Shaolin

Als ich ein Kind war, wurde am Samstagnachmittag, wenn nicht „Daktari“ oder „Tarzan“, „Kung Fu“ geguckt – und am Sonntag waren wir dann alle Caine, der tapfere Shaolin-Mönch …
Ich vermute, das Einhorn hat dann auch vor dem Fernseher gesessen – zu meinem Text vom Atmen und vom Weinen bemerkt es jedenfalls folgendes:
„Ich behaupte, das Problem liegt darin, daß wir das Kind immer nur innen lassen sollen. Als Kind hätte ich mir pragmatisch im Wald einen ordentlichen Knüppel gesucht und Shaolin-Mönchsmäßig auf irgendwelche Bäume eingeprügelt. Was ich tatsächlich getan habe als Kind. Das Kind mal nicht innen lassen. Wie immer es heißen mag.“
Ich habe nie auf Bäume eingeprügelt. Caine übrigens auch nicht. Der hat, wenn es gar nicht anders ging (aber es ging nie anders!), die Bösen verdroschen und dem Guten zum Sieg verholfen.
Aber ich verstehe den Gedanken: Es ist sicher besser, Wut, Enttäuschung, Frustration rauszulassen, als mit der Zeit daran zu ersticken. Und wenn dabei nur ein paar Stöcke zu Bruch gehen und Rindenstücke durch die Gegend fliegen, dann scheint mir das grundsätzlich kein schlechter Weg zu sein.
Ich selbst kann mich überhaupt nicht erinnern, als Kind Wutanfälle gehabt zu haben.
Sehr wohl aber daran, dass es meinen Eltern (vor allem meinem Vater, glaube ich) außerordentlich wichtig war, Konflikte ruhig und sachlich zu klären. Im Gespräch. Für kindliches Schreien, mit dem Fuß aufstampfen, oder eben mit Stöcken auf Bäume einprügeln war da vielleicht einfach kein Platz.
Und heute würde es nicht mehr reichen. Wenn mich heute eine Wut überrollt, die womöglich seit Kindertagen darauf gewartet hat, endlich auf etwas einschlagen zu dürfen, dann sind Stöcke und Bäume (sorry!) Kinderkram. Dann will etwas in mir will ich, dass Dinge kaputtgehen, dass es weh tut. Das ist sinnlos und destruktiv und soll (will) es auch sein!

Deswegen hilft zum Beispiel „Holz hacken“ überhaupt nicht (oder mit der Spitzhacke arbeiten): Die körperliche Anstregung tut gut und ja, es macht Spaß, etwas kurz und klein zu schlagen. Ich hacke ausgesprochen gerne Holz! Aber es ist einfach zu konstruktiv, kommt doch etwas Brauchbares, ja Notwendiges dabei heraus …
Und natürlich sollte man seine Finger von der Axt lassen, wenn man nicht gelassen und konzentriert mit ihr zu arbeiten in der Lage ist: Bei aller Zerstörungswut will ich das Ding nicht in meinem Schienbein stecken haben!

In der für mich beeindruckendsten Folge von „Kung Fu“ (jedenfalls ist es die einzige, an die ich mich tatsächlich erinnere) ging es übrigens nicht um Kampfkunst, sondern um den Umgang mit der eigenen Angst: Caine soll in seinem Kloster auf einem schmalen Balken über ein Becken balancieren, das mit Säure gefüllt ist. Auf dessen Boden sieht man die Skelette derer, denen dies mißlungen ist. An sich ist die Aufgabe nicht schwer: Es sind nur wenige Schritte und der Balken bietet genug Platz. Dennoch stürzt er prompt. Und stellt fest, dass es sich bei der vermeintlichen Säure um klares Wasser handelt und die Skelette lediglich Bilder sind, mit weißer Farbe auf schwarze Tücher gemalt, die sein Meister nun milde lächelnd aus dem Wasser zieht. Es war einzig und allein seine Angst, die ihn hat stürzen lassen; die Angst vor einer Gefahr, die lediglich in seiner Vorstellung existierte.
Möglicherweise war ich zu jung, um hieraus eine Erkenntnis zu destillieren, die mich durch mein weiteres Leben zu leiten vermocht hätte. Oder aber die Weisheit der Mönche läßt sich via Fernsehserie dann doch nicht so richtig einprägsam vermitteln. Vielleicht ist genau das aber auch typisch für Angsterkrankungen: Da können noch so viele Mönche bemalte Laken aus klarem Wasser ziehen – für mich bleibt das Säure und ich gerate immer wieder aus dem Gleichgewicht.

Alice Wunder greift den Gedanken des Einhorns auf und fragt
„Warum nicht den Shaolinweg gehen und bewußt die Auseinandersetzung suchen? Die friedvolle, entspannende Meditation scheint ja da an Grenzen zu stoßen, wo die überflutenden dunklen Gedanken als Störung und Fehler wahrgenommen werden. Also warum nicht direkt Kampfkunst, wo die vermutete Angstquelle, das böse, von Beginn an Teil des Systems ist. Da heißt es dann: Selbstverständlich ist die dunkle Gasse bedrohlich und du hast allen Grund mit verkrampften Schultern und krummem Rücken rumzulaufen. Aber wenn du übst, deine Muskeln zu entspannen, kann der gelockerte Körper allem, was da kommen mag, einfach schneller auf die Nase hauen. Und Entspanntheit ist Mittel, damit man die Gefahren besser wahrnimmt. Je nach Vorliebe reichen da die möglichkeiten von engumschlungenem Ringen bis zu freistehenden Schwertübungen ohne jeden Körperkontakt.“

two-on-a-phacelie-q-webEin „Selbstverteidigungskurs!“ hat, als ich noch eine junge Frau war, immer ganz weit oben auf meiner to-do-Liste gestanden – nur gemacht habe ich ihn nie. Dennoch habe ich gelernt, mich zu schützen. Mich nicht wie ein Opfer zu bewegen, zum Beispiel: Mich eben nicht gekrümmt an der Hauswand entlangzudrücken, sondern aufrecht mitten auf dem Bürgersteig zu schreiten. Wenn es mir wirklich unheimlich war, habe ich meinen Schlüsselbund in die Faust genommen, so dass zwischen zwei Fingern jeweils ein Schlüssel hervorstak. Ich kann mich an eine Situation erinnern, wo – bis ich mit dem Arrangieren meiner Schlüssel denn mal fertig war – der entgegenkommende Mann, der mich beunruhigt hatte, die Straßenseite gewechselt hatte …
Statistisch sind, sofern man nicht in einer ganz üblen Gegend unterwegs ist, die dunklen Gassen eh viel weniger gefährlich, als sie erscheinen mögen, dennoch ist die Angst, überfallen zu werden, eine rationale.
Das Nervige an Angsterkrankungen ist eher, dass die Ängste nicht nur irrational sind, sondern man das zu allem Überfluss auch noch weiß … es nützt nur nichts … Selbstverständlich habe ich keine Angst davor, dass ab einer Anzahl von x Menschen in einem geschlossenen Raum diese plötzlich über mich herfallen werden. Ich empfinde in solchen Momenten überhaupt keine Angst. Ich verspüre Paniksymptome und wenn sie zu heftig werden, muss ich raus. Schnell. Deswegen wäre das Bewußtsein, mich im Fall der Fälle wehren zu können, zumindest für mich auch keine Hilfe.
Eher kann ich mir vorstellen, dass das sehr bewusste und konzentrierte körperliche Agieren sich positiv auf die seelische Verfassung auswirkt. In diesem Punkt allerdings ist mir persönlich Yoga lieber, weil es ohne Gegner auskommt.
Aber vielleicht liest jemand mit, der das mal ausprobiert hat und davon berichten mag …?

Hin und wieder habe ich die Auseinandersetzung durchaus gesucht.
Als mir vor einigen Jahren eher zufällig ein Flugblatt in die Hände fiel, das Kletterkurse unter anderem mit dem Argument bewarb, diese würden gegen Höhenangst helfen, habe ich mich kurzerhand zu einem solchen Kurs angemeldet. Und hab schon Schnappatmung bekommen, als mir im Vorgespräch klarwurde, dass geplant war, eine 25 Meter hohe Wand zu erklettern – ich hatte mir so 5 Meter vorgestellt …
Des weiteren hatte ich nicht bedacht, dass es sich bei besagter Wand nicht etwa um glatten Indoor-Beton mit bunten Kunststoff-Nuppies handelte, sondern um einen veritablen Felsen im Westerwald. Für den Fall eines Sturzes ins Seil hab ich mein Kinn schon auf jedem einzelnen Felsklümpchen aufschlagen sehen, das da aus der Wand ragen mochte …
Gemacht hab ich’s trotzdem. Ich hab mich 25 Meter Felswand hochgerauft und bei der Gelegenheit gelernt, dass der Fachmann es „Nähmaschine“ nennt, wenn die Unterschenkel vor Überanstrengung zu zittern beginnen. Hab mir die Knie grün und blau geschlagen, weil ich sie benutzt habe, um mich voller Erleicherung auf die nächste Felsstufe zu rollen anstatt ordentlich zu klettern. Aber ich bin oben angekommen!
Für die Abseilübungen musste ich am Händchen zum Startpunkt geführt werden. Dort habe ich mich mit fest geschlossenen Augen an den Felsen geklammert bis ich eingesichert war. Jetzt nach hinten fallen lassen? Kein Problem: Alles, was mich wieder nach unten brachte, war okay für mich! Nachdem ich mich im ersten Anlauf noch am Seil festgehalten hatte (was a. nichts bringt, denn, wenn der Mensch der einen sichern soll, loslässt, fällt man mitsamt dem Seil, und mir b. den schlimmsten Muskelkater meines Lebens eingetragen hat), habe ich Vertrauen gefaßt und mich freihändig abseilen lassen. Anfangs „geht“ man dabei die Wand hinunter. Später, wenn man den Bogen raushat, stößt man sich davon ab wie die SEKs im Krimi, wenn sie ein Gebäude stürmen. Es war toll!
Der Knoten ist dennoch nicht geplatzt: Höhenangst hatte ich hinterher immer noch.
Mit dem Leiter des Kurses bin ich später auf einen Viertausender gestiegen. Er meinte, ich könne das schaffen und ich hab mich so geehrt gefühlt, dass ich das Wagnis eingegangen bin. Als Teil einer Seilschaft, meinen Eispickel in der Faust, habe ich einen Gletscher überquert und bin über Gletscherspalten gesprungen. Ganz schmale nur, aber wenn man so davorsteht … All das trotz, nein, mit meiner Angst! Und ich glaube nicht, dass ich die einzige war, die auf dem Gipfel heulen musste – nicht vor Erleichterung, sondern schlicht überwältigt.
Damals war ich schon richtig krank (im Sinne von „monatelang krankgeschrieben“), das macht die Erinnerung, einen Berg „bezwungen“ zu haben, für mich zu etwas sehr Besonderem. Auf keinen Fall würde ich diese Tour missen wollen! Aber gesund gemacht hat sie mich nicht.

Bei besagter schwieriger Situation nun, die ich mittels Meditation zu bewältigen versucht habe, ging es nicht um Angst. Vermutlich auch nicht um Wut, sondern eher um Hilflosigkeit, Verletztheit. Um ein Gefühl, das ich vorher nicht einmal hätte benennen können.
Menschen mit einer sehr lebhaften Fantasie, habe ich einmal gelesen, die in der Lage seien, eine verhasste Person in ihrer Vorstellung zum Beispiel umzubringen, zu zerhacken und im Wald zu vergraben, würden im realen Leben nicht zu Gewalttaten neigen. Ich selber morde lieber indirekt: In Fällen echt mörderischer Laune gucke ich gerne Horrorfilme. „From dusk till dawn“ zum Beispiel habe ich zum ersten Mal nach einem echt üblen Tag im Büro gesehen – und bin anschließend sehr heiter und entspannt aus dem Kino gekommen. Wenn ich also wahlweise ein Dutzend Teenager geschlachtet, Aliens und Zombies losgelassen, oder aber die Hölle geöffnet habe, fühle ich mich gleich besser. Kurzfristig jedenfalls.

Ich las andererseits, dass die Energie der Aufmerksamkeit folgt. „Worauf Du Deine Aufmerksamkeit richtest, da geht auch Deine Energie hin!“
Sollte das zutreffen, tue ich mir keinen Gefallen, wenn ich in meiner Fantasie Hindernisse bewältige, Auseinandersetzungen für mich entscheide, Feinde in die Flucht schlage. Oder eben besonders mißliebige Zeitgenossen mit der Axt zu Wildschweinködern verarbeite. Weil ein und dieselben dunklen Gedanken ja immer wieder kommen. Schlag ihnen den Kopf ab und es wachsen zwei neue nach …

Das Achtsamkeitstraining, mit dem ich mich seit einigen Wochen beschäftige, beschreitet einen anderen Weg: Die dunklen, schmerzhaften Gedanken sind Gedanken wie alle anderen auch. Sie kommen und gehen. Sie gehen, sofern man sie nicht festhält. Vor allem aber sind sie Gedanken, keine Tatsachen.
Es geht, auch bei den schwierigen und schmerzhaften Gedanken / Erinnerungen / Situationen, nicht darum, diese zu bekämpfen, sondern mit ihnen zu leben. Mit dem normalen Jucken der Realität, wenn man so will.

Da ich erst kurze Zeit und vor allem fast* ohne Anleitung vor mich hin dilettiere, bin ich guter Dinge, dass bei meinen Meditationsversuchen das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist!
Das Ergebnis meiner Bemühungen ist zwar nicht immer so ganz das erhoffte, aber immerhin gibt es Ergebnisse! Und: Das Gefühl benennen zu können, anstatt einfach nur von ihm überrannt und gebeutelt zu werden, war für mich ein großer Durchbruch, das sieht die Schieferliebe ganz richtig. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es nicht jetzt entstanden ist (in diesem Fall würde es wohl eher helfen, auf Bäume einzuschlagen, oder – besser noch – mit der berühmten Faust auf den Tisch zu hauen), sondern schon lange darauf wartet, endlich beachtet zu werden.
Mag sein, dass da noch ein langer Weg vor mir liegt, bis ich mal so friedvoll und gelassen draufkomme, wie man sich das vom Meditieren erhofft …

Als eine liebe Freundin von mir mit ihrer Psychoanalyse begann (wenn ich mich recht erinnere mit drei Terminen pro Woche, immer vor der Arbeit), hab ich sie gefragt, ob da nicht ein bißchen sehr viel Zeit bei draufginge. „Ich war 20 Jahre lang depressiv“, hat sie mir geantwortet „da habe ich Zeit verloren!“.

* MBCT (Mindfulness-Based-Cognitive-Therapy) ist eine Form des Achtsamkeitstrainings, die speziell auf Menschen zugeschnitten ist, die unter Ängsten und Depressionen leiden. Da ich nicht die Möglichkeit habe, an dem dazugehörigen 8-wöchigen Trainingsprogramm teilzunehmen, habe ich mir das entsprechende Buch sowie die CD besorgt.

Übungssache

Es heiße Achtsamkeitsübung, habe ich mir gemerkt, weil ich Achtsamkeit üben soll. Regelmäßig und unverzagt – von „Hinkriegen“ war nie die Rede …

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Ein Bloggerkollege beschreibt sehr schön, dass sein Atem jedes Mal, wenn er diesen beobachten will, ganz tief und gleichmäßig wird – weil er es einfach nicht hinkriegt, zu beobachten ohne zu kontrollieren.
Geht mir genauso.
Es sei denn, ich soll mich eigentlich auf mein linkes Knie konzentrieren – dann bemerke ich gelegentlich, dass mein Atem viel leichter und flacher geht. Und versuche, meine Aufmerksamkeit gelassen und freundlich auf mein Knie zurückzulenken.
Seit der Bodyscan allmählich zur Routine wird, scheint mein Körper eine Art vorauseilenden Gehorsams zu entwickeln: Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, wie ich daliege und *fump* werden meine Gliedmaßen schwer. Sekunden später registriert (obwohl „konzentrieren Sie sich auf ihren Atem“ noch gar nicht dran ist) mein linkes Nasenloch kühlen Luftzug. Fast zeitgleich beginnt mein linker Ballen durch eifriges Kribbeln zu „melden“.
Ich übe mich in Nachsicht und tue mein Bestes, der Routine zu folgen.

Mein Körper dagegen scheint regelmäßig andere Pläne zu haben …
Noch bevor ich selber recht bemerke, dass meine Stimmung instabil ist, stelle ich fest, dass diverse Körperteile sich via Kribbeln, Ziehen, Druck oder auch Schmerz bemerkbar machen, bevor ich eine Chance habe, meine Aufmerksamkeit auf sie zu richten.
Wenn Schultern und Nacken sich verkrampfen und regelrecht von der Matratze abzuheben scheinen, obwohl ich doch weiß, dass ich entspannt auf dem Rücken liege, darf ich davon ausgehen, dass ich einen schwierigen Tag vor mir habe.
Es fühlt sich an, als würden Teile meines Körpers an manchen Tagen nach Aufmerksamkeit schreien und nicht warten können, bis sie nach den Spielregeln des Bodyscans „dran“ sind.
Ulkigerweise hat das nichts mit tatsächlichen körperlichen Beschwerden zu tun.
Lange bevor ich morgens wach genug für einen Bodyscan bin, vollzieht sich ein „Check“ anderer Art: Ich bin nicht mehr die Jüngste und meine Wirbelsäule ist ziemlich im Eimer. Kann ich also den Kopf bewegen? Sind die Hände taub? Schmerzen die Ellbogen? Krämpfe irgendwo? Wo tut es heute am wehesten?
Man sollte meinen, dass eine konzentrierte und kleinteilige Betrachtung noch weit mehr Baustellen und Wehwehchen zutage fördert. Tatsächlich wird – zumindest was mich betrifft – umgekehrt ein Schuh daraus.

Schmerzen, die ich vorher durchaus habe, machen sich während des Bodyscans gar nicht und anschließend weniger bemerkbar. Als sei es nur darum gegangen, meine Aufmerksamkeit zu bekommen …

Ein wenig enttäuschend, vor allem aber lästig finde ich den Umstand, dass, seit meine Gedanken nicht mehr damit befasst sind, den Ablauf der Übung zu rekapitulieren, diese munter Bocksprünge vollführen.
Es sei ganz normal, dass immer mal wieder Gedanken oder auch Tagträume aufkämen, das habe ich verstanden. Momentan kommt es mir allerdings vor, als sei in meinem (Unter)bewußtsein ein verrückt gewordener Hund unterwegs, der wie besessen buddelt und alles, was er findet, wahllos in die Höhe schleudert. Gefühlt verbringe ich drei Viertel des Bodyscans ausschließlich damit, freundlich und ohne Ärger zum eigentlichen Gegenstand meiner Konzentration zurückkehren zu wollen.
Bedeutungslose Erinnerungsfetzen, Momentaufnahmen von Menschen und Situationen, die ich ganz sicher nicht kenne, Kränkungen, die Handlung irgendeines Krimis, Kochrezepte, schmerzliche Erinnerungen undundund wirbeln kunterbunt und absolut sinnfrei durcheinander.
Tage, an denen das in extremer Weise der Fall ist, pflegen ebenfalls keine meiner allerbesten zu sein …

Faszinierend finde ich allerdings, dass ich mitkriege, wie die Gedanken auftauchen. Und spurlos wieder verschwinden, wenn ich mich nicht mit ihnen befasse.
Während meiner schlimmsten depressiven Phasen hatte ich oft das Gefühl, von selbstquälerischen Gedanken geradezu überrannt zu werden und ich habe eine Menge Energie in den Versuch investiert, diese Gedanken abzublocken oder durch andere, angenehmere zu ersetzen.
Jetzt kommt es mir vor, als tauchten sie „unter anderem“ auf: Unter all den anderen Ideen, Erinnerungen, Bildern und gelegentlichen Absurditäten, die beim Buddeln in die Höhe fliegen.
Und wenn es mir gelingt, sie nicht aufzufangen, verschwinden sie ebenso, wie der ganze Rest.

Die eigenen Gedanken zu beobachten, ist ein Übungsziel, von dem mich noch das eine oder andere Lichtjahr entfernt, vermute ich.
Eigentlich bemühe ich mich, meine Aufmerksamkeit konzentriert auf meinen Körper zu richten. Im Hier und Jetzt zu sein und nicht in meinem Kopf …
Aber hej, es war nie die Rede davon, etwas Bestimmtes hinzukriegen! Remember?

Für mich ist die – wenn auch noch recht verschwommene – Erkenntnis, dass ich es bin, die durch ihre Aufmerksamkeit entscheidet, welcher der ausgebuddelten Brocken heute meine Welt darstellt, ein enormer Gewinn!

Vom Atmen und vom Weinen

Eine Weile schleiche ich schon um sie herum … die angeleitete Meditation zum Umgang mit schwierigen Gedanken oder Situationen. Die hat sich quasi eingeschlichen … verborgen auf der CD, die mir lediglich helfen sollte, den Bodyscan richtig zu praktizieren …
Genau das, was ich brauche, eigentlich. Vielleicht traue ich mich deswegen nicht heran …

Einen altbekannten, schmerzhaften Gedanken zum Üben hernehmen?
Nicht doch! Ich werd doch keine schlafenden Hunde wecken!
Da warte ich lieber, bis sich eine schwierige Situation von selbst ergibt und meditiere dann ganz authentisch!

Wen soll ich jetzt zuerst zitieren? Meine Therapeutin, oder gleich mich selbst als Hundetrainerin?
„Wir trainieren immer vom Einfachen zum Schwierigen! Deswegen beginnen wir auch nicht in solchen Situationen, in denen der Hund die Fassung verliert, sondern in den vielen anderen, in denen er eine Chance hat, alles richtig zu machen!“.
Notiz an mich selber: Diesbezügliche Gespräche mit der kleinen Inderin noch einmal rekapitulieren und sich endlich daran halten!

Gleichwohl: Ich bin jetzt verärgert und verletzt! Gucken wir also, was die CD so kann …

Gewahr zu werden, dass ich jetzt hier sitze, mich also ins Hier und Jetzt zu bringen, fühlt sich so oder so hilfreich an. Und das Bemühen, auf meinen Atem zu achten, bremst das Rasen meiner Gedanken. Es lässt mich allerdings auch umso deutlicher spüren, dass ich Schwierigkeiten habe, Luft zu bekommen.
Nun soll ich mir den schwierigen Gedanken / die unangenehme Situation vergegenwärtigen. Kein Problem: Ich stecke mittendrin!
Nein … anders … ich stecke in meinem Körper. Der sitzt und atmet und zumindest ersteres funktioniert ohne größere Beanstandungen. Was ich mir zu vergegenwärtigen versuche, passiert nur in meinen Gedanken.
Nur noch elfundneunzig Stunden der Übung, Meditation und Kontemplation und ich hab das völlig klar!

Für’s Erste vergegenwärtige ich mit äußerster Vorsicht und soll nun erspüren, wo in meinem Körper ich die Schwierigkeit fühlen kann.
Faszinierende Sache das: Bilder wie „im Nacken sitzen“, „auf dem Magen liegen“, „Bauchschmerzen machen“ etc. sind uns sowas von vertraut und natürlich kenne ich meine Stellen. Aber ich bin nie auf die Idee gekommen, mein Augenmerk darauf zu richten – ich habe mich im Gegenteil stets bemüht, solche Symptome zu ignorieren.

Im konkreten Fall ist die Frage schnell beantwortet: Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Auf meinem Brustkorb scheint ein Stein zu liegen. Ich kann nicht sprechen. Ich kann einatmen, aber die Luft geht nicht wieder raus!
An diesem Punkt läßt meine liebe Meditations-CD mich hilflos zurück: Ich soll in jenen Ort meines Körpers hineinatmen, an dem ich die Schwierigkeit spüren kann. Und wieder hinaus.
Was man tun kann, wenn die Schwierigkeit sich genau an dem einen Ort manifestiert, in den (mit dem!) man nicht nur bildlich, sondern tatsächlich atmen kann und muss, verrät sie mir nicht.

Ich entscheide mich für den pragmatischen Ansatz und konzentriere mich darauf, überhaupt zu atmen. Dabei fällt mir auf, dass der obere Brustkorb auch beim Bodyscan eine Region ist, die ich nicht erreichen kann. Andere Körperteile „melden“ Druck, Ziehen, Kribbeln … hier fühle ich immer nur eine Art „Platte“.
Sowie das Atmen in Schluchzen übergehen will, halte ich die Luft an.
Das war auch während meiner Therapie schon ein Thema, erinnere ich mich. Seitdem achte ich darauf, in Gesprächen die Schultern zu entspannen und möglichst gleichmäßig zu atmen. Wie vehement ich immer noch den Atem anhalte, wenn ich eigentlich weinen möchte, war mir nicht bewußt.
„Solange Sie atmen, ist mit Ihnen mehr richtig als falsch!“, habe ich gelesen.
Ich halte alles an, wenn die Verzweiflung zu groß wird …

img_12930-q-webWenn ich die Luft nicht anhalte, schreie ich. Da bricht sich kein erlösendes Weinen Bahn: Ich schreie. Sacke in mich zusammen, stürze zu Boden. Und schreie.
Und ja: Es hilft. Ich beruhige mich sehr viel schneller. Vielleicht, weil ich jegliche Energie verpulvert habe. Vielleicht aber auch, weil ich nicht mehr all meine Kraft in Kontrolle investiere, sondern beginne, den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Falls jetzt jemand das Bedürfnis verspüren sollte, zu sagen, das sei gut so, ich möge mal los- und meine Gefühle rauslassen: Darüber sprechen wir nochmal, nachdem DU Dich aus augenscheinlich geringfügigem Grund auf den Boden geschmissen und wie blöd losgeschrien hast, ja?
Mag sein, dass da eine Menge Wut und Verzweiflung darauf warten (gewartet haben) sich endlich einmal Bahn zu brechen, aber wir reden hier nicht von einem heilsamen Ausbruch innerhalb eines therapeutischen Prozesses, sondern von meinem Alltag. Von an sich nichtigen Ärgernissen oder Auseinandersetzungen, die mir komplett den Boden unter den Füßen wegziehen, weil mir plötzlich alles eins zu sein scheint: Es gibt keine alten Wunden und neuen Kratzer – es gibt nur eine einzige tiefe Verletzung.

Die Unangemessenheit meiner Reaktion beschämt mich.
Ich muss dabei an Szenen wie jene denken, in der sich Hinterbliebene in das offene Grab des verstorbenen Menschen zu stürzen versuchen. Da sind sicher große Gefühle im Spiel. Und dennoch wendet man sich peinlich berührt ab …

Ich nehme mir trotzdem vor, zukünftig die Luft nicht mehr anzuhalten.

Inzwischen habe ich mich einigermaßen beruhigt, atme und frage mich, ob es die sowieso geringe Tiefe meiner Meditation wohl arg beeinträchtigt, wenn ich mir zwischendrin die Nase schnäuze.

Nun soll ich das schwierige Gefühl benennen.
Ich bin wütend. Verletzt. Nein, eigentlich fühle ich mich ungerecht behandelt. Es ist ungerecht. Ich möchte wie ein Kind mit dem Fuß auf den Boden stampfen, so ungerecht ist das!
„Das Kind muß schließlich einen Namen haben!“ … „Was ist mit Ihrem inneren Kind?“
Ich hab Fragen nach meinem inneren Kind immer eher quälend gefunden, konnte nicht viel damit anfangen.
Aber vielleicht hat es sich hier ganz unverhofft einmal zu Wort gemeldet: „Das ist einfach ungerecht!“ …
Ruhe kehrt ein.

Ich lasse mir die Worte auf der Zunge zergehen. Ja, das paßt. „Ungerecht“ paßt. Das macht mich sprachlos, nimmt mir den Atem.
Ich richte meine Aufmerksamkeit zurück auf meinen ganzen Körper und beende die Meditation.

Ob das jetzt so im Sinne des Erfinders war? Ich habe keine Ahnung …
Wohl aber eine Idee, wo das hinführen könnte.

To be continued …

Wellness mit Schattenseiten

„Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, mach Limonade!“ hab ich mir gesagt und nach Kräften versucht, einer an sich unerfreulichen Situation möglichst viel Positives abzugewinnen.
Im Nachhinein scheint mir „denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“ das passendere Motto für das „Experiment Wellness“ zu sein …

Eigentlich halte ich nicht viel vom Fasten.
Unter anderem, weil es bisher nicht gelungen ist, im menschlichen Körper Schlacken zu entdecken, derer man sich auf diesem Wege entledigen müsste. Auch, weil es mich merkwürdig und teilweise unangenehm berührt, wenn Menschen, die sich ansonsten in einer Überflussgesellschaft pudelwohl fühlen, plötzlich den kurzfristigen Verzicht auf einen winzigen Bruchteil davon zum Weg des Heils erklären. Vor allem aber, weil ich zu denjenigen Menschen gehöre, die, wenn sie unter Druck geraten, nicht mehr essen können.
Das mag im ersten Wurf erstrebenswert klingen, wenn man zum Beispiel gegenteilig veranlagt ist und zum Frustfressen neigt. Ist es aber nicht.
Irgendwie ist es mir zwar immer gelungen, nicht in den Bereich zu geraten, in dem Untergewicht gefährlich wird, aber ein Vergnügen war auch das nicht.
Nicht zu essen, obwohl ich es will und kann, wäre mir nicht in den Sinn gekommen.

Jetzt allerdings muss ich zwecks Ausschluss einer Lebensmittelunverträglichkeit eine Zeitlang Diät halten (auch das ist eine Premiere) und habe mich entschlossen, zu Beginn 2 Tage lang nichts zu essen. Einfach, um einen deutlichen Break zu haben.
Allzu schwer wird mir das nicht fallen, denke ich: Auch wenn ich mittlerweile regelmäßig und mit dem größten Vergnügen esse, macht es mir nach wie vor nicht viel aus, auch mal Kohldampf zu schieben. Aber es widerstrebt mir. Und also beschließe ich, meine Fastentage in ein Wellness-Wochenende umzuwidmen und mir neben Tee und Gemüsebrühe Yoga, Meditation und reichlich Freizeit zu gönnen.

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Ich beginne meinen Tag mit einem Bodyscan.
Von den Achtsamkeitsübungen ist diese mir eine der liebsten: Idealerweise praktiziert man sie morgens oder abends und zwar im Liegen. Das passt mir gut.
Oookay, eigentlich auf dem Bett (Sofa, oder Fußboden), aber so groß wird der Unterschied schon nicht sein und ich kann auf diese Weise die Zeit, während derer es mir morgens nicht gelingt, das Bett zu verlassen, wenigstens sinnvoll nutzen.
Interessanterweise bin ich danach meistens so munter, dass ich problemlos aufstehen kann.

Die Idee des Bodyscans ist es, nach und nach jedem einzelnen Körperteil kurz seine Aufmerksamkeit zu schenken, wahrzunehmen, was man dort empfindet und dann weiterzugehen.
Eine Absicht, oder ein Ziel gibt es hierbei nicht: Man kann sich dabei entspannen oder auch nicht, etwas, etwas anderes, oder auch mal gar nichts empfinden und wenn man zwischendurch abgelenkt ist, weil man doch über etwas nachdenkt oder ins Träumen gerät, dann ist auch das kein Fehler, sondern man nimmt es wahr und übt dann weiter.
Gar nicht mal so einfach übrigens!
Es fällt mir nicht leicht, meine Konzentration auf meinen Fuß zu fokussieren während sie nach dem Motto „ich weiß schon, wie das geht!“ schon mit meinem Unterschenkel beschäftigt ist. Unwillkürlich habe ich das Bild einer wuseligen Spinne vor Augen, die zwei, drei mal um meinen Fuß herumrennt und dann an meinem Bein hochflitzen will. Es ist eine drollige, plüschige Spinne, die mich an meinem Bein trotz Phobie nicht weiter stört, ob sie aber auch dann noch zur Visualisierung taugt, wenn sie mir am Rücken hochkrabbelt, wage ich zu bezweifeln. Ich lasse das Tierchen also davonkrabbeln und wende mich wieder meinem Fuß zu.
Die Übungs-CD, die ich mir gekauft habe, um sicherzugehen, dass ich alles richtig mache, nervt leider nach kurzer Zeit mehr, als sie nutzt:
Die Erläuterungen am Rande, die in regelmäßigen Abständen darauf hinweisen, daß man nichts bestimmtes fühlen muss und, falls man zwischendurch abschweift, seine Aufmerksamkeit einfach freundlich und ohne Ärger dorthin zurücklenken soll, wo man sie haben möchte, reißen mich beim wiederholten Anhören eher aus meiner Konzentration, als dass sie noch hilfreich währen.
Vor allem aber macht mich das Timing wahnsinnig!
Auf der linken Seite, mit der man beginnt, habe ich ewig Zeit, in jeden einzelnen Zeh hineinzufühlen, bekomme alle Teile meines Fußes benannt und dann geht es unter wortreichen Erläuterungen langsam am Bein hoch bis zum Oberschenkel.
Dann soll ich das ganze Bein fühlen. Und während ich mich noch bemühe, meinen Fokus auszudehnen – so ein Bein ist schließlich lang! – steuert die CD schon zügig meinen rechten Fuß an.
Die ganzen Erläuterungen brauche ich jetzt natürlich nicht nochmal und so habe ich für das komplette rechte Bein gefühlt in etwa soviel Zeit, wie links für die Zehen.
Ganz besonders fuchst mich der Teil, in dem ich mich meinen Armen widmen soll: Nachdem bis dahin jede Körperregion in einzelnen Teilen erfühlt worden ist, arbeiten wir die Arme mal eben komplett ab. Beide gleichzeitig.
So kann ich nicht meditieren!
Und natürlich lässt einem eine CD nicht die Zeit, zu tun, wozu im Text geraten wird und zum Beispiel wahrzunehmen, ob und wie ein Gedanke die Empfindungen des Körpers verändert.
Eine Schlußformel, wie ich sie vom autogenen Training kenne, vermisse ich ebenfalls.
Irgendwann ertönt ein Gong und man weiß, daß man jetzt auf „stop“ drücken muss, wenn man nicht gleich in die nächste Übung stolpern will.
Immerhin jedoch habe ich nun eine Idee vom genauen Ablauf der Übung und kann sie zukünftig ungestört und mit meinem eigenen Timing praktizieren.
Was genau sie eigentlich bewirkt, vermag ich nicht zu sagen.
Die Empfindungen sind – weder in den einzelnen Körperteilen, noch insgesamt – nicht immer gleich. Oft bin ich anschließend sehr entspannt, manchmal aber auch so unzufrieden und gereizt, daß ich kaum stilliegen kann.
Aber ich bin in letzter Zeit sehr viel ausgeglichener als sonst und hoffe sehr, dass dies kein Zufall ist.

Für meine Yoga-Übungen rolle ich eine alte Isomatte und ein Badelaken auf der Terrasse der Fermette aus: Eine Art Dachterasse mit Holzboden, die um die Mittagszeit in der Sonne liegt.
Ein Plätzchen in der freien Natur wäre sicherlich noch schöner, aber dort wird der „herabschauende Hund“ ganz sicher in anderer Form auftauchen, als ich das brauchen kann.
Der Himmel ist postkartenblau mit Wattewölkchen, die von der Sonne aufgezehrt werden. Ganz hoch oben schwebt ein Raubvogel.
Vermutlich würde man sich schon wunderbar fühlen wenn man einfach nur hier liegt und in den Himmel schaut …

Da ich irgendwo mal gelesen habe, dass beim Heilfasten auch gewandert wird, runde ich den Tag noch mit einem ausgiebigen Hundespaziergang ab.

Der Krimi allerdings, den ich mir am Abend anschaue, bringt ungeahnte Schwierigkeiten mit sich: Ein Teil der Handlung spielt in einem italienischen Restaurant und es werden jede Menge Pizzen verspeist.
Ich merke, dass ich dann doch ziemlichen Hunger habe.

***

Am zweiten Tag wird deutlich, warum es schick ist, zum Fasten eine Kurklinik aufzusuchen. Nicht, dass ich ärztliche Hilfe nötig hätte: Mich holt schlicht und einfach der Alltag ein. Und so ersetze ich meine zweite Fastenwanderung durch eine Suche nach einigen ausgebüxten Schafen. Aus dem gleichen Grund entfällt auch Yoga.
Eine Kur würde mich außerdem der Notwendigkeit entheben, mir meinen eigenen Diätplan auszudenken. Stattdessen erstelle ich Listen erlaubter Lebensmittel und sinniere über entsprechende Rezepte, was meinen Magen in lautstarke Empörung verfallen läßt. Ich beschließe, dann doch lieber zu meditieren und probiere eine der anderen Übungen auf meiner CD aus. Mein Magen beruhigt sich und ich finde, dass zwei Tage ohne Essen sich eigentlich ziemlich gut aushalten lassen.
Wenn ich nachts nur nicht so frieren würde … aber es ist ja so gut wie geschafft!

***

Von einem feierlichen Fastenbrechen kann man vermutlich nicht reden, so nach zwei Tagen. Sagen wir stattdessen, ich hab mich wie Bolle auf meine erste Mahlzeit gefreut, „Diätfraß“ hin oder her!
Dann jedoch gibt es einen Streit und vielleicht bin ich dann doch so ein kleines bißchen angeschlagen. Vermutlich hätte ich mir den normalerweise nicht ganz so sehr zu Herzen genommen. Jetzt aber scheint es mir unmöglich, in dieser Stimmung meine erste Mahlzeit einzunehmen.
Das ist schlimm für mich. Sehr schlimm.
„Ich lasse mich nicht vom Essen abhalten!“ war in den letzten Jahren ein ganz wichtiges Motto für mich: Selbst wenn ich mein Essen unter Tränen heruntergewürgt habe, ich habe gegessen.
Das mag ernährungsphysiologisch, psychologisch und überhaupt fragwürdig sein, aber ich wollte nie wieder auf die Schiene geraten, unter Druck das Essen einzustellen. Nicht mit einer einzigen Mahlzeit! Und hastdunichtgesehen bin ich wieder da …
Das macht mir eine Scheißangst. Ich mache mir eine Scheißangst!
Selbstverständlich ist mir klar, dass ich jederzeit in die Küche gehen und mir etwas zu essen machen kann. Ich kann die komplette Speisekammer plündern. Ich kann meine Fastentage in Schall und Rauch aufgehen lassen! Diät? Andermal …
Ganz genau so, wie Raucher und Trinker jederzeit aufhören können …
„Morgen. Morgen hör ich auf!“
„Heute faste ich noch, ein dritter Tag wird nicht schaden. Morgen ess ich dann wieder was!“
Es gelingt mir, noch am selben Abend etwas zu essen, aber es dauert mehrere Tage, bis ich wieder das Gefühl habe, selbstverständlich an den Mahlzeiten teilnehmen zu können. Mit Hunger und Spaß – ohne mich zu zwingen.
Allmählich lässt auch das Tief wieder nach, in welches ich zwischenzeitlich abgeschmiert bin. Eines der übelsten seit Monaten.

Mittlerweile juckt es mir in den Fingern, das Limonaden-Motto auf meine Ausschlußdiät anzuwenden: Wär doch gelacht, wenn man damit nicht richtig lecker kochen könnte! Anscheinend finde ich zu meiner alten Form zurück …
Ob man Wellnesstage (zumal hier auf dem Land) tatsächlich planen kann, bin ich mir nicht sicher. Vielleicht muß man sie stehlen. Dem lieben Gott die Zeit stehlen …
Ich beschließe, eine trickreiche Diebin zu sein.
Aber nie, niemals wieder will ich fasten!

1 Jahr Tauchfahrt

Was kam ich mir originell vor, als ich mich entschieden habe, über meine Depressionen zu bloggen!
Mutig auch, keine Frage! Ich war ziemlich stolz auf mich.

Es hat nicht lange gedauert, bis mir klar wurde, wie viele von uns das tun – nicht nur über Depressionen, sondern über die unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen und Besonderheiten …
Aber wenn man so will, ist jeder dieser Blogs tatsächlich eigenartig, ungewöhnlich, schöpferisch und neu. Und jede einzelne dieser Entscheidungen war mutig. Wir können und dürfen ruhig alle stolz auf uns sein.

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Um über meine Depressionen zu bloggen, muss ich nicht nur akzeptieren, dass ich krank bin, sondern auch, dass das für eine längere Zeit und vielleicht für immer der Fall sein wird: Der eine oder die andere Bloggerin kühmt vielleicht mal über Grippe oder Hexenschuss, aber kein Mensch widmet dem einen eigenen Blog …
Ich muss mich damit auseinandersetzen, sonst habe ich außer „mir geht’s sooo scheiße!“ nix zu sagen.
Und ich muss dazu stehen. Selbst diejenigen von uns, die es vorziehen, anonym zu bleiben (wofür es, je nach Lebenssituation, leider immer noch gute Gründe gibt) teilen mit jedem Beitrag der Welt mit: „Ja. Ich auch. Wir sind viele.“.

Anfangs gibt es ungeheuer viel, über das man schreiben kann, will und muss: Da hat man ja schon eine (Kranken)geschichte hinter sich, die erzählt werden will.
Man schreibt weniger darüber, was Depressionen sind, als man zu erklären versucht, was sie nicht sind: Ich bin nicht traurig!
Man wirbt für Verständnis dafür, dass Ausdauersport, Lichttherapie, Johanniskraut und niedliche Kätzchen tatsächlich nicht über depressive Tiefs hinweghelfen. Oder man erstellt Listen von guten Ratschlägen, die man echt nie wieder hören möchte.
Man versucht, in Worte zu fassen, wie man sich fühlt.
Erzählt von Erfahrungen mit TherapeutInnen, Klinikaufenthalten und Medikamenten. Kleinen Fortschritten und vernichtenden Rückschlägen.

Und irgendwann kommt man im „heute“ an: Die ganze Vorgeschichte ist erzählt.
Dann wird es schwierig, finde ich. Das Bloggen.
Ich habe immer noch Depressionen. Es gibt immer noch Tiefs. Absolute Tiefpunkte. Allmähliches Bekrabbeln und Phasen der Stabilität und Zuversicht. Auf. Ab.
Damit könnte ich vielleicht meine größten Fans beschäftigen, wenn ich ein Promi wäre und das Ganze nicht via Text > 140 Zeichen, sondern mittels einer lesefreundlichen Skala von 1-10 veröffentlichte.

Als ich mit der „Taucherin“ begonnen habe, habe ich Texte „auf Halde“ produziert und nach und nach veröffentlicht. Es gab ja schon so viel zu erzählen und von der Seele zu schreiben, um überhaupt einmal zu erklären, was ich jetzt vorhatte. Und warum.
Ein neues Leben anfangen. Ohne Therapie und vor allem ohne Medikamente.
Dann habe ich über die erste Zeit auf dem Hof geschrieben: Es gab so viel Neues!
Und jetzt, nach einem Jahr „Schattentaucherin“ leide ich immer noch an Depressionen.
Auf. Ab. Auf. Ab. Nichts, was sich noch zu erzählen lohnt.

Ich hab viel Herzblut an dieses Projekt verschmiert und möchte es nicht einfach im Sande verlaufen lassen. Und in diesem Moment zeigt die Taucherin sich auf eine Art und Weise hilfreich, mit der ich nicht gerechnet hätte: Sie fragt mich wieder und wieder „Wirklich nichts Neues?“.
Meinen Kunden im Hundetraining habe ich regelmäßig gepredigt, sie möchten sich doch bitte nicht auf das konzentrieren, was noch nicht klappt, sondern sich in Erinnerung rufen, an welchem Punkt sie begonnen haben und wie weit sie schon gekommen sind.
„Schau hin!“, flüstert sie. „Und?“

Und sie hat recht.
Mich in die Einsamkeit der Cevennen zurückzuziehen, war – auch wenn das nach außen romantisch, abenteuerlich oder mutig aussehen mag – schlicht das Eingeständnis, dass ich keine andere Wahl mehr hatte, als mir meine Welt so passend (will sagen: klein) zu machen, dass ich darin zurechtkommen kann. Ich habe hier einen Ort gefunden, der eine heilsame Wirkung hat und mir viel Zeit genommen (nehmen müssen), einfach nur hier zu sein.
Irgendwann habe ich begonnen, mich wieder was zu trauen. Lächerlich kleine Dinge, objektiv betrachtet: Den Markt in einem Nachbardorf besuchen, die Verantwortung für einen Einkauf übernehmen, alleine zum Tierarzt fahren und den Hund impfen lassen …
Für mich waren das große und spannende Unternehmnungen.
Seit Kurzem nun ist etwas ganz Neues hinzugekommen.
Natürlich ist an Achtsamkeitsübungen und Yoga genau nichts originell. Lebt man in einer deutschen Großstadt, scheinen sie dazuzugehören wie green Smoothies und vegane Eiscreme. Für mich sind sie deswegen etwas Besonderes, weil sie den ersten Versuch seit langem darstellen, mit meiner Erkrankung umzugehen. Die Antidepressiva sollten mich „nicht depressiv“ machen, die Therapien mir helfen, nicht mehr depressiv zu sein. Bis ich nach über 10 Jahren irgendwie die Lust verloren habe …

img_14378-q-webVielleicht ist es jetzt an der Zeit, einen Weg zu finden, mit meinen Depressionen zu leben.

Das Schreiben ist schwieriger geworden, teils auch schmerzhafter, weil die Distanz so viel geringer ist. Spannender allerdings auch!

Weiterschreiben also. Tauchen, paddeln, Wellenreiten, kieloben treiben, auf Grundeis gehen …
Ich glaube und hoffe, wir haben noch ein bißchen was vor (vor uns) – die Taucherin und ich …

Jetzt ist jetzt!

Es fällt mir generell schwer, negative Gefühle loszulassen: Hat mich etwas oder jemand verärgert, kann ich stunden-, ja tagelang darauf herumkauen und innere Dialoge führen. Und mir damit ganz wunderbar den Tag versauen.
Neulich, als es wieder einmal „soweit“ war, ist mir immerhin selber aufgefallen, daß es eigentlich ein sonniger Vormittag war und ich bis dahin ganz zufrieden in der Küche gesessen und Paprika geschnibbelt hatte. Für ein kulinarisches Experiment mal wieder, also etwas, das mir eigentlich Freude macht.
Daher habe ich beschlossen, mein Augenmerk einfach ganz konzentriert auf das zu richten, was bis dahin erfreulich gewesen war: Sonne, Küche, Paprika. Genauer: Sonne, in der man es draußen schon jetzt kaum noch aushält, eine erfreulich kühle Küche, ein Steinboden, der sich angenehm unter meinen nackten Füßen anfühlt, gartenfrischer, knackiger Paprika, der Duft von Knoblauch und Tomaten …
Und tatsächlich ist in meinem Kopf Ruhe eingekehrt. Es hat wieder Spaß gemacht.

Ich frage mich, ob es das ist, was mit Achtsamkeit gemeint ist und erinnere mich in diesem Moment daran, daß eine Bloggerkollegin mich schon vor Monaten gefragt hat, ob Achtsamkeitsübungen mir nicht vielleicht weiterhelfen könnten. Aber manchmal muss man das Rad einfach selbst (er)finden und sei es ein noch so kleines Rädchen …

Ich beginne also, (zugegeben: nicht wirklich planvoll) zu recherchieren.
So ganz ohne Misstrauen bin ich nicht – ich halte durchaus für möglich, dass Achtsamkeitsübungen die Chiasamen der Befindlichkeit sind … Superfood für die Psyche, das über kurz oder lang vom nächsten Wundermittel dovongehypet wird.
Aber sei’s drum: Versuch macht kluch!
Achtsamkeit, so lerne ich, ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die sich auf den Moment bezieht, ohne jedoch zu werten.
Auf den Moment, nicht auf Vergangenheit oder Zukunft – das klingt schonmal brauchbar. Achtsamkeit soll uns lehren, im Hier und Jetzt zu leben, gelassener zu werden. Perfekt! Nehm ich!

Was für mich zunächst einfach wie eine erstrebenswerte (Lebens)Haltung klingt, geht allerdings mit Meditationseinheiten oder mindestens Übungen einher. Idealerweise unter Anleitung.
Was ich durchaus verstehe: Bis heute erinnere ich mich an die Stimme unseres Betreuers in der Tagesklinik, der die progressive Muskelentspannung nach Jacobson angeleitet hat. Er hat immer gesagt, seine Anleitung spiele gar keine Rolle, wir müssten lernen, das allein und für uns selbst zu tun. Ich hab mir dann auch alle Mühe gegeben, aber sonderlich weit bin ich damit nicht gekommen.
Ich denke auch dankbar an Frau „locker und gelö*t“ zurück, bei der ich autogenes Training kennen lernen durfte.
Jahaha, der Spitzname ist ganz sicher despektierlich, aber ich hatte während des Trainings recht schnell den Eindruck, dass sie selbst scharfe und schneidende Laute zu vermeiden versucht hat: Deswegen haben wir uns am Ende des Trainings nie gelöst gefühlt, sondern – ehrlich, so klang das! – stets gelö*t …
Und ich hatte jedes Mal wieder Schwierigkeiten, ein Kichern zu unterdrücken …
Davon abgesehen war sie eine höchst einfühlsame Trainerin, deren Arbeit oft weit über die schiere Vermittlung von Techniken hinausging. Ich erinnere mich an eine „Sitzung“, bei der ich schlicht nicht in der Lage war, entspannt auf dem Rücken zu liegen, sondern bäuchlings Rotz und Wasser geheult habe, weil meine Mutter im Sterben lag. Es gab nicht viele Situationen, in denen ich mir das „gegönnt“ habe und die Selbstverständlichkeit, mit der sie mein Weinen hingenommen hat, hat mir damals sehr geholfen. Mit einschlägiger Literatur oder gegoogelten Anweisungen, wäre ich nicht halb – ach Quatsch! – nicht einen Bruchteil soweit gekommen.
Nun aber wird es ohne Anleitung gehen müssen.
Nicht, dass es nicht selbst hier auf dem Land das eine oder andere Coaching Angebot geben würde: Aber auch wenn ich absurd lange Anfahrten in Kauf nähme – ich verstehe nach wie vor die Sprache nicht gut genug.
Ich muss allein klarkommen, was – wenn man so will – letztlich ja sowieso Sinn der Übung ist …

Ein paar Dinge weiß ich schon: So kriege ich es zum Beispiel schlicht nicht auf die Reihe, mir regelmäßig x Minuten am Tag für mein wie auch immer geartetes Training freizuschaufeln. Selbst wenn ich den Rest des Tages grenzkomatös herumliegen sollte: Das kriege ich nicht hin. Und falls doch, gibt es ganz sicher irgendeine Störung. Mir das vorzunehmen, generiert also eher Stress.

Ich weiß ganz sicher, dass es Momente gibt, in denen ich mich mal besser nicht auf meine Atmung konzentrieren sollte. Wie man „in den Bauch hinein atmet“, habe ich zwar schon im Schulsport gelernt und meist genieße ich das Gefühl – aber angesichts einer tsunaminös heranrollenden Panikattacke zu erfühlen, ob ich womöglich gar hyperventiliere, bringt genau gar nix, versprochen.
Übungen, bei denen man den Atem einhält sind eher auch nicht meins: Da ich sowieso aufpassen muss, in angespannten Situationen nicht die Luft anzuhalten, fühle ich mich sehr unwohl dabei.
Mich mit der Frage zu befassen, was ich soeben empfinde, ist auch nicht so ganz ohne: Wenn mein Selbstwertgefühl sich gerade mal wieder schmerzerfüllt krümmt, weil sich die Erkenntnis aufdrängt, dass ich nichts, aber auch gar nichts wert bin, tue ich mir damit keinen Gefallen. Und Gefühlen wie Wut und Verletztheit widme ich sowieso schon viel mehr Aufmerksamkeit, als gut für mich ist.

Der Hinweis, dass Achtsamkeitsübungen für Menschen mit Depressionen nur bedingt zu empfehlen sind, kommt insofern nicht überraschend.

Dennoch scheint mir der Weg in die richtige Richtung zu führen und ich beginne, mir meine eigenen Achtsamkeitsübungen zu „basteln“ …
Es gibt keine Zeiten, während derer ich mich zurückziehe, um „achtsam“ zu sein – es geht mir ja auch viel mehr darum, im Leben zu bleiben.
Meine Aufmerksamkeit ist durchaus selektiv: Was ich nicht wahrnehmen kann, ohne es als unangenehm oder schmerzhaft zu werten, bleibt erstmal außen vor.
Stattdessen bemühe ich mich, offen für alle anderen Eindrücke zu sein.

IMG_16418-q-webDer Hof macht es mir leicht.
So gibt es zum Beispiel viele Gelegenheiten, in den Garten zu gehen – irgendetwas muss dort immer erledigt werden.
Das hohe Gras rauscht bei jedem Schritt, ich kann die Stellen, an denen es noch taufeucht ist, an meinen Füßen fühlen. Ich spüre Sonne und Wind und immer mal wieder Brombeerranken, die mir die Haut ritzen. Alle paar Meter kann ich andere Pflanzen riechen. Insekten summen, Eidechsen und vereinzelt Schlangen lassen das Laub rascheln. Meine Arme schlenkern beim Gehen. Die Kante der Kastanienkiste, die ich mitgenommenen habe, schneidet mir in die Handfläche. Nach einigen Metern kann ich fühlen, wie meine Mundwinkel sich entspannen.
Ich kann fühlen, wie ich mich entspanne.

Natürlich drängeln sich ab und zu Gedanken in den Vordergrund: Idealerweise Ideen für’s Abendessen oder für Blogtexte, aber – wie sollte es anders sein – auch mein Ärger.
Das menschliche Bewusstsein sei, hab ich gelernt, wie der Ozean, es schwappe halt ständig hin und her. Ein schönes Bild, fand ich. Weiter unten, in der Tiefe, sei es ruhig … aber so weit bin ich hier noch lange nicht. „Jetzt ist jetzt“ sage ich mir dann. Der Auslöser meines Ärgers ist Vergangenheit, ob er sich beheben lässt, merke ich in der Zukunft, aber jetzt geh‘ ich in den Garten!

Sollten angesichts dessen die Achtsamkeitscoaches dieser Welt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, erkläre ich hiermit meinen Weg in den Garten zur traditionellen cevenolen Schlendermeditation. Mir tut die gut.

To be continued …