#metoo

Den folgenden Text hatte ich lediglich auf meiner Facebook-Seite veröffentlichen wollen, weil er mir zwar ein großes Anliegen ist, aber nicht wirklich etwas mit dem Thema des Blogs zu tun hat.
Dann jedoch bin ich gebeten worden, meine Überlegungen auch außerhalb von Facebook zugänglich zu machen.
Und wer weiß, ob all das tatsächlich ohne Folgen geblieben ist …

Diesen Text habe ich aus ichweißnichtmehrwelchem Grund im Frühjahr 2019 zu schreiben begonnen, ihn dann aber aus dem Auge verloren.
Er ist mir wieder eingefallen, weil neuerdings diskutiert wird, ob #metoo am Ende ist, weil ein einziger Mann vor Gericht Recht bekommen hat.
Ich gebe ihn einfach mal so wieder, wie ich ihn seinerzeit geschrieben habe.

„Ich weiß gar nicht mehr, seit wann ich schon regelmäßig über #metoo stolpere …
Aber ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, was ich dachte, als ich den Hashtag zum ersten Mal gesehen habe:
„Das betrifft mich nicht, ich bin ja nie vergewaltigt worden. Nur ganz normal sexuell belästigt.“.
Es hat tatsächlich einen ganzen Tag gedauert, bis ich selber begriffen habe, was ich da gedacht habe:
„Nur.“
„ganz normal“
„sexuell belästigt“
Da habe ich mich angeschlossen, einfach mit dem Hinweis „metoo“.
Ich fand nicht, dass ich deswegen gleich meine Lebensgeschichte erzählen muss.
Aber vielleicht ist das doch sinnvoll. Um mal ein paar Missverständnisse zu klären.

Ich war neun Jahre alt, als ich mit einer Freundin eine Radtour gemacht habe. Auf einem Feldweg hat uns ein Mann aufgehalten indem er sein Fahrrad vor uns quer stellte. Da drüben im Wald, sagte er, würden zwei was machen (wir hatten nicht recht eine Vorstellung, was eigentlich) und unbedingt sollten wir mitkommen und uns das anschauen! Wir wussten sehr genau, dass wir auf gar keinen Fall mit fremden Männern mitgehen durften, aber was wir in diesem Moment hätten tun können, wussten wir nicht. Wir hatten Glück: Es näherten sich Leute und der Mann ist geflüchtet. Wir auch.
Nachdem ich das daheim erzählt hatte, haben meine Eltern umgehend Anzeige erstattet und wir mussten bei der Polizei eine Aussage machen. Wir waren wohl nicht die einzigen. Danach hatte ich lange Zeit Angst, dass der Mann wiederkommt und mich holt.

Ich war zwölf Jahre alt, als der Stiefvater meiner besten Freundin versucht hat, mich zu küssen und mir seine Zunge in den Mund zu schieben. Es war Karneval, er war betrunken. Ich hab ihm in die Zunge gebissen. Meinen Eltern hab ich nichts davon erzählt, sie hätten womöglich den Kontakt zu meiner Freundin unterbunden.

Ich war vierzehn und pferdeverrückt wie fast alle Mädchen in diesem Alter. Es gab da einen Mann auf dem Reiterhof, der konnte die Finger nicht bei sich behalten. Wir wussten das alle: Geriet man mit dem allein in eine Box, versuchte er, einen zu begrapschen. Dann galt es, schnell zu sein!
Wir waren schnell. Ich habe bis heute keine Ahnung, ob die anderen Erwachsenen davon wussten.

Während der Lehre gab es einen Mitarbeiter, der immer viel zu dicht neben mir saß, wenn er mir etwas erklärte. Der immer nach etwas auf meiner anderen Seite greifen musste und mir damit noch näher rückte. Der, als ich einen Stapel Papier lochen wollte, plötzlich seine Hände auf meine legte, um mir beim Drücken zu helfen. Immer mit einem tiefen Blick in meine Augen.
Darüber habe ich mich damals tatsächlich ganz impulsiv bei unserem Vorgesetzten beschwert und hatte das unfassbare Glück, Gehör zu finden (das war damals ganz sicher nicht generell üblich). Ich musste nie wieder mit diesem Menschen arbeiten. Überflüssig zu sagen, dass diese Beschwerde mein berufliches Fortkommen dennoch nicht gerade erleichtert hat.

Und so weiter und so weiter.
Während des Studiums, als der Handlungsspielraum … sagen wir … etwas größer war, habe ich einmal jemandem Prügel angedroht, falls er mich noch einmal anfassen sollte.

Danach dann, im „Arbeitsleben“, habe ich vieles einfach abperlen lassen. Oder war im Zweifel nicht um eine verbale, aber kernige Antwort verlegen. Diejenigen von Euch, die mich persönlich kennen, wissen das.

Einmal hat mir ein Nachbar sturzbesoffen in den Schritt gegriffen, während mein Ehemann daneben stand.
Bei ersten Mal habe ich nicht reagiert, weil ich viel zu überrascht war: Damit hatte ich nicht gerechnet!
Mit einer verbalen Ansage wäre ich schwerlich zu ihm durchgedrungen, aber in seinem Zustand hätte ich ihn problemlos aus den Schuhen hauen können, obwohl das eigentlich nicht meine Art ist. Ich hab den Selbstverteidigungskurs, den ich immer machen wollte, auch nie in Angriff genommen: Ich weiß nicht, wie man einen Menschen schlägt. Bei ihm hätte wahrscheinlich umschubsen gereicht. Aber seine Ehefrau stand ebenfalls dabei und ich hatte das ungute Gefühl, dass sie es ausbaden würde, wenn ich mich jetzt wehre.
Also habe ich getan, als sei nichts. Es hat ja nicht wehgetan und ich war nicht in Gefahr. Es war nur unfassbar widerlich und entwürdigend. Am meisten vermutlich für seine Frau.

Exkurs
Nur falls das irgendjemand nicht gemerkt haben sollte: Ich lasse hier verbale Übergriffe aus! Und zwar nicht, weil es keine gegeben hätte, sondern weil ich nicht den Ehrgeiz habe, einen Roman zu schreiben!

Nee. Als Opfer hab ich mich nie gesehen. Es war doch „nur“ die „ganz normale“ sexuelle Belästigung! Schon mit neun Jahren habe ich Wege gefunden, mich davor zu schützen – es ist uns ja nichts passiert damals. Ich habe immer Wege gefunden, auch wenn ich dabei beinahe mal einen arglosen Jogger umgenietet hätte, der nachts unverhofft von hinten auf mich zurannte.

Auf die #metoo-Frage „bist Du schon einmal sexuell belästigt worden?“ mit „ja“ zu antworten, macht mich verdammtnochmal! nicht zu einem Opfer!
Opfer geworden bin ich jedes Mal, wenn mir das zugestoßen ist. Weil mir das zugestoßen ist. Wie wenn man Opfer eines Verkehrsunfalles oder einer Naturkatastrophe geworden ist. Das passiert ja auch nicht dann, wenn man es feststellt, sondern dann, wenn es einem passiert!

#Metoo also, weil es mir auch passiert ist. Punkt.
Ich hab nie gefunden, dass DAS mein Leben zu etwas Besonderem macht. Im Gegenteil, das war halt so. Das war normal! Das kannten wir alle. Für ein ganzes Frauenleben war es nicht einmal besonders viel. Traumatisiert oder verletzt hat mich das nicht. Es hat mich auch nicht ängstlich, humorlos, verklemmt, frigide, oder gar männerfeindlich gemacht. Und nein, ich bin auch nicht deswegen Feministin geworden. Die Geschichte erzähle ich vielleicht ein andermal …

Wenn das für mich alles so normal war und mir auch gar nicht geschadet hat, warum reite ich dann so auf dem Thema herum?

Weil es so verdammt allgegenwärtig ist!

Kürzlich las ich eine Geschichte, die das sehr schön illustriert.
Eine Professorin bittet ihre männlichen Studenten, einmal alles zu nennen, was sie in ihrem Alltag tun, um sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen.
Die Studenten gehen gründlich in sich, aber es will ihnen nicht recht etwas einfallen.
Dann bittet sie ihre Studentinnen, das selbe zu tun. Die Hände fliegen hoch:

  • „Mein Getränk immer im Auge behalten, damit niemand etwas hineinschütten kann!“
  • „Keine Kleidung tragen, die aufreizend wirken könnte!“
  • „Keine Unterwäsche tragen, die aufreizend wirken könnte!“
  • „Immer nur ganz wenig, oder besser gar keinen Alkohol trinken!“
  • „Nachts nicht die U-Bahn, sondern lieber ein Taxi nehmen!“
  • „Im Taxi hinten sitzen!“
  • „Immer auf den Rücksitz schauen, bevor ich in mein Auto steige!“
  • „Immer eine Taschenlampe dabeihaben, damit ich auch im Dunkeln auf den Rücksitz schauen kann!“
  • „Beim Joggen keine Kopfhörer tragen!“

Die Liste wird sehr sehr lang.

Und das ist meines Erachtens ein ganz wichtiger Punkt!
Ja, Männer werden ebenfalls diskriminiert! Sie erfahren Gewalt!
Und ja: Auch sexuelle Gewalt!
Und das ist furchtbar und darf nicht sein! Aber es bestimmt offensichtlich nicht ihren Alltag.“

Was mir Stand heute dazu einfällt: Dass mir immer noch etwas dazu einfällt. Das Thema hat nichts an Aktualität verloren.

Ich bin nach wie vor in der glücklichen Lage, nie Opfer brachialer sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Aber ich habe angefangen, über konsensualen Sex nachzudenken. Den es nicht gibt: Sex ohne Konsens ist Vergewaltigung.
Ich denke über den „semi-konsensualen Sex“ nach, den ich gelegentlich hatte.
„Abwägungs-Sex“ sozusagen: Fang ich jetzt ne Diskussion an, dass und warum ich keinen Bock habe, oder hab ich das Elend schneller hinter mir, wenn ich ihn einfach machen lasse?
Gruselig, nicht wahr?

Ich denke über solche Situationen nach, nach denen ich mir Vorwürfe gemacht habe, dass ich „ES“ nicht habe kommen sehen. Nicht etwa dem Mann, von dem der Übergriff ausging.

Für mich waren (und sind) sexualisierte Übergriffe so etwas wie Risiken im Straßenverkehr: Gibt’s! Musste halt aufpassen!
DAS finde ich gruselig!

Positive vibes only!

Ganz ehrlich?
Ich finde Menschen, die stets und ständig alles positiv sehen, in allererster Linie nervig!
Und ihre Haltung nicht ganz ungefährlich:
An einem Missstand, der nicht klipp und klar als solcher benannt wird, wird sich schwerlich etwas ändern.
Und – let’s face it! – manchmal ist das Leben hart aber ungerecht.
Nützt nix, sich das dann schönreden zu wollen.

Aber ich könnte ja auch klein anfangen und jeden Tag für etwas dankbar sein, für eine Kleinigkeit halt … obwohl Dankbarkeit für mein Gefühl ein ziemlich großes Wort ist.
Den Gegenstand meiner Dankbarkeit auf einen Zettel schreiben, die Zettel in einem Glas sammeln und dann, wenn’s mir mal richtig dreckig geht … Ihr wisst schon …

Und hej, ich hab das versucht!
Ich bin total dankbar für jeden Tag, an dem die Schmerzen auszuhalten sind!
Ich bin dankbar, wenn ich normal gehen kann – womöglich sogar zügig!
Ich bin dankbar für jedes Bisschen Normalität!
Nur wenn ich mir dann die Zettel in meinem Glas vorstelle, dann finde ich das … nun ja … langweilig …
Zumal ich ja mitbekomme, was für eine großartige „OMG was mir heute wieder Wunderbares passiert ist!“ Challenge man daraus machen kann, wenn man denn meint …

Nee. Das ist nicht meins.

Stattdessen hab ich sozusagen aus Versehen angefangen, „positiv zu sehen“ …
Ein Kommentar zum „Schweigen der Taucherin“ lautete „Schreib: wie lebst du?“.
Und so habe ich – wenn auch an ganz anderer Stelle – begonnen, Geschichten aus meinem Alltag auf einem Bauernhof zu erzählen. Weil es mir seinerzeit – zu Beginn der Pandemie – ein Anliegen war, ein Gegengewicht zu all den beunruhigenden, verstörenden Nachrichten zu schaffen, die mich erreichten.
Ich hatte bemerkt, wie gut es mir getan hat, die Berichte anderer Menschen zu verfolgen … von ihren Bemühungen, Sauerteig heranzuzüchten, zum Beispiel, oder Hefe, von ihren Schafen, ihren Blumen …

Also habe ich angefangen, vor meiner Nase nach Dingen Ausschau zu halten, die erzählenswert waren: Originell, erfolgreich, Glück im Unglück, trotz allem witzig, immerhin grandios gescheitert …
Und ich hab meinen Ehrgeiz darein gesetzt, sie so zu erzählen, dass das Lesen Freude machte.
Überflüssig zu erwähnen, dass das Leben auf dem Land nicht immer eitel Sonnenschein ist. Aber es gibt sie, die Momente, in denen kurz mal das Herz aufgeht! Es gibt sie auch.

Mein Blick ist aufmerksamer, aber auch liebevoller geworden: Ausgebüxte Ponies zum Hof zurückzubringen, ist ein zeitraubender Latsch, oder aber ein kontemplativer Spaziergang. Und was für ein Luxus, gemütlich mit ihnen dahinzuzuckeln und zuzuschauen, mit welch heiligem Ernst Pferde sich wälzen und an Bäumen schubbern können!
Jawohl, für diesen Luxus werde ich büßen: es bleibt ja Arbeit liegen, während ich so durch die Gegend schlendere … die werde ich nachholen müssen. Aber in diesem Moment ist die Welt einfach in Ordnung!

„Et kütt wie et kütt“ wie es das rheinische Grundgesetz so weise formuliert, ob ich aber diesen Moment genieße, oder mich schon vorab über den Stress gräme, den er nach sich ziehen wird, ist meine Entscheidung.

Ich bin am Ende des Tages nicht dankbar dafür, dass ich auch heute wieder die Ponies einsammeln durfte (das wär nun wirklich zuviel verlangt!), aber ich kann auf einen schönen Moment zurückblicken.

Und tatsächlich scheint ein solcher Blick mit der Zeit zur Gewohnheit zu werden.
Neulich hörte ich, dass wir uns mindestens 30 Sekunden lang mit einer Sache beschäftigen müssen, damit sie in unserem Gedächtnis gespeichert wird.
Das erklärt einiges, finde ich!
Horizont – traumhafter Himmel, Ponyschnute – samtweich, Hundeblick – herzzerreißend, Kater spielt in der Sonne – entzückend, Sonne auf der Haut – brennt angenehm … und PUFF! … weg!

Mit Dingen, die mich ärgern, beschäftige ich mich sehr viel länger.
Kein Wunder, dass, wenn die Gedanken schweifen, Erinnerungen auftauchen, so viele kränkende und verletzende dabei sind!
Seit ich das verstanden habe, versuche ich, mir die 30 Sekunden Zeit einfach zu nehmen.
Es sind nur! 30! Sekunden!
Und ich spar mir das Papier für die Zettel.


Mit der Zeit bin ich grundsätzlich zufriedener geworden, kann ungute Gefühle etwas besser gehen lassen und bin – damit hatte ich nicht gerechnet – nachsichtiger mit mir selbst.
Klar … was bei mir Tagewerk ist, erledigen andere nebenbei in ihrer Freizeit, aber ich habe ein Tagewerk! Ich wache morgens auf und habe Lust, Dinge zu tun.
Essig ansetzen, Senf herstellen, die erste Tarte tatin meines Lebens backen …
Hin und wieder habe ich mehr Ideen, als ich umsetzen kann, verzettele mich heillos und richte ein großes Chaos in der Küche an.
Ich seh das positiv: mit der zähen Antriebslosigkeit und dem niederschmetternden Eindruck, nichts habe irgendeinen Sinn, die mit Depression einhergehen, hat dieses Tohuwabohu nun gar keine Ähnlichkeit.

***

Den kompletten Kommentar zum Schweigen der Taucherin, für den ich gann uma tatsächlich dankbar bin, möchte ich Euch nicht vorenthalten:

Schreib:
wer bist du?
was willst du?
wie lebst du?
Krankheiten? Einschränkungen? bestimmen dich nicht.

gann uma

alltagstauchlich

Ich habe wahnsinnige Angst vor dem Zahnarzt.
Das mag schräg klingen, weil ich ja ständig mit irgendwelchen Ängsten beschäftigt bin, aber die meisten habe ich erst entwickelt, als ich etwa 30 Jahre alt war. Zahnarzt war schon immer furchtbar. Selbst wenn ich weiß, dass nur der Kiefer geröntgt werden soll, habe ich Angst. Und beim Entfernen von Zahnstein hat die Arzthelferin mich einmal gefragt, ob ich jetzt bitte! mal aufhören könne zu zittern.
Ich gehe seit über 30 Jahren zum selben Zahnarzt. Er hat meine Weisheitszähne gezogen, Kronen gesetzt und Wurzelentzündungen kuriert – immer so, dass der Schrecken mit einer einzigen Behandlung ausgestanden war. Und immer, immer alles mit Betäubung!
Ein einziges Mal hat er mich gefragt, ob „wir“ es denn heute wohl mal ohne Betäubung schaffen würden. Und mich, nachdem ich die Farbe gewechselt hatte, angegrinst und „War nur Spaß!“ gesagt …
Ich erwäge sehr ernsthaft, sollte an meinen Zähnen mal „was gemacht werden“ müssen, dafür nach Deutschland zu reisen.
Und so bin ich völlig erschüttert, als mir mirnixdirnix die Krone von einem meiner Backenzähne fällt. Mit sowas hatte ich nicht gerechnet!
Okay, die Erstversorgung kann der Zahnarzt in Alès machen, zu dem ich auch für die jährliche Kontrolluntersuchung (die man in Frankreich übrigens nicht kennt) gehe. Leider allerdings kann mich ausgerechnet jetzt niemand dorthin begleiten. Die Worte für „Zahn“, „Schmerz“ und „Angst“ kenne ich zwar, auch „Krone“ ist schnell nachgeschlagen, aber ich befürchte sehr, dass ich seine Antwort, sofern sie nicht absolut unkompliziert sein sollte, nicht verstehen werde.
img_21362-webWas, wenn der Schaden größer ist (für meine Zungenspitze jedenfalls fühlt er sich gigantisch an) und er den Zahn ziehen will?
Dass mir ausgerechnet jetzt die Buddenbrooks, insbesondere der Tod von Thomas Buddenbrook, einfallen, macht die Sache keineswegs besser …

Auf der Fahrt nach Alès vergesse ich meine Ängste:
Nach 250 Metern fällt mit einem satten „Plock!“ das Navi von der Windschutzscheibe: Anhalten, Gang raus, Handbremse ziehen, Gummifuß wieder an die Scheibe pappen.
Ungefähr ab „Plock!“ Nummer fünf beginne ich Mord und Brand zu fluchen. Insgesamt werden es 18 oder so und in einem Drittel der Fälle landet Navigatski so unglücklich auf seinem Touchscreen, dass ich die Einstellungen korrigieren muß. Am härtesten trifft es mich, als es ihm die Sprache verschlägt: Man mag das Geplapper nervig finden, aber spätestens wenn ich in Alès bin, möchte ich die Augen ausschließlich auf der Straße haben! Dorthin würde ich auch ohne Navi finden, aber bis ich da bin, sollte dieser vermaledeite Gummifuß verlässlich an der Scheibe haften. Es ist blöd genug, auf dem kurvenreichen, aber einsamen Pass ständig anzuhalten – in der Stadt würde es mir vermutlich zu einem Herzkasper verhelfen. Glücklicherweise habe ich bei einer Stunde Fahrzeit reichlich Gelegentheit für Befestigungsversuche und mit Geduld und (tatsächlich!) Spucke gelingt es irgendwann.

Ich bin manchmal monatelang nicht in der Stadt und wenn, dann als Beifahrerin. Zwar gehört Autofahren zu den Dingen, vor denen ich tatsächlich mal keine Angst habe, die Verkehrsführung in Alès allerdings ist auch so ziemlich gewöhnungsbedürftig. Und die Kreisverkehre sind mir bis heute ein großes Faszinosum: Wenn die Fahrbahn breit genug ist, wird mehrspurig gefahren. Wer bei der nächsten Ausfahrt (oder jedenfalls bald) rausfahren will, hält sich rechts, alle anderen fahren links: Je länger man im Kreisverkehr bleiben will, desto mittiger hält man sich. Nähert man sich der angestrebten Ausfahrt, „driftet“ man nach außen. All das auf einer Fläche, die sehr viel mehr an ein Kinderkarussell gemahnt, als an eine Rennstrecke. Erstaunlicherweise funktioniert das sehr gut, was womöglich daran liegt, dass Südfranzosen sehr viel entspannter und defensiver Auto fahren, als ich es aus Deutschland gewöhnt bin. Trotzdem finde ich es sehr aufregend!
In meiner Aufregung verpasse ich mehr als einmal die richtige Ausfahrt, was glücklicherweise ja kein Problem ist: Ich ziehe also nach innen, ziele sorgfältig und drifte wieder nach außen. Hatte ich erwähnt, dass der Berufsverkehr in Alès ganz genau so ist, wie in allen größeren Städten?
Als Navigatski mir ungefähr eine Minute vor meinem Termin endlich erklärt, ich habe nunmehr mein Ziel erreicht, trifft mich fast der Schlag: Ich stehe irgendwo im Nirgendwo, hinter einem Zaun kläfft ein Hund mein Auto an. Mir fällt wieder ein, dass mir das in Alès trotz korrekter Adresseingabe schon mehrfach passiert ist. Nicht, dass mir die Erkenntnis irgendetwas nutzen würde …
Ich habe Glück im Unglück: Weil er ganz in der Nähe der Zahnarztpraxis liegt, soll ich etwas aus einem Bioladen mitbringen und habe mir vorsichtshalber dessen Adresse aufgeschrieben (auf „beim Zahnarzt raus und dann rechts um die Ecke“ habe ich mich nicht zu verlassen getraut).
Also den Bioladen einkreisen und dabei nach dem Gebäude Ausschau halten, in welchem sich die Praxis befindet … Was tatsächlich funktioniert. Schweißgebadet aber halbwegs pünktlich erscheine ich beim Zahnarzt.
Wo ein kleines Wunder geschieht: Der Zahn ist völlig in Ordnung und die Krone kann er einfach wieder darauf festkleben. Das verstehe ich ohne Probleme und fünf Minuten später ist alles erledigt.
Anschließend bin ich so in Schwung, dass ich mir den folgenden Einkauf (inklusive eines weiteren Driftings) geradewegs aus dem Ärmel schüttele.
Ich bin total stolz auf mich!
Denn natürlich hätte ich darauf bestehen können, dass mich jemand begleitet, mich darauf zurückziehen, dass das alles zu viel für mich ist! Habe ich aber nicht!
Und genauso natürlich war es zu viel:
Am nächsten Tag liege ich auf der Nase. Nicht etwa depressiv, ich bin völlig zufrieden mit mir … aber vollkommen erschöpft. Fix und fertig, weil ich tatsächlich allein in die Stadt gefahren bin und den Zahnarzt aufgesucht habe. Ich bin trotzdem total stolz!

Wenn Taucherinnen hoch hinauswollen

„…Ich empfinde in solchen Momenten überhaupt keine Angst. Ich verspüre Paniksymptome…“ hatte ich neulich geschrieben und die Schieferliebe hat kommentiert, sie würde sehr gerne verstehen, was der Unterschied zwischen Angst und Panik ist.

Ich nehme zwar nicht an, dass die offizielle Definition gemeint ist, habe aber – der guten Ordnung halber – dennoch nachgeschlagen …
Wenn man es ganz genau nimmt, sind schon Angst und Furcht nicht das selbe: Angst ist ein eher ungerichtetes, diffuses Gefühl, Furcht dagegen bezieht sich auf ein bestimmtes Objekt, eine konkrete Situation. „Angst kommt von innen, die Furcht von der Außenwelt“ ist, finde ich, eine ganz schöne Beschreibung dafür. Im Alltag werden Angst und Furcht jedoch synonym verwendet.
Panik wird als abrupt auftretender Angst- oder Furchtzustand beschrieben, der mit vielfältigen körperlichen Symptomen einhergeht. Dabei, so lese ich, könne es zu einer Einschränkung der höheren menschlichen Fähigkeiten kommen. Treffender scheint mir Beschreibung, Panik sei durch planlose, ungezielte, chaotische Flucht gekennzeichnet. Das scheint mir, was das Gefühl betrifft, selbst für solche Momente passend, in denen ich in meiner Panik irgendwo „festfriere“.

Was aber bedeuten Angst, Furcht und Panik für mich?

Wenn ich bei feuchtem Wetter über Felsen klettern muß, befürchte ich, auszurutschen und zu stürzen. Wenn man die hiesigen Felsen nebst dem unangenehmen „Glitsch“ kennt, der bei Nässe an ihnen haftet und auf dem man selbst mit Bergschuhen keinen vernünftigen Halt findet, dann ist das eine realistische Einschätzung eines riskanten Unterfangens.
Dass ich mich dabei immer gleich mehrere Meter tief abstürzen und schwer verletzt daliegen sehe, dürfte eher meiner Angst geschuldet sein. An ganz schlechten Tagen fällt mir die Geschichte von der Frau ein, die hier bei einem Spaziergang von einer Mauer gestürzt ist und erst Monate später gefunden wurde … sollte ich dann bemerken, dass mein Handy nicht an der Frau, sondern zum Aufladen an der Steckdose hängt, fange ich an, mich sehr unwohl zu fühlen.
Dann beginne ich, meine Schritte übervorsichtig zu setzen, halte mich an Ästen fest, oder rutsche zur Not auf dem Allerwertesten bergab.

Die einzige Befürchtung, die ich jemals in Bezug auf Supermärkte gehegt habe, war die, ausfallend zu werden und das x-te Papaschiebtganzlangsamdeneinkaufswagenmamaschlendertdanebendiekinderumkreisendasganzemitihrenscheißgelbenminieinkaufswagen-Gespann kurzerhand lauthals aus dem Weg zu fluchen. Oder ehrlicher: Anlauf zu nehmen und sie mit meinem Einkaufswagen beiseite zu rammen.
Das hätte Ärger gegeben – insofern eine realistische Einschätzung.
Ich empfinde keine Bedrohung. Es gibt keinerlei Kopfkino, was im schlimmsten Falle passieren könnte. Ich fühle keine Angst.
Dennoch steht „Supermarkt“ auf der Hitliste meiner Auslöser für eine Panikattacke nach wie vor ganz weit oben.

Der erste Vorbote der Panik ist – was mich betrifft – ein trockenes Hüsteln.
Unterdessen habe ich begonnen, es als Warnsignal zu nutzen: Wenn ich mich selber hüsteln höre, ist es an der Zeit, nach Störfaktoren Ausschau zu halten und Entlastungsmöglichkeiten zu suchen.
Im zweiten Schritt wächst der Druck auf den Brustkorb, ich kann nur noch unter Schwierigkeiten Luft holen. Lange bevor ich tatsächlich zu zittern beginne, kann ich das Zittern in mir spüren. Messen kann man es auch: Wenn ich beginne, mich zittrig zu fühlen, ist mein Blutdruck extrem hoch. Ich muß aufpassen, beim Gehen nicht zu stolpern und mich sehr konzentrieren wenn ich zum Beispiel ein Glas hochheben will. Irgendwann kommen mir die Tränen. Wenn es arg ist, beginne ich dann auch zu hyperventilieren.
Dennoch habe ich keine Angst. Mir ist bewußt, dass die Situation, in der ich mich befinde, objektiv ungefährlich ist. Ich weiß, dass ich weder ersticken, noch einen Herzinfarkt bekommen werde.

Ich muß also nicht unbedingt Angst haben, um Panik bekommen. Andererseits stellt sie sich sehr zuverlässig ein, wenn ich meine Angst zu ignorieren versuche.
Die leider recht zahlreichen Gelegenheiten, bei denen ich mit zusammengebissen Zähnen versucht habe, über meine Höhenangst hinwegzugehen, haben in der Regel so ihr Ende gefunden. Ich erinnere mich an eine Bergtour, bei der ich irgendwann ganz ruhig mitgeteilt habe, ich müsse mich kurz mal setzen und dann nicht mehr hochgekommen bin. Ich konnte nicht nur nicht aufstehen, sondern mich überhaupt nicht mehr bewegen.
Sie bleibt jedoch aus (was ich sehr zu schätzen weiß!), wenn es tatsächlich Grund zur Furcht gibt:
Auf einem der wenigen Gipfel, die es mir tatsächlich doch zu erklimmen gelungen ist, sind wir in ein Gewitter geraten und damit war völlig klar „wir müssen auf dem schnellsten Weg hier runter!“.
Besagter schnellster Weg war ein seilversicherter Steig von der Sorte, die ich normalerweise meide wie der Teufel das Weihwasser. Aber da half nun alles nichts.
Wenn es auf solchen Wegen ein Stahlseil gibt, klammere ich mich daran fest. Auch wenn es gar nicht nötig oder auch nur sinnvoll ist, selbst wenn ich mir an solchen Stellen, wo es auf dem Fels aufliegt, die Fingerknöchel blutig schlage: Ich kann nicht anders. Ich kann das Seil nicht loslassen! Aber natürlich darf man bei Gewitter das Seil gar nicht erst anfassen
Also habe ich noch eine gallige Bemerkung im Sinne von „Rumzicken ist jetzt wohl nicht opportun …“ gemacht und bin dann zügig und freihändig Richtung Tal abgestiegen.
Also alles nur Rumzickerei? Ich denke nicht.
Meine Höhenangst ist irrational. Panik ebenfalls.
Die Einschätzung dagegen, bei Gewitter auf einem Berggipfel und in unmittelbarer Nähe von Metallteilen in Gefahr zu sein, ist rational. Und auch, wenn ich sonst ab und zu irrational reagiere: ich bin nicht verpflichtet, das immer zu tun!

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, wie wenig meine Ängste mit tatsächlichen Gefahren zu tun haben – und wie wenig ängstlich ich diesen gegenüber manchmal bin.
Wie gesagt, ich befürchte nicht nur, zu stürzen, ich stürze immer gleich ab. Und selbst wenn das objektiv unmöglich ist und ich höchstens auf dem Hintern landen werde, habe ich Angst, mir wehzutun, mich zu verletzen.
Passiert ist mir das nur ein einziges Mal, als ich ganz und gar angstfrei in meinen lieben „Pfötchenschuhen“ einen Waldweg entlanggelaufen bin – da hab ich mir einen toten Ast so unglücklich in den Fuß gebohrt, dass die Wunde mit 5 Stichen genäht werden musste. Was mich keineswegs davon abgehalten hat – nachdem die Wunde halbwegs verheilt war – weiterhin in denselben Schuhen durch den Wald zu streifen.

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Bei meinem ersten Versuch, hier in den Cevennen weglos zu wandern, habe ich mich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben im Gelände verlaufen. Ich hatte lediglich vorgehabt, einen Hügelkamm zu überqueren, um von einem mir bekannten Weg auf einen anderen zu gelangen. Der Felssturz, der dies verhinderte, hat mich nicht weiter angefochten, ebenso wenig wie der Umstand, dass es mir nicht gelungen ist, auf genau dem selben Weg zurück zu gehen. Die hiesigen Hügel sind von einem Netz von vermeintlichen Trampelpfaden und Wildwechseln überzogen, welches so engmaschig ist, dass sich alle paar Meter der Weg zu gabeln scheint: Dreht man sich um, sieht man anstelle des einen Weges, auf dem man gekommen ist, plötzlich drei. Ohne Ariadnefaden oder Brotkrumen ein schier unmögliches Unterfangen. Selbst die Jäger, die sich in den Hügeln bestens auskennen, helfen sich mit Steinmännchen. Die meisten dieser Wege enden in einer Wildscheinsuhle, an einer Felswand, oder schlicht in undurchdringlichem Gestrüpp.
Ein Problem schien mir das nicht zu sein: Ich habe ein Gefühl dafür, in welcher Richtung sich mein Ausgangspunkt befindet und finde stets dorthin zurück. Nicht immer auf dem geraden Weg, versteht sich – Felswände oder Schluchten kann ich natürlich nicht vorausahnen – aber ich weiß immer, wohin ich mich wenden muß.
Zumindest wusste ich es immer. Vermutlich orientiere ich mich unbewusst an Landmarken und genau die fehlen weitgehend, wenn man sich zwischen lauter identisch aussehenden grünen Hügeln bewegt. Gemauerte Terassen, Felsformationen, skurril aussehende tote Bäume … all das wiederholt sich in einer solchen Masse, dass nichts davon mehr einen brauchbaren Hinweis ergibt. Wenn man gerade mal wieder bäuchlings durchs Gestrüpp kriecht, sowieso nicht …
An diesem besonderen Tag war es überdies regnerisch und neblig …
Ich habe den Weg, auf dem ich gekommen war, nicht wiedergefunden. Und da ich den Hügelkamm nicht überqueren konnte, habe ich beschlossen, ihn zu umrunden. Als mir das gelungen war, riß der Nebel auf … und gewährte den Blick in ein mir vollkommen unbekanntes Tal. Da hab ich mich dann auch kurz mal setzen müssen. Mein Handy hatte ich nicht dabei, wohl aber meine Hundepfeife und mit der habe ich SOS gepfiffen. So macht man das in den Bergen. Ich hab nicht lange gepfiffen bis mir klar wurde, dass weit und breit niemand war, der mich hätte hören können. Da hab ich dann ein bißchen geweint. Und mich wieder aufgerappelt.
Letztlich war es Oskar, der mich aus der Bredouille geholt hat: Er ist gut darin, Trampelpfade zu finden und er bevorzugt solche, die von Menschen benutzt werden. Und so hat er mich tatsächlich auf einen Jägerpfad geführt, der an einem Wirtschaftsweg endete. Wo ich war, wusste ich da immer noch nicht, aber hej! Zivilisation!
Nach insgesamt vier Stunden habe ich nass, verfroren, mit diversen blauen Flecken und blutigen Schrammen (der Glitsch!) den Hof erreicht, den ich nur für ein kurzes Gassi hatte verlassen wollen.
Wo ich eigentlich gewesen und wie ich dort hingeraten bin, hat sich auch mit Hilfe von Karten und Luftbildern bisher nicht klären lassen – womöglich ein cevenoles Brigadoon
Diese Erfahrung hat mich zwar gelehrt, bei Nebel und Regen auf den Wirtschaftswegen zu bleiben, meine Unternehmungslust ansonsten jedoch keineswegs geschmälert. Es ist mir noch mehr als einmal passiert, dass meine Spaziergänge … nun ja … dann doch mehr Zeit in Anspruch nahmen. Wenn mir die Richtung zu stimmen scheint, robbe ich immer noch bäuchlings durchs Gestrüpp und hangele mich an Felsen hoch – wohl wissend, da es da ganz sicher nicht zurück geht. Ich gehe nicht mehr ohne Handy los, auch wenn es wenig nutzt sofern man nicht sagen kann, wo man verletzt liegt. Das GPS Gerät mitzunehmen allerdings, ist mir nie in den Sinn gekommen …
Wo bliebe die Herausforderung?

Ich bin in’s Erzählen gekommen und stelle fest, dass ich mich von der eigentlichen Frage nach dem Unterschied zwischen Angst und Panik weit entfernt habe. Für mich spielt er keine große Rolle: Beide suchen mich hin und wieder auf, jede zu ihren Bedingungen.
Sie am Beispiel meiner Höhenangst zu betrachten, bot sich an, finde ich: Die ist so schön abgezirkelt und nachvollziehbar. Und sie ist – obwohl vergleichsweise leicht vermeidbar – diejenige meiner Ängste, gegen die ich am erbittertsten angerannt bin. Wir haben schon eine Menge Zeit miteinander verbracht.
Dennoch habe ich nie wirklich darüber nachgedacht, wie es für mich ist, mit ihr zu leben.
Danke für die Gelegenheit, das endlich einmal zu tun!

 

Wellness mit Schattenseiten

„Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, mach Limonade!“ hab ich mir gesagt und nach Kräften versucht, einer an sich unerfreulichen Situation möglichst viel Positives abzugewinnen.
Im Nachhinein scheint mir „denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“ das passendere Motto für das „Experiment Wellness“ zu sein …

Eigentlich halte ich nicht viel vom Fasten.
Unter anderem, weil es bisher nicht gelungen ist, im menschlichen Körper Schlacken zu entdecken, derer man sich auf diesem Wege entledigen müsste. Auch, weil es mich merkwürdig und teilweise unangenehm berührt, wenn Menschen, die sich ansonsten in einer Überflussgesellschaft pudelwohl fühlen, plötzlich den kurzfristigen Verzicht auf einen winzigen Bruchteil davon zum Weg des Heils erklären. Vor allem aber, weil ich zu denjenigen Menschen gehöre, die, wenn sie unter Druck geraten, nicht mehr essen können.
Das mag im ersten Wurf erstrebenswert klingen, wenn man zum Beispiel gegenteilig veranlagt ist und zum Frustfressen neigt. Ist es aber nicht.
Irgendwie ist es mir zwar immer gelungen, nicht in den Bereich zu geraten, in dem Untergewicht gefährlich wird, aber ein Vergnügen war auch das nicht.
Nicht zu essen, obwohl ich es will und kann, wäre mir nicht in den Sinn gekommen.

Jetzt allerdings muss ich zwecks Ausschluss einer Lebensmittelunverträglichkeit eine Zeitlang Diät halten (auch das ist eine Premiere) und habe mich entschlossen, zu Beginn 2 Tage lang nichts zu essen. Einfach, um einen deutlichen Break zu haben.
Allzu schwer wird mir das nicht fallen, denke ich: Auch wenn ich mittlerweile regelmäßig und mit dem größten Vergnügen esse, macht es mir nach wie vor nicht viel aus, auch mal Kohldampf zu schieben. Aber es widerstrebt mir. Und also beschließe ich, meine Fastentage in ein Wellness-Wochenende umzuwidmen und mir neben Tee und Gemüsebrühe Yoga, Meditation und reichlich Freizeit zu gönnen.

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Ich beginne meinen Tag mit einem Bodyscan.
Von den Achtsamkeitsübungen ist diese mir eine der liebsten: Idealerweise praktiziert man sie morgens oder abends und zwar im Liegen. Das passt mir gut.
Oookay, eigentlich auf dem Bett (Sofa, oder Fußboden), aber so groß wird der Unterschied schon nicht sein und ich kann auf diese Weise die Zeit, während derer es mir morgens nicht gelingt, das Bett zu verlassen, wenigstens sinnvoll nutzen.
Interessanterweise bin ich danach meistens so munter, dass ich problemlos aufstehen kann.

Die Idee des Bodyscans ist es, nach und nach jedem einzelnen Körperteil kurz seine Aufmerksamkeit zu schenken, wahrzunehmen, was man dort empfindet und dann weiterzugehen.
Eine Absicht, oder ein Ziel gibt es hierbei nicht: Man kann sich dabei entspannen oder auch nicht, etwas, etwas anderes, oder auch mal gar nichts empfinden und wenn man zwischendurch abgelenkt ist, weil man doch über etwas nachdenkt oder ins Träumen gerät, dann ist auch das kein Fehler, sondern man nimmt es wahr und übt dann weiter.
Gar nicht mal so einfach übrigens!
Es fällt mir nicht leicht, meine Konzentration auf meinen Fuß zu fokussieren während sie nach dem Motto „ich weiß schon, wie das geht!“ schon mit meinem Unterschenkel beschäftigt ist. Unwillkürlich habe ich das Bild einer wuseligen Spinne vor Augen, die zwei, drei mal um meinen Fuß herumrennt und dann an meinem Bein hochflitzen will. Es ist eine drollige, plüschige Spinne, die mich an meinem Bein trotz Phobie nicht weiter stört, ob sie aber auch dann noch zur Visualisierung taugt, wenn sie mir am Rücken hochkrabbelt, wage ich zu bezweifeln. Ich lasse das Tierchen also davonkrabbeln und wende mich wieder meinem Fuß zu.
Die Übungs-CD, die ich mir gekauft habe, um sicherzugehen, dass ich alles richtig mache, nervt leider nach kurzer Zeit mehr, als sie nutzt:
Die Erläuterungen am Rande, die in regelmäßigen Abständen darauf hinweisen, daß man nichts bestimmtes fühlen muss und, falls man zwischendurch abschweift, seine Aufmerksamkeit einfach freundlich und ohne Ärger dorthin zurücklenken soll, wo man sie haben möchte, reißen mich beim wiederholten Anhören eher aus meiner Konzentration, als dass sie noch hilfreich währen.
Vor allem aber macht mich das Timing wahnsinnig!
Auf der linken Seite, mit der man beginnt, habe ich ewig Zeit, in jeden einzelnen Zeh hineinzufühlen, bekomme alle Teile meines Fußes benannt und dann geht es unter wortreichen Erläuterungen langsam am Bein hoch bis zum Oberschenkel.
Dann soll ich das ganze Bein fühlen. Und während ich mich noch bemühe, meinen Fokus auszudehnen – so ein Bein ist schließlich lang! – steuert die CD schon zügig meinen rechten Fuß an.
Die ganzen Erläuterungen brauche ich jetzt natürlich nicht nochmal und so habe ich für das komplette rechte Bein gefühlt in etwa soviel Zeit, wie links für die Zehen.
Ganz besonders fuchst mich der Teil, in dem ich mich meinen Armen widmen soll: Nachdem bis dahin jede Körperregion in einzelnen Teilen erfühlt worden ist, arbeiten wir die Arme mal eben komplett ab. Beide gleichzeitig.
So kann ich nicht meditieren!
Und natürlich lässt einem eine CD nicht die Zeit, zu tun, wozu im Text geraten wird und zum Beispiel wahrzunehmen, ob und wie ein Gedanke die Empfindungen des Körpers verändert.
Eine Schlußformel, wie ich sie vom autogenen Training kenne, vermisse ich ebenfalls.
Irgendwann ertönt ein Gong und man weiß, daß man jetzt auf „stop“ drücken muss, wenn man nicht gleich in die nächste Übung stolpern will.
Immerhin jedoch habe ich nun eine Idee vom genauen Ablauf der Übung und kann sie zukünftig ungestört und mit meinem eigenen Timing praktizieren.
Was genau sie eigentlich bewirkt, vermag ich nicht zu sagen.
Die Empfindungen sind – weder in den einzelnen Körperteilen, noch insgesamt – nicht immer gleich. Oft bin ich anschließend sehr entspannt, manchmal aber auch so unzufrieden und gereizt, daß ich kaum stilliegen kann.
Aber ich bin in letzter Zeit sehr viel ausgeglichener als sonst und hoffe sehr, dass dies kein Zufall ist.

Für meine Yoga-Übungen rolle ich eine alte Isomatte und ein Badelaken auf der Terrasse der Fermette aus: Eine Art Dachterasse mit Holzboden, die um die Mittagszeit in der Sonne liegt.
Ein Plätzchen in der freien Natur wäre sicherlich noch schöner, aber dort wird der „herabschauende Hund“ ganz sicher in anderer Form auftauchen, als ich das brauchen kann.
Der Himmel ist postkartenblau mit Wattewölkchen, die von der Sonne aufgezehrt werden. Ganz hoch oben schwebt ein Raubvogel.
Vermutlich würde man sich schon wunderbar fühlen wenn man einfach nur hier liegt und in den Himmel schaut …

Da ich irgendwo mal gelesen habe, dass beim Heilfasten auch gewandert wird, runde ich den Tag noch mit einem ausgiebigen Hundespaziergang ab.

Der Krimi allerdings, den ich mir am Abend anschaue, bringt ungeahnte Schwierigkeiten mit sich: Ein Teil der Handlung spielt in einem italienischen Restaurant und es werden jede Menge Pizzen verspeist.
Ich merke, dass ich dann doch ziemlichen Hunger habe.

***

Am zweiten Tag wird deutlich, warum es schick ist, zum Fasten eine Kurklinik aufzusuchen. Nicht, dass ich ärztliche Hilfe nötig hätte: Mich holt schlicht und einfach der Alltag ein. Und so ersetze ich meine zweite Fastenwanderung durch eine Suche nach einigen ausgebüxten Schafen. Aus dem gleichen Grund entfällt auch Yoga.
Eine Kur würde mich außerdem der Notwendigkeit entheben, mir meinen eigenen Diätplan auszudenken. Stattdessen erstelle ich Listen erlaubter Lebensmittel und sinniere über entsprechende Rezepte, was meinen Magen in lautstarke Empörung verfallen läßt. Ich beschließe, dann doch lieber zu meditieren und probiere eine der anderen Übungen auf meiner CD aus. Mein Magen beruhigt sich und ich finde, dass zwei Tage ohne Essen sich eigentlich ziemlich gut aushalten lassen.
Wenn ich nachts nur nicht so frieren würde … aber es ist ja so gut wie geschafft!

***

Von einem feierlichen Fastenbrechen kann man vermutlich nicht reden, so nach zwei Tagen. Sagen wir stattdessen, ich hab mich wie Bolle auf meine erste Mahlzeit gefreut, „Diätfraß“ hin oder her!
Dann jedoch gibt es einen Streit und vielleicht bin ich dann doch so ein kleines bißchen angeschlagen. Vermutlich hätte ich mir den normalerweise nicht ganz so sehr zu Herzen genommen. Jetzt aber scheint es mir unmöglich, in dieser Stimmung meine erste Mahlzeit einzunehmen.
Das ist schlimm für mich. Sehr schlimm.
„Ich lasse mich nicht vom Essen abhalten!“ war in den letzten Jahren ein ganz wichtiges Motto für mich: Selbst wenn ich mein Essen unter Tränen heruntergewürgt habe, ich habe gegessen.
Das mag ernährungsphysiologisch, psychologisch und überhaupt fragwürdig sein, aber ich wollte nie wieder auf die Schiene geraten, unter Druck das Essen einzustellen. Nicht mit einer einzigen Mahlzeit! Und hastdunichtgesehen bin ich wieder da …
Das macht mir eine Scheißangst. Ich mache mir eine Scheißangst!
Selbstverständlich ist mir klar, dass ich jederzeit in die Küche gehen und mir etwas zu essen machen kann. Ich kann die komplette Speisekammer plündern. Ich kann meine Fastentage in Schall und Rauch aufgehen lassen! Diät? Andermal …
Ganz genau so, wie Raucher und Trinker jederzeit aufhören können …
„Morgen. Morgen hör ich auf!“
„Heute faste ich noch, ein dritter Tag wird nicht schaden. Morgen ess ich dann wieder was!“
Es gelingt mir, noch am selben Abend etwas zu essen, aber es dauert mehrere Tage, bis ich wieder das Gefühl habe, selbstverständlich an den Mahlzeiten teilnehmen zu können. Mit Hunger und Spaß – ohne mich zu zwingen.
Allmählich lässt auch das Tief wieder nach, in welches ich zwischenzeitlich abgeschmiert bin. Eines der übelsten seit Monaten.

Mittlerweile juckt es mir in den Fingern, das Limonaden-Motto auf meine Ausschlußdiät anzuwenden: Wär doch gelacht, wenn man damit nicht richtig lecker kochen könnte! Anscheinend finde ich zu meiner alten Form zurück …
Ob man Wellnesstage (zumal hier auf dem Land) tatsächlich planen kann, bin ich mir nicht sicher. Vielleicht muß man sie stehlen. Dem lieben Gott die Zeit stehlen …
Ich beschließe, eine trickreiche Diebin zu sein.
Aber nie, niemals wieder will ich fasten!

Wenn Taucherinnen sich freischwimmen

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Einkaufen war über lange Jahre eine Aktivität, für die ich mich regelrecht wappnen musste und nach der ich stets erholungsbedürftig war:
Menschenansammlungen, zumal in geschlossenen Räumen verursachen mir Beklemmungen. Und Supermärkte sind einfach … zu … bunt. Zu grell ausgeleuchtet. Zu viele Details, zu viele Entscheidungen. Zu alles. Kommen dann noch Musikberieselung, Lautsprecherdurchsagen und womöglich eine gewisse Hektik hinzu, hab ich ganz schnell meine Grenzen erreicht.

Die hiesigen Einkaufstouren, bei denen alles, aber auch wirklich alles von Bioladen bis Baustoffhändler in einem Aufwasch erledigt wird, weil der Weg in die Stadt so weit ist, dass Einzelfahrten sich nicht lohnen, hätten demnach alle Aspekte von Flooding aufweisen müssen, was zu meiner großen Erleichterung jedoch nicht der Fall war.
Das liegt ganz sicher unter anderem daran, dass ich nicht nur in, sondern die Begleitung bin – die Verantwortung für den Einkauf ruht nicht auf meinen Schultern: Wenn ich mittendrin völlig entschleunige und nur noch dastehe und das Keksregal anstaune, geht der Einkauf trotzdem weiter. Wenn das Warten an der Kasse zu viel wird, weil ich statische Situationen in großer körperlicher Nähe anderer Menschen nicht gut aushalten kann, dann geh ich halt raus.
Es scheint mir aber auch an der Mentalität der Südfranzosen zu liegen.
Obwohl die Gänge in den großen Supermärkten sehr viel breiter sind, als ich das aus Deutschland gewöhnt bin, gibt es natürlich auch hier jene begnadeten Einkäufer, die mit tödlicher Sicherheit einen Weg finden, diese maximal zu blockieren. Nur scheint es niemanden aufzuregen. Dann wartet man halt kurz. Und wenn man doch mal vorsichtig um jemanden herummanövriert, reagiert dieser meist mit einem charmanten, aber völlig gelassenen „Pardon!“. Lächelnd …
Auch hier kommt es vor, dass man in der Kassenschlange mal mit einem Einkaufswagen „angedotzt“ wird, aber das subtile, permanente „nur ein bißchen zu nah auf die Pelle rücken“, das mir schnell heftiges körperliches Unbehagen verursacht, gibt es kaum.
Selbst kurz vor Weihnachten ist diese latent aggressive Eile nicht zu spüren, die einen darüber nachdenken lässt, ob womöglich die Supermärkte nie wieder öffnen werden und die Leute zum letzten Mal die Gelegenheit haben, Lebensmittel einzukaufen.
Am faszinierendsten finde ich, was passiert, wenn eine neue Kasse öffnet: Gewohnheitsmäßig rechne ich damit, dass diejenigen, die am weitesten hinten in der Schlange standen, Vollgas geben, um an der neuen Kasse die ersten zu sein. Stattdessen gibt es eine Art wortloser Verständigung, auf die hin der hintere Teil der Schlange zur neuen Kasse umschwenkt, ohne dass die Reihenfolge sich ändern würde.
Einmal habe ich erleben dürfen, dass es an der neu eröffneten Kasse technische Schwierigkeiten gab, und die Menschen, die hierher gewechselt waren, umso länger warten mussten. Es war keinerlei Aufregung zu spüren.

Neulich nun ist es mir tatsächlich passiert, dass ich „den Hut für den Einkauf aufhatte“.
Zwar hat mich einer unserer Volontäre begleitet (alleine hätte ich mich das schwerlich getraut), aber der kannte nicht die Läden, wusste nicht, was benötigt wurde und auch seine Französischkenntnisse blieben ein wenig hinter meinen Hoffnungen zurück. Letzteres wäre mir als die größte Hürde erschienen, hätte ich es vorher gewusst. Einen Menschen dabei zu haben, hinter dem man sich – für alle verständlich – verstecken kann, weil man die Landessprache nicht beherrscht, bietet eine Menge Schutz; man muss nur achtgeben, dass man nicht unverhofft angesprochen wird, wenn der „Dolmetscher“ gerade außer Sicht ist. So aber habe ich mich (haben wir uns) ohne Schutzwall und ohne sicherheitshalber nachgeschlagenes Vokabular munter radebrechend ins pralle Leben gestürzt. Ging auch!

Meinem Begleiter wird das nicht weiter spektakulär erschienen sein …
Für mich war es ein Durchbruch, auch wenn ich das erst später so richtig begriffen habe.
In erster Linie war ich stolz, dass wir alles alleine hingekriegt haben. Und wir hatten Spaß dabei!
Dinge hingekriegt, weil sie nun mal nötig waren, habe ich früher auch. Zur Not halt mit fest zusammengebissenen Zähnen.
Der Spaß ist neu!

„Du kriegst das, wenn es Dir in den Kram passt!“

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Autsch! Das saß …

Neben den üblichen Auslösern kann es natürlich auch schlichte Aufregung sein, die mich plötzlich bibbern und nach Luft schnappen läßt.
Bei Meinungsverschiedenheiten zum Beispiel, wenn ich mich mißverstanden, geringschätzt, ungerecht behandelt fühle.

Was – zugegeben – schnell gehen kann.

Wenn mir eine Stunde vor der Party, auf die ich mich seit Tagen gefreut habe, klar wird, dass da viele Menschen in einem Raum sein werden. Richtig viele. Dass da Musik laufen wird und zwar LAUT.
Wenn mir also eine Stunde vorher klar wird, dass ich es wieder mal nicht schaffen werde.
Wenn das mal wieder soweit ist, dann ziehen
„Reißdichmalzusammenversuchswenigstensdubistunzuverlässigundversaustallendenabend“ Diskussionen mir ratzfatz den Boden unter den Füßen weg.

Es geht mir nicht darum, in solchen Momenten meinen Willen durchzusetzen!
Ich will das doch gar nicht!

Natürlich ist es schwierig, mit einem zitternden und weinenden Bündel Diskussionen zu führen. Nein, es ist unmöglich. Man muß mindestens warten, bis das Bündel sich beruhigt hat, besser noch trösten und es dann gaaanz vorsichtig nochmal versuchen.

Dass man das unfair und manipulativ finden mag, leuchtet ein.

Aber mal ehrlich: Ich kann mich artikulieren. In guten Momenten bin ich geradewegs eloquent. Ich kann argumentieren. Und ich lass mir die Butter nicht vom Brot nehmen.

Ich habe es überhaupt nicht nötig, eine tränenreiche Show zu inszenieren, um meinen Willen durchzusetzen!

Und ich hasse es, wenn ich merke, wie mein Brustkorb enger wird, wie meine Hände Halt suchen bevor das Zittern beginnt.

Ganz ehrlich: In solchen Momenten wünsche ich mir Diskussionen, Wortgefechte, wegen meiner zünftige Kräche!

Aber nicht diesen erbärmlichen Zustand.

Und vor allem würde ich lieber einfach auf Parties gehen!

Angst ist eine Diva

IMG_10340-h-webIch habe es fast immer geschafft, ins Kino zu gehen, wenn ich das wollte.

Es ist eigentlich ganz leicht: Ich bleibe einfach draußen stehen bis die Karten gekauft sind und ein gut erreichbarer Sitzplatz direkt am Gang für mich gefunden ist. Da kann man mich dann hinführen.

Anders geht es nicht: Ich kriege schon Schnappatmung, wenn ich sehe, wie die Menschen sich am Eingang „knubbeln“. Klar kann ich mich da aus therapeutischen Gründen mal 5 Minuten lang mitten rein stellen. Aber danach ist der Abend für mich gelaufen – Panik ist wahnsinnig anstrengend. Wenn ich durch ein volles Foyer laufen muss, brauche ich meine ganze Konzentration, um ruhig zu bleiben. Für Kleinkram wie „Orientierung“ habe ich nicht wirklich Kapazitäten frei.

Und in einem Raum voller Menschen brauche ich die Gewissheit, im Fall der Fälle ruckizucki und im Blindflug nach draußen zu kommen.

Heil bei meinem Sitzplatz angekommen, japse und pfeife ich vielleicht ein bißchen vor mich hin, aber hey: Ich bin im Kino!

Das Problem liegt eher darin, Freunden und Bekannten, der Familie, dem eigenen Partner zu erklären, dass man diesen ganzen Aufriss tatsächlich braucht. Und dass man sonst „echt jetzt!“ nicht mit ins Kino kommen wird.

Jahaha – ich komme mir blöd vor dabei. Exzentrisch, divenhaft, unmöglich, knallneurotisch … was immer einem an fiesen Beschreibungen einfallen mag.

Aber ich bin draußen im Leben und nicht daheim vor der Glotze, nachdem ich Magen/Darm oder Migräne vorgeschützt habe.

Ich kann auch ganz normal wirken!

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Auch depressive Menschen haben stabile Phasen, gute Tage, lichte Momente.

Ich glaube (und hoffe sehr!), dass ich dann auf meine Umwelt einfach vollkommen normal wirke. Und genau so möchte ich auch wahrgenommen werden. Genau so möchte ich gerne sein!
Wenn mir die „Normalität“ dann doch wieder einmal wegbröselt und es mir nicht mehr gelingt, auch nur den Anschein aufrecht zu erhalten, verkrieche ich mich und werde unsichtbar.

Was die ganze Sache vermutlich nicht einfacher macht: Sichtbar, augenscheinlich, offensichtlich ist ja, dass ich ticke, wie jeder andere auch.
Nur, dass ich dann plötzlich für mich reklamiere, krank zu sein …

Kein Wunder also, dass Menschen glauben, meine schlechten Tage seien so wie die ihren. Meine guten Tage scheinen ihnen das ja auch zu sein.
Anders würde ich es auch gar nicht haben wollen!

Wenn ich mich tatsächlich entspannt und unbeschwert in der Welt und unter Menschen bewegen kann, wenn ich über Nichtigkeiten reden, mich ereifern oder mich halb totlachen kann, dann möchte ich nichts mehr, als dass dieser Zustand normal sein möge. Dann möchte ich natürlich nicht, dass Menschen mich beobachten und sich denken „schau, heute hat sie einen guten Tag…“.

Wenn es mir an weniger guten Tagen schwer fällt, zu „funktionieren“, bin ich froh um jeden, der nicht so genau hinschaut, der mir erlaubt, den Schein zu wahren.
Blöderweise würde ich an schlechten Tagen genau das Gegenteil brauchen: Dass Menschen sehr genau hinschauen, kleinste Anzeichen bemerken und daraus schließen, „heute hat sie einen schlechten Tag“.

Es gibt Wechselwirkungen zwischen Gefühlen und Gefühlsäußerungen. Wer ein freundliches Gefühl hat, lächelt. Aber auch wer lächelt, empfindet in der Folge Freundlichkeit.
Bei kurzen Kontakten zu fremden Menschen, ist es relativ einfach, den Schein zu wahren: Ich bestelle lächelnd 3 Brötchen, die Verkäuferin lächelt zurück … geschafft!
Wenn ich vorher 10 Minuten Schlange stehen musste, kann es sein, dass aller Schein verbraucht ist – dann gibt es keine Brötchen.

Es hängt sehr von der Situation und den beteiligten Menschen ab, ob ich noch „normal funktionieren“ kann.
Smalltalk war mir schon immer ein Mysterium und ich bin sehr unsicher im Umgang mit Menschen. Wenn ich mich aber in einer Arbeitssituation befinde, wenn es nicht um meine Person, sondern um die Sache geht, fühle ich mich sehr viel sicherer.
Deswegen kann es mir passieren, dass ich problemlos in der Lage bin, ein Seminar zu leiten, mich zu einem netten Beisammensein aber nicht hintraue.
Selbst an ganz schlechten Tagen ist es regelmäßig vorgekommen, dass ich mich mit Müh‘ und Not zu einem Gruppentraining geschleppt habe – um dort eine Stunde lang völlig unbeschwert zu zaubern – und dann zitternd und völlig entkräftet nach Hause gefahren bin.

Und es hängt – ganz konkret –von dem einzelnen Menschen ab, mit dem ich es gerade zu tun habe.
Eine Freundin, der ich sagen kann, dass es mir heute scheiße geht, die nicht verlegen wird, wenn ich dabei weinen muss, mit der ich aber eigentlich in erster Linie einen Hundespaziergang machen möchte. Ich sage, ich weine, und dann gehen wir spazieren als wäre nichts.

Eine Freundin, sie selber depressiv ist. Die sehe ich vielleicht seltener – weil es in diesem Falle ja zwei Leuten gut gehen muss, damit ein Treffen zustande kommt – aber dann müssen wir nicht viel erklären um einander zu verstehen.

Tja, und dann die Menschen, die mir wirklich nahe stehen …
Diejenigen also, die mich regelmäßig in allen Lebenssituationen gut, irgendwie oder gerade so eben klarkommen sehen.
Die aber auch die einzigen sind, die mich noch zu sehen bekommen, wenn gar nichts mehr geht.
Die, von denen ich mir wünschen würde, dass sie akribisch vermerken „schau, jetzt hat sie einen schlechten Tag!“ …

Von diesen Menschen ist es vielleicht einfach sehr (oder gar zu) viel verlangt, immer und immer wieder zu wissen, wie das Verhältnis der Kräfte gerade jetzt aussieht. Und sie sind im Zweifel immer die, die mich vom Boden aufkratzen müssen – selbst dann, wenn es auch für sie so aussah, als würde ich durchaus klarkommen.

Gerade von diesen Menschen möchte ich verstanden werden! Ich brauche ihre Hilfe und Unterstützung und ich habe nicht immer die Kraft für lange Erklärungen.

Es muß anstrengend für sie sein, mit mir zu leben. Für mich ist es das jedenfalls …

Angst haben braucht Mut!

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An meinem Arbeitsplatz als Angestellte habe ich es als extrem hilfreich empfunden, Kolleginnen und Kollegen mit Einzelbüros zu haben, bei denen ich mich kurz mal verbarrikadieren konnte, wenn ich beim Heulen und Zähneklappern nicht von der ganzen Firma gesehen werden wollte. Ist deutlich angenehmer, als sich auf dem Klo einzuschließen.

Oder Menschen, denen ich ganz knapp „bring mich hier raus!“ zuzischen konnte und die dann wussten, was zu tun war: Mich am Arm nehmen, ganz langsam aus dem Gebäude führen und dafür Sorge tragen, dass ich unterwegs nicht festfriere.

Yup, da sprechen wir von Phasen, in denen es mir immerhin gut genug ging, um zur Arbeit zu gehen.

Trotzdem hab ich immer mal wieder Hilfe gebraucht – und auch bekommen.
Allzu oft habe ich sie nicht in Anspruch nehmen müssen – war auch besser so, die anderen müssen ja auch mal zum Arbeiten kommen. Allein die Sicherheit, einen „Notausgang“ zu haben, falls es nötig sein sollte, hat in aller Regel ausgereicht.

Natürlich musste ich dafür „die Hosen runterlassen“: Bekennen, dass ich krank, psychisch krank bin. Komisch. Nicht normal. Bekloppt.

Und damit bin ich sehr gut gefahren.

Mit den Depris und Angstneurotikern ist es wie mit allen Gruppen, zu deren Zugehörigkeit sich niemand so recht bekennen mag: Man hört und sieht sie nicht, aber ihrem statistischen Bevölkerungsanteil entsprechend trifft man sie trotzdem überall.

Ich bin Menschen begegnet, die mit viel Einfühlungsvermögen einfach das Richtige getan haben, solchen, die „das Problem“ aus Familie oder Freundeskreis kannten, und natürlich BETROFFENEN!

Wir sind viele. Und wir sind überall.

Als psychisch gesunder Arbeitnehmer vermag man sich das vielleicht nicht recht vorzustellen, aber wenn zwei Angstneuotiker beschließen, als psychisches Stoßmichziehdich zu versuchen, ob man es denn heute wohl mit vereinten Kräften in die Firmenkantine schafft, dann kann das durchaus eine sehr unterhaltsame Veranstaltung sein.