ich keine Wurzeln habe, dann will ich mich jetzt und hier in diesem Boden verwurzeln, mich mit dem Stück Land verbinden, auf welchem ich im Laufe der letzten Jahre Halt und Sicherheit gefunden habe!

Der Stamm steht für unsere Fähigkeiten, unsere Ressourcen.
Schreiben! Schreiben, gar keine Frage, ist eine meiner wichtigsten Ressourcen! Kreativität überhaupt. Und ich habe Humor. Der hilft – auch wenn er zur Not schwarz ist.
Nun hat so eine alte Steineiche einen ziemlich mächtigen Stamm … vielleicht hätte ich mir lieber einen Schößling ausdenken sollen.

Die Äste sind unsere Visionen und Wünsche.
Die Blätter Menschen, die uns etwas bedeuten, oder bedeutet haben. Die wir, oder die uns geliebt haben.
Und die Früchte Geschenke, die wir erhalten oder gemacht haben.
Ach herrje … was das betrifft hätte ich ein Gewächs vom Format einer Wünschelrute gerade so eben bewältigt.
Dieser prachtvollen Baumkrone mit den silbrig schimmernden Blättern, die im Wind rauschen, aus der es Unmengen von Eicheln regnet, werde ich nicht im Ansatz gerecht.
Mein selbstgewähltes Eremitinnendasein kommt mir plötzlich verarmt und traurig vor.

Die Schmerzen werden immer heftiger und ich erwäge, die Übung abzubrechen.
Andererseits weiß ich aus der Yoga-Praxis, dass solche Abbrüche sehr irritierend wirken können – es ist sinnvoll, sich sowohl für den Ein- als auch für den Ausstieg Zeit zu nehmen.
Also beschließe ich, der Baum zu sein!
Meine Füße sind fest in diesem kargen Boden verwurzelt, meine Wurzeln erstrecken sich durch das ganze Gelände! Mein Stamm ist stark, meine Arme sind erhoben und meine Hände berühren den Himmel! Die Hunde schlafen zu meinen Füßen und ich umspanne den Hof und alle, die ihn bewohnen!

Dieser Kraftakt erschöpft mich ganz und gar und ich warte verzweifelt auf das Ende der Meditation.
Es kommt in Form der Metta-Sätze.
„Echt jetzt? Das AUCH noch?“
Das klingt nach „T“ und ihren despektierlichen Bemerkungen, aber ausnahmsweise verstehe ich sie. Ich kann nicht mehr!
Wir einigen uns darauf, mit halbem Ohr zuzuhören und uns einfach dem Ende der Veranstaltung entgegentreiben zu lassen.

Ich bin zutiefst dankbar für diese Erfahrung: Für die Erfahrung, dass es in der Achtsamkeitspraxis möglich ist, schmerzhafte und verstörende Empfindungen wahrzunehmen und anschließend weiterzugehen.
Wie erschöpft ich bin, merke ich, als ich kurz darauf versuche, eine Treppe hochzusteigen: Mir zittern die Knie.

Turbulenzen

Ich habe damit gerechnet, eines Tages während der Physiotherapie die Fassung zu verlieren, aber als es dann passiert, bin ich dennoch überrascht.
Es gibt da eine Blockade auf Höhe meines Zwerchfelles, die mich daran hindert, frei zu atmen.
Ich glaube, dass der Mann mit den heilenden Händen das schon seit langer Zeit weiß, aber jetzt sieht er offenbar den Moment gekommen, diese zu lösen.
Und es hätte vielleicht auch funktioniert, wenn ich ihn einfach nur hätte machen lassen müssen: Ich kann allen, die das ängstigt, beruhigend zureden und wenn es ganz arg wird, selbst einen Schritt beiseite treten.
Aber ich soll gegen seine Hände einatmen, die auf Brustbein und Bauch liegen, beim Ausatmen ihrem Druck folgen! Ich soll konzentriert dabei sein. Das kann ich nicht!

Die Tränen laufen, ich beginne, nach Luft zu schnappen.
Ich weiß, dass er mir zu helfen versucht, aber das GEHT NICHT!
Ich versuche, mich zu fügen. Ich vertraue ihm, er weiß, was er tut.
Und frage mich im nächsten Moment, was ich hier eigentlich tue: Ich will das nicht!
Ich verfluche meine mangelnden Französischkenntnisse.
Immerhin gelingt es mir, mitzuteilen, dass mir lieber wäre, wenn er sich mit meinen Schultern beschäftigt.

Das tut er und er bleibt freundlich, gelassen und liebevoll. Aber er erklärt mir auch, dass es wichtig ist, diese Blockade zu lösen, und wir es weiter versuchen sollten. Damit hat er sicher Recht.
Dass die weise Yogini jahrelang vergeblich versucht hat, mir die Atemübungen des Pranayama schmackhaft zu machen, die Körper und Geist zusammenführen sollen, kann er ja nicht wissen. Nicht, dass ich mich nicht bemüht hätte, aber es war und blieb eine einzige Quälerei.
Vielleicht funktioniert es so herum – über die Einwirkung auf den Körper – besser, aber ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst haben soll: Vor seinen Bemühungen, oder vor deren Gelingen …

Bei der Achtsamkeitspraxis leitet die weise Meditierende eine Mettā -Meditation an, bei der es um gute Wünsche für sich selbst, aber auch für andere geht.
Die mag ich sehr, deshalb lade ich zu Beginn alle ein, mir dabei Gesellschaft zu leisten.

Aglaia (Aglaia, Achtsamkeit mit Hindern … Aglaia) ist sofort da: links von mir wird es schwarz und ich spüre ihr Gewicht auf meiner Schulter. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Achtsamkeitsübungen mag, oder gekommen ist, um aufzupassen. Vielleicht auch beides.
Zunächst sprechen wir die guten Wünsche für uns selbst aus „Möge ich glücklich und zufrieden sein“ zum Beispiel. Die Vorstellung, glücklich und zufrieden sein zu dürfen, bringt jemanden völlig aus der Fassung: Ich beginne zu weinen. Eine Weile lasse ich einfach die Tränen laufen, dann macht Aglaia sich bemerkbar und obwohl ich bequem liege beginnt mein Nacken zu schmerzen. Links … natürlich …
Das ist, soweit ich sagen kann, eine ihrer Aufgaben: Wenn es zu beängstigend, zu schmerzlich wird, bekämpft sie Feuer mit Feuer und sorgt für körperliche Schmerzen, die mich wirkungsvoll ins Hier und Jetzt zurückholen. Wenn ich genug gesehen habe, ist sie es, die „das Licht ausmacht“.
Aglaia ist eine Beschützerin. Darüber hinaus weiß ich nicht viel über sie.

Die guten Wünsche für einen nahestehenden Menschen richte ich an eine liebe Freundin, der ich von Herzen wünsche, dass sie leicht und unbeschwert durchs Leben gehen, gesund sein möge.

Als nächstes bin ich eingeladen, meine Gedanken auf einen Menschen zu richten, der gerade eine schwere Zeit durchlebt. Als ich das versuche, meldet sich eine leise, aber penetrant sarkastische Stimme, die all das für großen Blödsinn hält. Das klingt nach T.
„T.“ steht zwar für „Täter:innen-Introjekt“, aber tatsächlich bin ich mir nicht sicher, wer oder was sie ist. Sie ist eine Stimme, die ich manchmal laut hören kann. T. steht für Härte gegen sich selbst, findet die Rücksichtnahme auf eigene Bedürfnisse schlicht albern und ist generell der Ansicht, dass ich mich „einfach nur anstelle“. Einmal habe ich in einer Meditation jemanden gesehen, der T. gewesen sein könnte, oder jedenfalls die selben Ansichten vertrat: Alles Blödsinn!
Ich versuche, meinen Blickwinkel zu ändern: Auch T. möchte glücklich und zufrieden sein, sich geborgen fühlen, leicht und unbeschwert durchs Leben gehen, gesund sein!
Das verblüfft sie so sehr, dass sie schweigt.

Zum Ende der Achtsamkeitspraxis suche ich einen Ort auf, an dem ich mich sicher fühle, mich erholen kann. Den safe room aus der Hypnose möchte ich nicht nutzen, also stelle ich mir die Terrasse vor, auf der ich bei gutem Wetter Yoga mache. Ruckzuck liegt der Kater laut schnurrend neben meiner rechten Schulter. Der Hund lässt sich zu meiner Linken nieder. Es ist Major, unser Herdenschutzhund. Oskar, mein verstorbener Seelenhund, findet seinen Platz an meinem rechten Bein. Er schläft tief und fest. Seine Präsenz ist so weiß, wie Aglaias schwarz ist.

Wir sind eingeladen, uns an eine schwierige (nicht zu schwierige) Situation zu erinnern, um sie (und uns selbst) gelassen und ohne Wertung zu betrachten. Dann fragen wir uns, was wir in diesem Moment gebraucht, was wir uns gewünscht hätten.

Ich denke an meine Panikattacke bei der Physiotherapie, komme dann aber nicht recht weiter. Was hätte ich gebraucht? Was hätte geholfen?

Und sehe eine Frau. Sie nähert sich von links, hat in etwa mein Alter, gehört aber einer anderen Generation an: Ihre Haare sind ordentlich gelegt. Kräftig sieht sie aus,resolut, zupackend. Und sie streckt jemandem die Zunge heraus! Die freche Frau trägt eine orchideenfarbene, metallisch funkelnde Steppjacke. Ihr folgen weitere Frauen, die ähnlich gekleidet sind: Es wirkt, als würde sie eine Demonstration anführen.

„Genug gesehen!“ findet Aglaia und breitet eine schwarze Schwinge aus.

Aber ich kann das Funkeln weiterhin sehen: Es legt sich wie eine Decke über mich.

Volles Programm

Der Frühling hat es in sich!

Die weise Hebamme unterstützt mich weiter darin, meine Träume zu interpretieren (siehe: Traumfrau), und es ist nicht ungewöhnlich, dass eine solche Sitzung drei Tage dauert. Jedenfalls für mich: Am Vortag übersetze ich Träume und/oder Überlegungen dazu ins Französische und bekomme erste Angstsymptome. Am Tag X selbst bin ich vor dem Termin aufgeregt bis panisch und danach fix und fertig: Dann muss ich erst einmal ins Bett. Am Tag darauf fühle ich mich, als hätte ich eine Mischung aus Ironwoman und Everest-Besteigung hinter mir.

Die Weise Meditierende (siehe: Drei weise Frauen) bietet einen weiteren Workshop an und ich stelle fest, dass ich diesmal, obwohl der Inhalt sich nicht allzu sehr verändert hat, die Meditation ganz anders erlebe, ganz neue Erkenntnisse daraus ziehe. Überflüssig zu erwähnen, dass ich am Tag nach dem mehrstündigen Auftakt, das Bett gehütet habe …

Meine Yoga-Praxis habe ich, nach einer Phase, in welcher sie mir nicht gut getan hat, auf traumasensibles Yoga umgestellt. Damit bin ich sehr zufrieden!
Obwohl ich seit über sechs Jahren mehr oder weniger stets die selben Übungen gemacht und sie immer als wohltuend und entspannend empfunden hatte, habe ich mich in der letzten Zeit gefühlt, als sei mein Körper anschließend sehr aufgeregt, als stünde ich unter Strom. Angenehm war das nicht!
Die traumasensiblen Übungen sind noch kleinteiliger als die, die ich bisher kannte, wirken wie Vorbereitungen auf das, was mir eh schon wie Yoga für Alte und Gebrechliche vorgekommen war. Und sie tun mir gut!
Die Lektüre des entsprechenden Buches allerdings hat mich an meine Grenzen gebracht – dazu ein andermal mehr.

Last not least lerne ich, mich selbst zu hypnotisieren!
Es war – und damit schließt sich sozusagen der Kreis – die weise Hebamme, die mir den Tip gegeben hat, dass die Schmerzabteilung der nächstgelegenen Universitätsklinik Hypnose anbietet.
An dieser Stelle kann ich – trotz aller Bemühungen um eine positive Weltsicht – ein gewisses Maß an Frust und Verbitterung nicht leugnen: Dass ich unter chronischen Schmerzen leide, ist durchaus keine Neuigkeit und ich hatte in besagter Klinik schon mehr als einen Termin!
Warum um alles in der Welt hat mich vorher niemand an diese Abteilung verwiesen?
Aber sei’s drum: Jetzt jedenfalls habe ich den Fuß in der Tür!

Bleibt nur noch, meine diversen Termine so zu koordinieren, dass ich mich vom letzten halbwegs erholen kann, bevor ich Angst vor dem nächsten bekomme …

Spinne, Rabe, Känguru

Mir schwant nichts Gutes, als am Tag des Online-Workshops zur Einführung in die Arbeit mit inneren Anteilen böiger Wind aufkommt …
Unser Tun und Lassen wird weit über landwirtschaftliche Belange hinaus vom Wetter bestimmt: Bei Gewitter ist stets mit Stromausfällen zu rechnen, bei starkem Wind bläst es uns das Internet weg …
In der Küche ist eingeheizt, Yogamatte und Kuscheldecke einerseits, Papier und Stifte andererseits liegen bereit … und ich komme nicht über die Einleitung hinaus, erfahre gerade eben, was ich erfahren würde, wenn ich denn online bliebe
Das erinnert schon ein bisschen an die Zeiten, als Funksprüche auf die Informationen zwischen all dem „rrrrks“ und „knacks“ abgehört wurden …

Gasthaus“ schnappe ich auf, „Anteile treffen“ … „drei auswählen“ …
Bei angeleiteten Meditationen gibt es immer wieder Pausen des Schweigens – die Meditierenden sollen sich ja auf ein Bild, eine Frage oder dergleichen fokussieren und nicht einfach zugeschwallt werden. Ich versuche, die Länge der Pausen einzuschätzen und spinkse hin und wieder zur Kamera und ihrem Lämpchen:
Grün … grün … aus!
Dann wechsle ich von der Yogamatte auf den Küchenstuhl und versuche, die Götter des Internets gnädig zu stimmen. So kann ich nicht meditieren!

Manchmal bleibt die Verbindung zwar erhalten, aber das Bild friert ein und ich höre nichts. Es gelingt mir, Bröckchen des Theorieteils zu erhaschen. Aber den größten Teil der Zeit sitze ich einfach frustriert und gelangweilt vor dem Rechner.

Einem Teil meiner Anteile bin ich ja schon begegnet … zur Not kann ich sicher drei aussuchen, mit denen ich später arbeiten möchte.
„Nicht ausgerechnet gleich die schwierigsten“ … soviel immerhin habe ich mitbekommen. Aber so oft ich im Hundetraining auch gepredigt habe, dass wir immer vom Leichten zum Schwierigen trainieren: Ich konnte mich noch nie an meine eigenen Ratschläge halten.

„Du bist einfach nur faul und undiszipliniert!“ habe ich unterdessen an anderer Stelle gelernt, ist womöglich die Stimme eines täternahen, täterloyalen Anteils, oder ein sogenanntes Täterintrojekt. Das Wort „Täter“ ist, finde ich, an dieser Stelle missverständlich, weil zumindest ich an „Täter“ im Sinne von „Straftäter“, „Gewalttäter“ denken muss, was so aber gar nicht zwingend gemeint ist. „Täter“ können zum Beispiel auch einfach Elternteile sein, die ihrerseits instabil, nicht zuverlässig ansprechbar und schützend sind. „Auslöser“ oder „Verursacher“ wäre vielleicht passender.
Mein allererster Therapeut hat mir mal erklärt, man spreche in der Therapie nicht von Schuld, sondern von ursächlicher Beteiligung. Irgendwie so …

Ein solcher Anteil wertet nicht, sondern hält dem ursächlich beteiligten Menschen die Treue, beschützt ihn und generiert so Nähe und Sicherheit. Täternahe Anteile verzeihen dem Täter – allerdings nicht aus einer friedfertigen, heilenden Haltung heraus:
(„Ein kleiner Klaps hat noch niemandem geschadet!“ wäre ein ganz typischer Ausspruch eines solchen Anteiles).
Es sind außerordentlich starke Anteile, deren Entstehen dem Überleben dient: Sie sind hart gegen „sich“ selbst und verhindern den Zusammenbruch des Systems, indem sie schwächere, verletzbare Anteile beschützen.

Das Thema windet sich wie ein Aal, so richtig bekomme ich es noch nicht zu fassen* – ähnlich wie bei „Dissoziation“ und „Glaubenssatz“, werde ich wohl einfach warten müssen, bis mein Verstand die Information in einer Form vorfindet, die er für „verdaulich“ hält.
Aber gestolpert bin ich nun einmal darüber und das Detail „hat dem Täter verziehen“ hat mich kurzerhand von den Füßen geholt.

* Eine recht gute Erklärung findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=mhVt3r_7aWc

Im Hier und Jetzt sitze ich immer noch vor dem Rechner. Nichts tut sich.
„Täterintrojekt“ sinniere ich … „TI“ … „T“!
T ist eine von Taras Persönlichkeiten in „Taras Welten“, sie trägt ein „T.“ Tattoo auf dem Po.
Mein Blick fällt auf die bereitgelegten Stifte.
Ich beginne, ein pinkfarbenes T zu zeichnen.
Seit Jahren habe ich nicht zu zeichnen versucht: Durch die Makuladegeneration verschwindet alles, was ich direkt anschaue, hinter einer grauen Fläche und auch mit meiner Feinmotorik steht es grad nicht zum Besten.

Dementsprechend krakelig fällt mein T aus. Trotzdem habe ich Lust, aus dem Punkt ein Herzchen zu machen und das T selbst auch noch mit Lila zu dekorieren.

Mit meiner Angst sollte ich vielleicht auch einmal ein Wörtchen reden …
Es gibt eine Sorte Spinnen, die ich für mich „Eckenspinnen“ nenne, weil sie gern in Ecken sitzen. Sie bestehen fast nur aus Beinen und sind so hauchzart, dass man sie kaum sieht. Erschrecken sie, beginnt der ganze Körper zu beben. Bei Gefahr rennen sie eilig davon.
Beim Staubsaugen achte ich immer sehr darauf, ihnen reichlich Vorsprung zu lassen, damit ich sie nicht versehentlich aufsauge.

Die Eckenspinne gelingt schon besser.

Außerdem, fiel mir auf, weiß ich gar nicht, wer Aglaia eigentlich ist …
Für sie möchte ich einen Raben zeichnen.
Um Raben ranken sich zahlreiche Mythen – sie gelten als Unglücks- oder gar Todesboten, ursprünglich aber auch als Bringer des Lichts.
Der germanische Gott Odin führte stets zwei Raben, Munin und Hugin, mit sich, die er jeden Tag ausschickte, um zu erfahren, was in der Welt Wichtiges geschah.Im Mittelalter galten Raben als Begleiter von Hexen.
Schon als Kind habe ich mir einen zahmen Raben erträumt und der Anblick „unserer Raben“ weckt, wenn sie über dem Hof kreisen, immer mal wieder eine gewisse Begehrlichkeit.
Als ich versuche, einen Raben zu „sehen“ (man kann nicht zeichnen, wovon man keine genaue Vorstellung hat) fällt mir Wilhelm Buschs Hans Huckebein ein, seine Vorliebe für Alkohol und sein unwürdiges Ende …

Zurück zum Bild eines beeindruckenden Rabenvogels!
Leider gelingt mir lediglich eine schwarze Friedenstaube mit großem Schnabel …

Zu meinem Selbst will mir zunächst so gar nichts einfallen, also schreibe ich einfach ein dünnes „Selbst“ auf das entsprechende Blatt.
Wie sich zeigt, habe ich trotz der „Funkstille“ alles richtig gemacht: Wir hätten den Namen oder ein Stichwort für den jeweiligen Anteil auf ein Blatt schreiben sollen, Zeichnungen werden normalerweise später angefertigt.
Die Blätter werden auf dem Fußboden ausgelegt: Auf dem „Selbst“ stehen wir, die Anteile liegen vor uns. Ganz kurz höre ich eine Stimme aus dem OFF, die das extrem albern findet.
In (oder eben auf) unserem Selbst können wir uns verankern: Sollte der Kontakt mit einem der Anteile schwierig werden, können wir zu uns selbst zurückkehren.
Ich stehe stabil, ganz leicht im Knie und erinnere mich an einen Ratschlag, den ich einmal gelesen habe: Stell dir vor, du hättest einen langen, muskulösen Schwanz, mit dem du dich zusätzlich auf dem Boden abstützen kannst.
Und mir wird klar: Ein Känguru!
Das Bild für mein Selbst ist ein Känguru. Und es trägt Boxhandschuhe.

Nun sind wir eingeladen, uns „auf“ den Anteil zu stellen, mit dem wir in Kontakt treten möchten.

Ich hatte mit T beginnen wollen, bekomme aber plötzlich solche Angst, dass ich es sinnvoller finde, mich zuerst auf die Eckenspinne zu stellen. Kaum dort angekommen, beginne ich zu weinen. Es ist ein Weinen, das ich von mir gar nicht kenne: Ich selbst verkrampfe mich dabei, ziehe die Schultern hoch, halte die Luft an – hier weint jemand ganz entspannt.
Und rät mir, einmal zu schauen, ob meine Höhenangst womöglich etwas damit zu tun hat, dass ich nicht „zu hoch hinaus wollen“ darf.

Nach einer Verschnaufpause bei mir selbst, versuche ich, Kontakt zu T aufzunehmen.
Im ersten Moment habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
Dann: Nichts. Keine Reaktion.
Erst als ich zu meinem Selbst zurückkehre, spüre ich einen deutlichen Schub von hinten, als solle ich wieder zu T hin …
Das wird – wenn auch nicht jetzt sofort – mit Sicherheit passieren.
„Vielleicht“, schießt mir durch den Kopf, „freut sie sich für’s Erste einfach, dass ich ihr ein Bild gemalt habe.“.

Nun zu Aglaia.
Ich bekomme sofort heftige Schmerzen in der linken Körperhälfte. Vom Kopf bis zu den Füßen – sogar die Zähne tun weh. Ansonsten schweigt sie.
Der größte Teil der Anleitung zum Umgang mit meinen Anteilen, ist leider an mir vorbeigerauscht – da war was, aber ich erinnere mich nicht …
Nur daran, dass ich meinen Anteilen einen guten Wunsch senden kann.
Aglaia, von der ich glaube, dass mit ihr auch die bleierne Schwere einhergeht, die es mir manchmal unmöglich macht, mich auch nur im Bett aufzusetzen, wünsche ich, dass ihr Flug gelingen möge.

Zauberlehrling

Diesmal beginnt der Achtsamkeitsworkshop mit einer kurzen Übung, die uns helfen soll, erst einmal dort „anzukommen“. Das passt mit gut: Ich hab heute wieder einmal viel Zeit verloren und würde jetzt gerne wirklich dabei sein.
Als das „Ankommen“ allerdings beginnt, mir ungewöhnlich lang vorzukommen, muss ich feststellen, dass ich keineswegs dabei bin. Das Internet hat wieder mal den Löffel rübergereicht …
Also aus der Kuscheldecke pellen, von der Yogamatte aufrappeln, den Küchenstuhl erklimmen und die Technik erneut in Betrieb nehmen.
Auf dieser Übung wird für mich heute der Schwerpunkt des Workshops liegen.

Danach ist eine Meditation geplant, die das, was wir bisher geübt haben, kombiniert … spannende Sache!
Der Satz, den ich mir für Mettā, die liebende Güte, ausgesucht habe, lautet „Mögest Du leicht und freudig durchs Leben gehen!“.
Das innere Bild dazu ist der Moment, wenn ich, nachdem wir Holz gemacht haben, zum Haus zurückgehe: Holz machen wir nur bei gutem Wetter, also scheint die Sonne. Holz machen ist Knochenarbeit: Ich bin rechtschaffen müde, Arme und Rücken tun mir weh. Ich freu mich auf ein kaltes Bier und eine heiße Dusche! Aber zunächst sieht der Hund seinen Moment gekommen! Er hat uns selbstverständlich begleitet, musste aber Abstand halten und warten, bis wir mit der Arbeit fertig waren. Jetzt will er mit mir toben! Dieser riesige, furchteinflößende Hund hüpft fiepsend um mich herum, hascht nach meinen Händen und möchte Fangen spielen. Ich kann nicht anders: Ich muss lachen! Und ganz egal, wie müde ich bin: Natürlich mache ich mit!
Es sind Momente vollkommener Leichtigkeit und Freude.
Ich bin außerordentlich dankbar dafür, dass meine inneren Bilder mir häufig schlicht das Leben zeigen, welches ich sowieso führe …

Um die liebende Güte einem Menschen zu senden, dem ich neutral gegenüberstehe, vergegenwärtige ich mir den Physiotherapeuten des Nachbardorfes. Ich schätze seine Fähigkeiten, finde ihn aber auch sehr sympathisch. Das ist vielleicht nicht so wirklich neutral, aber er kann seit einem Unfall nicht mehr normal gehen und insofern scheint mir mein Wunsch für ihn gut geeignet zu sein.
Als ich jedoch eingeladen bin, mir sein Lächeln vorzustellen, wenn mein Wunsch ihn erreicht, verwandelt er sich in einen Schemen, eine männliche Silhouette, die sich mir bedrohlich nähert.
„Ganz schlechte Idee!“ denke ich noch „Ich hätte keinen Mann wählen dürfen!“ und schiele dann zu meinem Rechner. Ich bin offline …

Nach dieser kurzen Pause versuche ich, bei der Atembetrachtung wieder einzusteigen …
Es wird dunkel und ich habe einen Moment lang Angst, dass die Schwärze wiederkommt. Aber ich fühle mich sicher, kann den Boden unter mir, die Kuscheldecke über mir deutlich spüren.
Ich entscheide, dass die Schwärze sein darf.
Eines der Bilder, die uns zur Meditation vorgeschlagen werden, ist das einer Sonne in unserem Herzen, deren Strahlen wir unseren ganzen Körper erfüllen lassen können.
„Okay!“, denke ich mir, „Dann wollen wir mal Licht ins Dunkel bringen!“.
Es wird tatsächlich heller: Die Dunkelheit ist jetzt eher graubraun, nicht mehr tiefschwarz – so ist das, glaube ich, ganz normal mit geschlossenen Augen.
Ich beginne schemenhafte Gesichter zu sehen. Das ist ein bisschen so, wie wenn man eine Lichtquelle angeschaut hat und dann die Augen schließt: dann sieht man eine Art Negativ. Ich seh in dem Moment halt nicht nur eine Glühbirne, sondern Gesichtszüge. Das passiert mir nicht zum ersten Mal, weswegen es mich nicht weiter wundert oder gar beunruhigt.

Jetzt allerdings sehe ich plötzlich klar, als würde ich Fotos anschauen, deren Farben ein wenig verblichen sind.
Ich sehe einen Mann in einem hellblauen Oberhemd, der auf einem Gartenstuhl sitzt, eine alte Frau in einem gepunkteten Kleid (es scheint mir pinkfarben zu sein, aber kann das sein in ihrem Alter?). Die Farben der Bilder und der Stil der Kleidung lassen mich vermuten, dass diese aus den 60er, 70er Jahren stammen – dabei weiß ich nicht einmal, seit wann es Farbfilme gibt.
Ein Bild zeigt mir ein Mädchen mit großen, traurigen Augen. Frisur und Kleid wirken sehr viel altmodischer und das Bild ist schwarz-weiß – es wirkt fast wie eine Zeichnung.

Die Bilder drehen sich – wie die Figürchen in alten Spieluhren.

Das nächste Bild ist in dunklen Brauntönen gehalten, ein großer, aber nur spärlich beleuchteter Raum. Ich sehe den nackten Rücken eines Mannes, sein Kopf ist gesenkt, aber ich kann erkennen dass er langes Haar hat.
Plötzlich wird mir klar, warum er sich dreht: Er steht nicht auf einem sich drehenden Podest, er hängt! Er ist erhängt worden.

Bevor er sich so weit drehen kann, dass er mir das Gesicht zuwenden würde, beginnt „der Film zu brennen“.
Das hab ich als Teenager mal im Kino erlebt: Mitten auf der Leinwand sieht man plötzlich einen winzigen Punkt, der sich rasend schnell ausbreitet und nur eine weiße Fläche hinterlässt – wer sich noch an Bonanza erinnert, kennt den Effekt.
In meinem Fall breitet sich die Dunkelheit aus – ich sehe nichts mehr.
„Ich habe etwas gesehen, das ich nicht hätte sehen sollen!“, denke ich.
Und beginne zu schluchzen. Versuche, auch das zuzulassen, weiter zu atmen, und spüre, wie mir die Tränen in die Haare laufen.
Grad ist es eine Erleichterung, dass ich schon wieder offline bin.

Eigentlich mag ich den Workshop für heute beenden – andererseits möchte ich nichts verpassen. Und eigentlich fühle ich mich auch schon wieder ganz gut! Ich kann es ja wenigstens mal versuchen …

Jetzt soll es darum gehen, uns mit den Elementen – Erde, Wasser, Luft, Feuer – zu verbinden.
Ich weiß gar nicht, was gerade im OFF war, die Internet-Verbindung oder meine Konzentration, aber ich habe eine vage Idee, was der Plan ist. Und ich tue, was ich kann.
Normalerweise komme ich gut klar mit Bildern, kann mich gut auf Geschichten einlassen …
Und so kann ich wirklich fühlen, wie meine Schultern vom Wasser getragen werden (ich schwimme leidenschaftlich gern!), aber eine krakeelende Stimme, die all das zu einem großen Blödsinn erklärt, ist beim besten Willen nicht zu überhören …
Mit solchem Quatsch kann ich wirklich nichts anfangen!
So kenn ich mich gar nicht …

Ich versuche, mich trotz der Widerworte mit den Elementen zu verbinden.
„Zeitverschwendung!“, höre ich im nächsten Moment. „Da kommt eh nix bei raus, in der Zeit kannst du auch Brotaufstrich machen!“
Und „Ich muss Pipi!“.
Mir bleibt wirklich nichts erspart …
Ich schleiche mich aus dem Meeting und verbinde mich anders als geplant, aber höchst lebensnah mit Wasser und Erde.

In der Abschlussrunde sind wir eingeladen, ein Wort für das Gefühl zu nennen, mit dem wir heute aus dem Workshop gehen. Bei mir sind es zwei und sie benennen gar keine Gefühle, aber sei’s drum: Ich empfinde Hilfsbereitschaft und Schutz.
Meine Anteile sind bereit, mir Dinge zu zeigen, die bislang in der Dunkelheit verborgen waren. Und sie beschützen mich, wenn alles zu viel wird.
Das Internet streicht endgültig die Segel.


Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, wie erschüttert ich bin.
Weder bin ich eingeschlafen, noch habe ich halluziniert – aber was um alles in der Welt habe ich da gesehen?
Es gibt tatsächlich Anteile, las ich, die sich schützend vor oder zwischen andere stellen. In einer Traumatherapie werden sie gebeten, einen Moment lang beiseite zu treten und zu zeigen, was oder wer sich hinter ihnen verbirgt. Aber selbst wenn ich annehme, dass sie mich – als ich Licht ins Dunkel bringen wollte – etwas haben sehen lassen …
Das war ganz sicher keine Erinnerung! Oder jedenfalls nicht meine …

Offenbar habe ich auch solche Anteile, die „was ich anfange, bringe ich auch zu Ende!“ nicht auf ihre Fahnen geschrieben haben, auch wenn ich mein Leben lang auf Gedeih und Verderb danach verfahren bin.
Die fanden, für heute sei genug meditiert.

Das Bild von den Geistern, die ich rief, hab ich ja bereits bemüht und es war gut gewählt, wie mir scheint: Meine Anteile beginnen, sich zu zeigen. Zuweilen kann ich sie fast diskutieren hören:
„Nur weil wir uns beim Meditieren irgendwas eingebildet haben, stellen wir uns jetzt nicht an!“
„Wir haben etwas Schlimmes gesehen und mussten weinen! Wir wollen nicht mehr!“
„Wenn wir uns nicht um den Brotaufstrich kümmern, werden die Zutaten schlecht. Gespült ist auch noch nicht! Das Abendessen muss fertig werden!“
„Mit den Elementen verbinden … Schwachsinn!“
„Ich muss Pipi!“

Überflüssig zu erwähnen, dass ich Angst habe, verrückt zu werden, oder?
Ich mag sie! Ihre Existenz erklärt so vieles, was bisher völlig rätselhaft war!
Und ich kann erkennen, dass sie alles versuchen, um gut für mich und füreinander zu sorgen.
Ich mag sie sehr gerne in meinem /unserem Leben willkommen heißen!

Und habe furchtbare Angst, dass ich mir all das nur einrede. Schön rede.
Mir etwas ausdenke, obwohl ich eigentlich nur … ja was eigentlich? … bin.
Witzig … als ob es wichtig wäre, ob ich die Latten längs oder quer nicht alle am Zaun habe …

Für’s Erste hat mein Körper die Notbremse gezogen.
Schluss mit den Gedankenspielchen: Ich benötige meine volle Konzentration, um nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Nichts fallen zu lassen.
Neulich hab ich mit dem Gedanken gespielt, meinen Anteilen Indianer-Namen zu geben …
Grad hat Laufente Lisbeth das Zepter in der Ha … unter dem Flügel.

Das Gasthaus

Ganz genau genommen gibt es nicht nur die weisen Frauen, sondern auch einen weisen Mann, dessen Buch ich zur Zeit lese (auf dem Klo, wie alles, was Fach- oder schwierige Literatur ist – häppchenweise. Wenn ich damit fertig bin, mag ich mich an eine Rezension wagen).
Gerade lerne ich, dass auch „ganz normale“ Menschen nicht aus einem einzigen „Selbst“ bestehen, sondern aus unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen, die einander ignorieren und durchaus auch die Kooperation verweigern können.
Das hat – wenn man so will – schon der alte Goethe gewusst: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ …

Bei traumatisierten Menschen kann diese Aufteilung in verschiedene Anteile sehr ausgeprägt sein, ohne dass man schon von einer Persönlichkeitsstörung sprechen würde.
Wenn ich das für mich einmal so annehme, werden Phänomene nachvollziehbar, die bislang unerklärlich waren. Warum ich zum Beispiel immer wieder „Zeit verliere“: Ich gehe in die Küche um etwa Nudeln zu kochen und Bolognese-Sauce aufzuwärmen, ein Vorhaben, welches objektiv und großzügig geschätzt maximal 30 Minuten in Anspruch nimmt, bin zwei Stunden später fertig und kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte.
Oder warum mein Blutdruck innerhalb von Sekundenbruchteilen extrem in die Höhe schnellt, als hätte ich eine Panikattacke, obwohl ich ganz entspannt bin und lediglich darüber nachdenke, was ich als nächstes tun möchte.

Ohne Frage verfüge ich über einen Anteil (oder er über mich?), der hochproduktiv ist und ständig Pläne schmiedet, was ich alles rasch mal erledigen, oder wenigstens gelegentlich in Angriff nehmen könnte.
Und einen kreativen, der sich Rezepte sehr viel lieber ausdenkt, als sie zu befolgen, Experimente liebt und sehr gerne bastelt und malt.
Wenn ich mir anschaue, was ich in der Küche so veranstalte, befeuern diese beiden sich vermutlich gegenseitig.

Es gibt aber auch einen, der sich angesichts solcher Pläne schnell verzagt und überfordert fühlt, dem dann alles zu viel ist und der sich wünscht, entlastet zu werden, der über Freiräume zur Erholung verfügen möchte.
Was, wenn es dieser Anteil ist, der Panik bekommt, sobald die anderen beiden sich anschicken, mal wieder Vollgas zu geben und ihn kurzerhand zu überrollen?

Weil mir die Geschichte vom Gasthaus so gut gefallen hat, beschließe ich, mich an einer Meditation zu diesem Thema zu versuchen und anstelle von Gedanken oder Emotionen Persönlichkeitsanteile einzuladen.
Ich vergegenwärtige mir den Schankraum, öffne die Türen … und weiß nicht recht, wie weiter …
„Aglaia?“, frage ich und spüre einen ganz leichten Druck auf meiner linken Schulter. Sie ist da, äußert sich aber nicht.

Wie kann ich meine Anteile einladen?
Der Ruhebedürftige möchte vielleicht ein Sofa … und der Kreative Bastelmaterial?
Ich stelle mir mein Wirtshaus mit Biertischen ergänzt um ein Sofa und eine Art Spielecke vor und stelle fest: Das passt so nicht, wir müssen anbauen!

Das weltbeste Schlafsofa steht im Wohnzimmer eines Hauses, in welchem ich unzählige Male meinen Urlaub verbracht habe und das mir seit vielen Jahren als innerer Ruheraum dient.
Hier wird het Kleintje sich wohlfühlen, denke ich, und habe damit womöglich diesen Anteil als jung, kindlich identifiziert.

Für den kreativen Anteil lasse ich den Bastelkeller meiner Mutter neu erstehen: Einen kleinen, körmeligen Raum, in welchem ich auch selbst viele Stunden verbracht habe. Mit Töpferbedarf, Effektglasuren, Öl- und Seidenmalfarben, Stoffen, Garnen, Perlen, Schmucksteinen, Strickmustern, Heißklebepistolen … was immer das Künstlerinnenherz begehrt!

Eine leichte Berührung am linken Unterschenkel lässt mich plötzlich Oskar als sehr präsent empfinden. Und warum nicht? Er hat für immer einen Platz in meinem Herzen, warum nicht auch in meinem Gasthaus?

Hin und wieder schleichen sich störende Gedanken ein.
Eine große Kommode mit vielen Schubladen und Platz für Schachteln und Schächtelchen macht sich gut im Schankraum! Hier ist Platz für die Gedanken, bis ich Zeit habe, mich ihnen zu widmen.

Wo würde sich mein produktiver Anteil wohlfühlen?
Die Küche in der Tagesklinik fällt mir ein, die hatte zwei Herde! Wenn das nicht produktiv ist, weiß ich auch nicht! Es gab außerdem eine Tür zum Garten und der Werkraum war nicht weit entfernt. Das passt!

Sowieso gefällt mir das Bild von der Tagesklinik!

Das war ein sehr schönes altes Haus, in dem ich eine wirklich gute Zeit verbracht habe.
Ich beschließe, den Schankraum meines Gasthauses durch den dortigen Gemeinschaftsraum zu ersetzen.
Hier können – stelle ich mir vor – meine Anteile einander begegnen und sich austauschen.
Aus dem OFF kommt der Einwand „Du hast den Kritiker vergessen!“.

In der Tat … und im selben Moment sehe ich Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel mit dem erhobenen Zeigefinger vor mir. Und nicht nur das: Ich spüre ihn schmerzhaft in meinem Nacken! Der bekommt das Turmzimmer, von dem aus er auf alle anderen herabschauen kann. Und ein Schreibpult, um ihre Verfehlungen zu notieren.

Zurück im Gemeinschaftsraum stelle ich die Stühle in einem großen Kreis auf. So haben wir das in der Tagesklinik auch regelmäßig gemacht: Eine große Runde, um sich auszutauschen, Kritik loszuwerden und Vorschläge zu machen.
Ich erkläre – zumal ich ja gar nicht weiß, wer alles da ist – dass wir es für heute dabei belassen wollen, einander zur Kenntnis zu nehmen, als urplötzlich eine Frau hereingepoltert kommt. Sie ist Mitte dreißig, korpulent, mit Pagenschnitt und Brille. Und sie motzt lauthals los, was denn dieser Quatsch hier solle!?!
Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung, wer das ist …

Ich vertage die Diskussion über Sinn und Unsinn der Veranstaltung auf das nächste Mal, vergegenwärtige mir den Boden unter meinem Körper, die Kuscheldecke über mir, den bullernden Küchenofen, meinen Atem … und kehre ins Hier und Jetzt zurück.

Später fällt mir auf, dass wir natürlich auch eine Schreibstube brauchen!
Ich hab schon so oft erzählt, dass mein Gehirn Texte formuliert, während ich spazieren gehe oder unter der Dusche stehe. Und dass ich wenig Einfluss auf die Auswahl des Themas habe …
Im Wintergarten, denke ich, mit Blick sowohl nach draußen, als auch nach drinnen.

Womöglich auch einen großen alten Holzschrank, in dem sich Platz für eine Ritterrüstung findet.

Und einen Platz für ein Alien!
Spontan denke ich an Walter Moers‘ schneeweiße Witwe, aber mein Alien ist nur für einen einzigen Menschen betörend schön und auf gar keinen Fall ist es tödlich! Außerdem will ich es ja auch gar nicht einsperren, sondern ihm Raum geben.
Vielleicht im Garten … ich glaube, es mag Blumen pflanzen.

Als ich die nächste Blutdruckspitze spüre, vermute ich, dass dies der ideale Zeitpunkt für einen Moment der Achtsamkeit sein müsste, in welchem ich mich meinem überforderten Anteil liebevoll zuwende. Andererseits stehe ich – schon halb ausgezogen, weil ich duschen möchte – im unbeheizten Badezimmer. Da muss ich gar nicht lange meditieren: Die Mehrheit will, dass jetzt! sofort! das heiße Wasser aufgedreht wird.
Kann ich Momente der Achtsamkeit vertagen?
Ich notiere „Kummerkasten für den Gemeinschaftsraum besorgen“.
Wir werden sehen …

***

Kafkas „Steuermann“ wird, soweit ich weiß, normalerweise anders interpretiert, dennoch hat mich diese Kurzgeschichte schon immer sehr berührt und ist mir anlässlich der Erfahrungen der letzten Tage wieder eingefallen.

Der Steuermann

»Bin ich nicht Steuermann?« rief ich.
»Du?« fragte ein dunkler hoch gewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseiteschieben.
Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriss.
Da aber fasste es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg.
Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: »Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!« Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. »Bin ich der Steuermann?« fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und, als er befehlend sagte: »Stört mich nicht«, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab.
Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?

Franz Kafka

Achtsamkeit mit Hindern … Aglaia

Wir beginnen mit der Geschichte vom Gasthaus, als das wir eingeladen sind, uns unser Dasein vorzustellen: Jeden Tag stehen neue Gäste vor der Tür, die wir einlassen, willkommen heißen und liebevoll bewirten. Diese Gäste können Freude, Momente der Achtsamkeit, aber auch Ärger, Missgunst und unangenehme Erlebnisse sein – wir behandeln alle gleich, lassen niemanden vor der Türe stehen. Denn sie alle wurden aus einem bestimmten Grund aus einer anderen Welt zu uns geschickt.

In der darauf folgenden Meditation haben wir Gelegenheit, diese Form des „Annehmens“ unangenehmer Gedanken und Erfahrungen zu üben – idealerweise zunächst an einem einfachen Beispiel, einem lediglich geringfügigen Ärgernis, oder einem Konflikt, der bereits bereinigt ist, uns aber noch beschäftigt.

Mein Gasthaus stelle ich mit als eine Mischung aus dem Wirtshaus in „Tiger and Dragon“ und der Küche einer Alpe vor, auf der ich selbst gerne zu Gast bin. Und als Übungsobjekt – eingedenk meiner ersten Erfahrung mit einer Meditation über einen schmerzvollen Gedanken – eine kleine Verstimmung, die längst bereinigt ist.
Aber ich liege noch nicht ganz auf meiner Yoga-Matte, da springen auch schon die Schmerzen ein: Aglaia begehrt Einlass!
Nun gut … ich biete ihr gar nicht erst einen Tisch, sondern gleich einen Platz an meiner Seite an. Und spüre im nächsten Moment ihr Gewicht: Von der linken Schulter bis zum Knöchel, als würde jemand auf mir liegen.

Das Gasthaus

Dieses menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht – auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit kommt unverhofft als Besucher.
Begrüße und bewirte sie alle!

Selbst wenn es eine Schar Sorgen ist, die gewaltsam dein Haus seiner Möbel entledigt, selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht reinigt er dich ja für neue Wonnen.
Den dunklen Gedanken der Scham und Bosheit – begegne ihnen lachend an der Tür und lade sie zu dir ein.

Sei dankbar für jeden, der kommt, denn alle sind zu deiner Führung geschickt worden aus einer andern Welt.

Rumi, Sufi-Dichter aus dem 13. Jahrhundert

Anschließend lernen wir Mettā kennen, die liebende Güte – eine Form der Achtsamkeit, die ihre Aufmerksamkeit nicht frei von Wertung, sondern explizit freundlich-wohlwollend auf alles Leben richtet.
Geübt wird – wie immer – vom Einfachen zum Schwierigen:
Im ersten Schritt sind wir eingeladen, Sätze der liebenden Güte an uns selbst zu senden, später dann an nahestehende Personen, an solche, denen wir neutral gegenüberstehen und zu guter Letzt auch an die, die uns Schwierigkeiten bereiten.

Sätze der liebenden Güte können zum Beispiel folgende sein:
Möge ich frei sein von Gefahr.
Möge ich glücklich sein.
Möge ich körperlich gesund sein.
Möge ich leicht durchs Leben gehen.

Ich lerne, dass es keine Rolle spielt, ob ich die „ich“, oder die „du“ Form verwende: Ich kann direkt zu mir selbst sprechen, oder aber mir vorstellen, ich spräche zu einer lieben Freundin. Häufig sind wir im Umgang mit FreundInnen sehr viel nachsichtiger und liebevoller, als mit uns selbst …

Ich spreche mit Aglaia. Und ihr Satz der liebenden Güte scheint mir „mögest du dich geborgen fühlen!“ zu lauten. Aber ich mag nicht einfach Formeln wiederholen! Stattdessen verspreche ich ihr, sie zu halten. Immer. Ich gelobe, sie niemals allein zu lassen!
Nie wieder soll sie sich in der Dunkelheit fürchten müssen.

Zum Abschluss versuchen wir uns an einem wohlwollenden Bodyscan, richten unsere Aufmerksamkeit Schritt für Schritt auf unseren Körper, nehmen wahr und liebevoll an.
Aglaia liegt immer noch schwer auf meiner linken Seite. Den Weg auf die Yoga-Matte hat sie gefunden, aber sie kommt nicht gut mit den Unterbrechungen klar, während derer ich weiter am Workshop teilnehmen möchte.

Schon zu Beginn habe ich mich dabei erwischt, dass ich Aglaia mit den Worten „Komm, Mäuschen, leg dich zu mir!“ eingeladen habe …
„Mäuschen“, „Hase“, „Haselmaus“ … so spreche ich sonst die mir anvertrauten Tiere an.
Jetzt, wo wir so Schritt für Schritt meinen Körper erkunden, mag ich sie weiter ermutigen.
Der Bodyscan erfragt, wie mein Gesicht sich gerade anfühlt … und ich frage Aglaia „Hast du schonmal gelächelt? Komm! Probier mal!“.

Gleichzeitig habe ich furchtbare Angst. Was, wenn nicht Aglaia meinen Körper für sich entdeckt, sondern die Schwärze ihn ganz und gar flutet? Was, wenn alles zu viel ist?

Dennoch lade ich sie weiter ein: „Du musst dich nicht an meiner linken Körperseite festkrallen! Rutsch mal rüber nach rechts!
Dieser Körper ist auch deiner!“
„Guck! Dein Lächeln! Deine Arme! Deine Beine!“ …

Am Ende habe ich Schwierigkeiten, von der Yogamatte zurück auf den Stuhl zu klettern, muss mich dazu an Lehne und Tischkante festhalten. Auch das Gehen fällt mir in der nächsten halben Stunde schwer und zum ersten Mal seit Langem komme ich mir wieder wie Laufente Lisbeth vor.
„Logisch!“ denke ich mir dann: „Sie versucht das ja zum ersten Mal …“

NACHTRAG

Ich habe nicht bedacht, dass Aglaia gewohnt ist, sich in Form von Schmerzen mitzuteilen. Darüber wird noch zu reden sein in meinem Gasthaus …

Drei weise Frauen

Mit Achtsamkeitsübungen habe ich mich vor einigen Jahren schon einmal zu beschäftigen begonnen, mich dann aber mit Yoga – das unterstützend empfohlen wurde – wohler gefühlt. Das mag, obwohl der Yoga-Kurs mir anfangs furchtbare Angst gemacht hat, daran gelegen haben, dass die Anleitung dort nicht von einer CD kam, sondern von der Frau, die nun die Yogini unter „meinen“ weisen Frauen ist. Womöglich war es auch wichtig für mich, zunächst einmal in meinem Körper anzukommen, bevor ich meinem Geist die Zügel schießen lasse.

Als ich nun eingeladen werde, zum Jahresbeginn an einem Workshop zur Achtsamkeits- und Meditationspraxis teilzunehmen, scheint mir der geeignete Zeitpunkt gekommen.

Da der Workshop als Zoom-Konferenz stattfindet und ich die Dozentin seit vielen Jahren kenne, darf er, beschließe ich, als „im richtigen Leben“ gelten. Außerdem finde ich das Bild von den drei weisen Frauen unwiderstehlich.

Zum Auftakt machen wir eine kleine Phantasie-Reise, die mir sehr leichtfüßig und idyllisch erscheint bis ich einen Blick nach innen werfe und „die schwarze Säule“ sehe – einen tief-, ja lackschwarzen Streifen entlang meiner Wirbelsäule, ungefähr halb so breit, wie mein Brustkorb. Das passiert mir nicht zum ersten Mal und so bin ich zwar unangenehm überrascht, werde aber nicht panisch. Während der nächsten Etappe der Reise geht es um’s Loslassen, geschehen lassen und ich stelle mir vor, wie die Schwärze ohne mein Zutun von mir weicht. Das funktioniert recht gut.

Bei der anschließenden Feedback-Runde allerdings verliere ich die Fassung und beginne zu weinen.
Ich weiß, dass meine Reaktion nicht ungewöhnlich ist und mir nicht peinlich sein muss, aber ich möcht leiden, ich würde mal zu denjenigen gehören, die in solchen Momenten lächelnd darüber sprechen können, wie angenehm die Übung für sie war.
Stattdessen business as usual: Alle ganz entspannt im Hier und Jetzt – eine weint.

Als wir zu Beginn der zweiten Stunde eingeladen sind, zu berichten, wie es uns ergangen ist, kratze ich all meinen Mut zusammen und erzähle, dass ich mir blöd vorgekommen bin, weil ich geweint habe (oder eher, weil ich wieder einmal anders war), dann aber entschieden habe, dass das sein darf. Dass ich so sein darf.
Ein kleiner Schritt für die Menschheit, eine Mondlandung für mich.

Zunächst meditieren wir über die Frage, welche Qualitäten wir mit Hilfe der Achtsamkeitspraxis in unser Leben einladen möchten. Ich habe mir im Laufe der Woche eine Menge Gedanken darüber gemacht, welche Intention ich habe, was ich erreichen möchte. Was ich mir wünsche habe ich noch gar nicht bedacht …
Als die weise Meditierende vorschlägt, „Freude“ könne eine solche Qualität sein, denke ich mir „Freude! Ja klar! Nehmen wir doch Freude!“.
Ein Gefühl von Leichtigkeit stellt sich ein, ich spüre, dass ich zu lächeln beginne, und vor meinem inneren Auge sehe ich die Ponies, wie sie in der Sonne mit mir und dem Hund zum Haus laufen, um dort ihre Pony-Kekse in Empfang zu nehmen.
Stimmt … es gibt schon Freude in meinem Leben!

Rücklings auf meiner Yogamatte liegend beobachte ich bei einer weiteren Übung meinen Atem, als ich urplötzlich höllische Schmerzen bekomme. Meine linke Schulter steckt in einem Schraubstock und der Schmerz zieht sich bis zum Knöchel, auf dem überdies jemand zu sitzen scheint. Die Nackenmuskulatur wird knallhart, sogar mein Gesicht tut weh.

Kurz vorher haben wir gelernt, dass wir „störende“ Gedanken während der Übungen „etikettieren“ können: Sie kurz wahrnehmen und dann sozusagen in einer Schublade ablegen, um uns später damit zu befassen, weil wir in diesem Moment ja mit etwas anderem beschäftigt sind.
Die Idee gefällt mir sehr – wie ich störende Gedanken einfach „vorüber ziehen“ lassen soll, war mir immer rätselhaft.

Ob das wohl auch gegen störende Schmerzen hilft?
Im ersten Wurf etikettiere ich mit „Trauma“, stutze dann jedoch: Wozu hat das Kind einen Namen?
Stattdessen begrüße ich Aglaia und lade sie ein, sich zu mir zu legen.

Am Ende der Übung, bei dem wir spontane Bewegungen machen, die uns gerade gut tun, umarme ich mich. Uns. Die Schmerzen sind weg.

To be continued …

Was bisher geschah:

Weise Frauen

Achtsamkeit:
Jetzt ist jetzt
Wellness mit Schattenseiten
Übungssache

Das Yoga Projekt:
I: Kismet
II: Yoga, Gulasch und Fledermäuse
III: Energie und Liebe
IV: Die schwarze Säule
V: Wagnis Workshop

Aglaia

Positive vibes only!

Ganz ehrlich?
Ich finde Menschen, die stets und ständig alles positiv sehen, in allererster Linie nervig!
Und ihre Haltung nicht ganz ungefährlich:
An einem Missstand, der nicht klipp und klar als solcher benannt wird, wird sich schwerlich etwas ändern.
Und – let’s face it! – manchmal ist das Leben hart aber ungerecht.
Nützt nix, sich das dann schönreden zu wollen.

Aber ich könnte ja auch klein anfangen und jeden Tag für etwas dankbar sein, für eine Kleinigkeit halt … obwohl Dankbarkeit für mein Gefühl ein ziemlich großes Wort ist.
Den Gegenstand meiner Dankbarkeit auf einen Zettel schreiben, die Zettel in einem Glas sammeln und dann, wenn’s mir mal richtig dreckig geht … Ihr wisst schon …

Und hej, ich hab das versucht!
Ich bin total dankbar für jeden Tag, an dem die Schmerzen auszuhalten sind!
Ich bin dankbar, wenn ich normal gehen kann – womöglich sogar zügig!
Ich bin dankbar für jedes Bisschen Normalität!
Nur wenn ich mir dann die Zettel in meinem Glas vorstelle, dann finde ich das … nun ja … langweilig …
Zumal ich ja mitbekomme, was für eine großartige „OMG was mir heute wieder Wunderbares passiert ist!“ Challenge man daraus machen kann, wenn man denn meint …

Nee. Das ist nicht meins.

Stattdessen hab ich sozusagen aus Versehen angefangen, „positiv zu sehen“ …
Ein Kommentar zum „Schweigen der Taucherin“ lautete „Schreib: wie lebst du?“.
Und so habe ich – wenn auch an ganz anderer Stelle – begonnen, Geschichten aus meinem Alltag auf einem Bauernhof zu erzählen. Weil es mir seinerzeit – zu Beginn der Pandemie – ein Anliegen war, ein Gegengewicht zu all den beunruhigenden, verstörenden Nachrichten zu schaffen, die mich erreichten.
Ich hatte bemerkt, wie gut es mir getan hat, die Berichte anderer Menschen zu verfolgen … von ihren Bemühungen, Sauerteig heranzuzüchten, zum Beispiel, oder Hefe, von ihren Schafen, ihren Blumen …

Also habe ich angefangen, vor meiner Nase nach Dingen Ausschau zu halten, die erzählenswert waren: Originell, erfolgreich, Glück im Unglück, trotz allem witzig, immerhin grandios gescheitert …
Und ich hab meinen Ehrgeiz darein gesetzt, sie so zu erzählen, dass das Lesen Freude machte.
Überflüssig zu erwähnen, dass das Leben auf dem Land nicht immer eitel Sonnenschein ist. Aber es gibt sie, die Momente, in denen kurz mal das Herz aufgeht! Es gibt sie auch.

Mein Blick ist aufmerksamer, aber auch liebevoller geworden: Ausgebüxte Ponies zum Hof zurückzubringen, ist ein zeitraubender Latsch, oder aber ein kontemplativer Spaziergang. Und was für ein Luxus, gemütlich mit ihnen dahinzuzuckeln und zuzuschauen, mit welch heiligem Ernst Pferde sich wälzen und an Bäumen schubbern können!
Jawohl, für diesen Luxus werde ich büßen: es bleibt ja Arbeit liegen, während ich so durch die Gegend schlendere … die werde ich nachholen müssen. Aber in diesem Moment ist die Welt einfach in Ordnung!

„Et kütt wie et kütt“ wie es das rheinische Grundgesetz so weise formuliert, ob ich aber diesen Moment genieße, oder mich schon vorab über den Stress gräme, den er nach sich ziehen wird, ist meine Entscheidung.

Ich bin am Ende des Tages nicht dankbar dafür, dass ich auch heute wieder die Ponies einsammeln durfte (das wär nun wirklich zuviel verlangt!), aber ich kann auf einen schönen Moment zurückblicken.

Und tatsächlich scheint ein solcher Blick mit der Zeit zur Gewohnheit zu werden.
Neulich hörte ich, dass wir uns mindestens 30 Sekunden lang mit einer Sache beschäftigen müssen, damit sie in unserem Gedächtnis gespeichert wird.
Das erklärt einiges, finde ich!
Horizont – traumhafter Himmel, Ponyschnute – samtweich, Hundeblick – herzzerreißend, Kater spielt in der Sonne – entzückend, Sonne auf der Haut – brennt angenehm … und PUFF! … weg!

Mit Dingen, die mich ärgern, beschäftige ich mich sehr viel länger.
Kein Wunder, dass, wenn die Gedanken schweifen, Erinnerungen auftauchen, so viele kränkende und verletzende dabei sind!
Seit ich das verstanden habe, versuche ich, mir die 30 Sekunden Zeit einfach zu nehmen.
Es sind nur! 30! Sekunden!
Und ich spar mir das Papier für die Zettel.


Mit der Zeit bin ich grundsätzlich zufriedener geworden, kann ungute Gefühle etwas besser gehen lassen und bin – damit hatte ich nicht gerechnet – nachsichtiger mit mir selbst.
Klar … was bei mir Tagewerk ist, erledigen andere nebenbei in ihrer Freizeit, aber ich habe ein Tagewerk! Ich wache morgens auf und habe Lust, Dinge zu tun.
Essig ansetzen, Senf herstellen, die erste Tarte tatin meines Lebens backen …
Hin und wieder habe ich mehr Ideen, als ich umsetzen kann, verzettele mich heillos und richte ein großes Chaos in der Küche an.
Ich seh das positiv: mit der zähen Antriebslosigkeit und dem niederschmetternden Eindruck, nichts habe irgendeinen Sinn, die mit Depression einhergehen, hat dieses Tohuwabohu nun gar keine Ähnlichkeit.

***

Den kompletten Kommentar zum Schweigen der Taucherin, für den ich gann uma tatsächlich dankbar bin, möchte ich Euch nicht vorenthalten:

Schreib:
wer bist du?
was willst du?
wie lebst du?
Krankheiten? Einschränkungen? bestimmen dich nicht.

gann uma

Drei Jahre Schattentaucherin: Kurswechsel

Fünf Jahre ist es nun her, dass ich – nach über zehn Jahren mit Psychopharmaka und therapeutischer Unterstützung – begonnen habe, mich zu fragen, ob es richtig sein könne, immer weiter mich für das Leben „passend machen“ zu wollen, oder ob es nicht vielmehr an der Zeit sei, mein Leben an mich, meine Bedürfnisse und meine Möglichkeiten anzupassen.
In der Verfassung, tatsächlich aktiv zu werden, mein Leben neu zu gestalten, war ich damals freilich nicht. Ich hatte schlicht Glück: Ohne dass ich danach gesucht hätte, fand sich ein Platz für mich, an dem ich ein anderes Leben ausprobieren konnte. Mir blieb nur, mich auf den Weg zu machen und das fand ich schwierig und schmerzhaft genug.

Seit vier Jahren lebe ich auf einem Bauernhof in den Cevennen, einer nur spärlich besiedelten Gegend im Süden Frankreichs, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Hügelig sind die Cevennen. Und grün. Aber karg, felsig und unwirtlich ebenso. Eine Gegend, in der schon früher Menschen Schutz gesucht haben.
Der Hof ist einsam gelegen, Nachbarn gibt es nicht. Meist ist es so ruhig, dass einem die Stille in den Ohren klingt. Soweit es mir möglich war, hab ich mich an der Hofarbeit beteiligt. Die Strukturen, die das Leben auf dem Land kurzerhand „setzt“, haben mir gutgetan, ebenso wie die Fürsorge für unsere Tiere. Nicht zu vergessen: Die Hofküche! Die ist mir Arbeitsplatz, Ergotherapie und Kreativlabor in einem!
Wer nun aber meint, dass damit, hopp!, mein Leben in Ordnung war, den muss ich enttäuschen. Ich war dieselbe, wie vorher: Immer noch depressiv, immer noch gelegentlich von Panikattacken heimgesucht. Aber immerhin: Eigenständig unterwegs, ohne medikamentöse Unterstützung.

Vor drei Jahren nun, habe ich mich entschieden, mich als Mensch mit einer psychischen Erkrankung zu outen und vom weiteren Verlauf meines Weges zu berichten: Die Schattentaucherin war geboren.

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Während der ersten beiden Jahre auf dem Hof war ich vollauf damit beschäftigt, den Kopf über Wasser zu halten: Am Leben teilzunehmen sofern möglich, Tiefs und Rückschläge durchzustehen, auf baldige Besserung zu hoffen und irgendwann auch zu vertrauen. Bis heute fällt es mir schwer zu unterscheiden, ob es tatsächlich meine Lebenssituation ist, die unerträglich scheint, oder „nur“ die Depression mir wieder einmal einflüstert, dass alles sinnlos sei. „Wenn’s nach zwei, drei Tagen wieder okay ist, war’s nur die Depresse!“, aber das weiß ich dann: An Tag eins möchte ich sterben. Immerhin war irgendwann nur noch von Tagen die Rede – nicht mehr von Wochen und Monaten. Und ganz allmählich hat sich Vertrauen entwickelt: Darauf, dass heute halt mal ein schlechter Tag ist. Mit der Betonung auf „heute“ und „mal“ …

Erst dann war Platz für die Idee, es könne noch „Luft nach oben“ geben und ich aktiv etwas dafür tun, mein Befinden weiter zu stabilisieren. Angefangen habe ich ganz klein: Mit Achtsamkeitsübungen, die ich morgens im Bett absolvieren konnte. Ein Yogakurs, der wundersamerweise just in dem Moment im Dorf angeboten wurde, als ich soeben erfahren hatte, dass Yoga meine Achtsamkeitsbemühungen wirksam unterstützen könne, dagegen, schien mir ein außerordentlich ehrgeiziges Projekt zu sein. Es dennoch in Angriff zu nehmen, hat mich eine Menge Mut und Zähigkeit gekostet – aber es hat sich gelohnt!

Heute denke ich, dass – obwohl auch CBD durchaus hilfreich ist – es vor allem anderen die Yoga-Übungen sind, die mir gut tun. Es hat, zugegeben, eine Weile gedauert – aber es ist ja auch wichtig, auszuprobieren, ob ein Fehler reproduzierbar ist – bis ich eingesehen habe, dass Rückfälle bevorzugt mit dem Ende der Schulferien einhergingen, also immer dann eintraten, wenn das Yoga-Training ein paar Wochen lang ausgefallen war. Seitdem suche ich regelmäßig meine Matte auf.

Im Großen und Ganzen ist meine Stimmung (der Franzose spricht hier drolligerweise von „humeur“) stabil. Wenn ich arg gestresst bin, habe ich hin und wieder immer noch Panikschübe, aber – ganz ehrlich? – das sind Fürze im Orkan. Unangenehm, ja, peinlich auch – aber nicht wirklich ein Problem. Das Weinen bin ich nicht losgeworden: Wenn mich etwas berührt – ganz egal, in welcher Weise – weine ich. Zuweilen weine ich sogar dann, wenn mich etwas zum Lachen bringt. Das finde ich befremdlich und durchaus auch hinderlich. Aber es gibt ganz sicher Schlimmeres.

Viel wichtiger finde ich, dass ich kürzlich ganz allein im großen Supermarkt in der Stadt war!
Okay, es war kein großer Einkauf, aber ich bin da einfach reinmarschiert und hab erst hinterher begriffen, dass da eine Premiere stattgefunden hatte. Das erste Mal seit 5 Jahren und ich hab nicht einmal darüber nachgedacht!

Demnach könnte die Tauchfahrt jetzt und hier enden: Es hat geklappt. Ich habe eine Lebensweise für mich gefunden, bei der es zum Thema Depression nur noch selten etwas zu berichten gibt.
Stattdessen ist ein Schatten ganz anderer Art auf mein Leben gefallen.
Eine chronische Erkrankung des Körpers, das zumindest steht momentan zu befürchten, die mich mindestens ebenso wirksam daran hindert, am Leben teilzunehmen.
Früher habe ich hin und wieder geflachst, ein Vorteil an Depressionen sei, dass sie immerhin nicht weh täten … Das jetzt tut weh. Unter anderem.
Und derzeit scheint es, als hätte ich noch einen langen Weg vor mir: Bislang gibt es keine brauchbare Diagnose, eine Behandlung, die über ein Stochern im Nebel hinausgeht, ist nicht in Sicht. Das ist beängstigend, empörend, frustrierend und – ooops! – deprimierend. Dafür ist mein humeur nach wie vor erfreulich stabil!

Die Taucherin war mir eine gute Begleiterin auf dem Weg aus der Depression. Sie soll mich auch auf dem Weg durch diesen Schatten begleiten.