Suizid ist okay

Bis vor ein paar Jahren hat man, meine ich, ganz selbstverständlich von „Selbstmord“ gesprochen, wenn jemand seinem Leben selbst ein Ende bereitet hat. Bis einem findigen Geist aufgefallen ist, dass es beim besten Willen nicht gelingen kann, den Straftatbestand an sich selber zu erfüllen. Wie um alles in der Welt sollte man sich selber „heimtückisch“ töten? Und bei den „niedrigen Beweggründen“ müsste man auch ziemlich um die Ecke denken …

„Freitod“ finde ich aber auch nicht wirklich klasse.
„Frei“ klingt immer irgendwie gut, keine Frage. Positiv besetzt halt.
Aber wieso nicht „Wahltod“ oder „Entscheidungstod“? Was daran ist frei?

Wenn ich bereits im Sterben liege bzw. weiß, dass das bald der Fall sein wird, oder aber, wenn ich so schwer an Demenz erkrankt bin, dass ich mein eigenes Leben und Sterben nicht mehr begreifen werde, dann sollte ich, wenn das mein Wunsch ist, meinem Leben ein Ende setzen dürfen.
Dann entscheide ich aber nicht, ob mein Leben enden soll, sondern „wann genau in absehbarer Zeit“. So richtig freiwillig ist das nicht …

Was mich betrifft weiß ich von keiner Erkrankung, die meinem Leben in absehbarer Zeit ein Ende setzen könnte. Theoretisch könnte ich 100 werden.
Weitere 50 Jahre also mit bleiernen Tagen, einem Leben in Zeitlupe, Ängsten, Tränen, Chaos im Kopf. Eine Menge Zeit, es doch noch mal mit Medikamenten zu versuchen, noch ein paar Therapien zu machen, weitere Lebensentwürfe zu erproben.
Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich im Laufe dieser nächsten 50 Jahre nicht doch irgendwann die Lust verliere.
Manchmal denk ich, ich verlier sie jetzt schon.

Aber würde ich das „Freitod“ nennen wollen? Ich will nicht tot sein!
Ich will nur dieses Leben nicht mehr.

Insofern ist Suizid (Selbsttötung) okay. So als Wort.
Darüber nachzudenken ist es allerdings nicht unbedingt.
Wer darüber spekuliert, seinem Leben im Falle der vielzitierten Krebserkrankung im Endstadium ein Ende zu setzen, ist meistens noch pumperlgesund! Da zuckt keiner, niemand rät zu einem Anruf bei der psychiatrischen Ambulanz.
Wer es tatsächlich vorhat, weil er nämlich tatsächlich stirbt, stößt auf bürokratische Hemmnisse, vielleicht auch auf Menschen, die versuchen, ihm das auszureden, er muß jedoch nicht befürchten, zwangseingewiesen zu werden.
Bei psychisch kranken Menschen wird gezuckt, die werden plötzlich ganz scharfäugig beobachtet . Und – wenn es doof läuft – gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen.

Den Unterschied erkennt man spätestens an den Nachrufen:
Wolfgang Herrndorf hat sich selbst getötet bevor sein Hirntumor es konnte. Ein starker und unabhängiger Charakter, so las ich.
Robin Williams war depressiv. Nach seinem Suizid haben seine Freunde sich öffentlich gefragt, ob sie nicht doch mehr hätten tun können.
Offenbar hat niemand das Gefühl, man hätte den einen mehr darin bestärken müssen, doch palliativmedizinisch unterstützt natürlich abzuleben. Und niemand zollt dem anderen Ehrerbietung, der seinem Elend ebenso selbständig ein Ende bereitet hat.

Schon klar: An Depressionen stirbt man nicht. Nicht, wenn man nicht „nachhilft“.
Aber wo zum Henker steht, dass man Schmerzen oder den Verlust der Persönlichkeit fliehen darf, schwärzeste Verzweiflung aber zu ertragen hat? Jahre-, jahrzehntelang? Ohne Hoffnung auf Besserung?

Für mich steht seit Jahren fest, dass ich im Falle einer tödlich verlaufenden Erkrankung den Zeitpunkt meines Todes selbst bestimmen möchte. Ich bin mir auch sicher, dass ich, falls ich mich dauerhaft nicht mehr zu äußern vermag, nicht mehr leben will – dann möge man bitte alles unterlassen, was dieses Leben verlängert. Kein Problem, das in geselliger Runde zu diskutieren.

Der Gedanke, dass auch meine Depressionen ein Grund sein könnten, ist mir seltsamer – oder gnädigerweise erst recht spät gekommen. Und ich fand ihn ziemlich befremdlich. Beängstigend.

Es ist anders als zu meiner Teenagerzeit, als ich im Steppenwolf las, dass die echten Selbstmörder, die sind, die sich nicht umbringen. Dass sie – immer den „Notausgang“ vor Augen – eine Menge aushalten können. Die Überlebenskünstler unter den Selbstmördern sozusagen … mit Dingen, die weit weg sind, ist halt immer gut kokettieren …

Bin ich schon gefährdet, wenn ich über meinen Suizid nachdenke?
Sollte ich mit jemandem darüber sprechen? Darf man darüber sprechen?
Sollte ich mich an einen Arzt / eine Ärztin meines Vertrauens wenden?
„Nein, darüber spricht man nicht!“ – das fühlt sich ziemlich eindeutig an.
Aber wann wäre „darüber spricht man nicht!“ für die Betroffenen jemals hilfreich gewesen?

Solange ich hierüber noch spekulieren kann, bin ich nicht akut gefährdet, vermute ich mal …
Aber woran merke ich, falls es irgendwann soweit kommt?

In diesem Moment wird mir klar, dass ich mich nicht umbringen will. Nicht in nächster Zeit jedenfalls.
Warum sonst sollte ich darüber nachdenken, wann es an der Zeit wäre, andere zu bitten, mich daran zu hindern?

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Dennoch bleiben die Gedanken und sie bleiben ein wenig beängstigend. Als wären sie kleine Aliens, welche sich urplötzlich in Monster verwandeln könnten, die mich in einem Moment der Unaufmerksamkeit von der nächsten Brücke in den Tod schubsen.

Ganz unverhofft sehe ich die kleine Inderin vor mir.
Sie rät mir, mich der kleinen Aliens liebevoll anzunehmen. Ihnen ein Gehege zu bauen, in dem sie sich sicher fühlen können. Weil es nämlich meine kleinen, fremdartigen, beängstigenden Gedanken und Gefühle sind, die da ihren Platz im Leben suchen.

Nun baue ich Nester aus Laub und Moos. Umgeben von einer Einfriedung aus totem Holz. Hier sollten sie sich wohlfühlen.

Das indische Sofa

Nein, ich habe während meiner Therapie nie auf der Couch gelegen.
Es stand eine im Raum, aber wir haben einander immer in Sesseln gegenüber gesessen.
Bei dem Sofa ging es um meinen beständigen Kampf gegen meine Erkrankung.
Denn gekämpft habe ich!

Seltsam … man hört nie, jemand habe gegen die Masern angekämpft. Oder gegen seinen Herzinfarkt. Die hat man einfach. Die übersteht man, oder auch nicht. Von Kampf ist nur bei Krebs die Rede, als sei es ein persönlicher Verdienst, diesen zu überleben. Und eine Niederlage, es nicht zu tun.

Und bei Depressionen. Ich jedenfalls fand, dass dagegen angekämpft gehört!
Man hat mich vielleicht nicht so kämpfen sehen, wenn ich mal wieder stundenlang bewegungslos dasaß, aber ich habe mich bemüht, wahnsinnig bemüht, in Bewegung zu kommen.
Und ich bin wieder und wieder mit zusammengebissenen Zähnen gegen meine Ängste angerannt.

Wenn ich Situationen noch irgendwie aushalten konnte, ohne völlig zusammenzubrechen, dann hab ich das durchgezogen. Und wenn ich doch zusammengeklappt bin, dann war das eben so.
Jadochja, das hat meinen Aktionsradius vergleichsweise groß gehalten. Aber der Preis war auch entsprechend hoch.

Da ist sie dann regelrecht grob geworden,  die kleine Inderin.
„Wenn es Ihnen so schlecht geht, dann legen Sie sich verdammt noch mal hin und seien Sie krank!“. Ich bin mir sicher, sie hat tatsächlich „verdammt“ gesagt …
Und, dass ich so lange liegen bleiben möge, bis ich Lust hätte, wieder aufzustehen.

Ganz ehrlich, ich fand ihren Rat unseriös. Gefährlich.
Wäre ich zu diesem Zeitpunkt nicht schon einige Zeit ihre Patientin gewesen, ich hätte ihn ganz sicher nicht befolgt.

IMG_12508-q-webSo jedoch habe ich das Experiment gewagt:
Ich bin morgens (okay, eher mittags) vom Bett bis zum Sofa geschlufft und hab den Fernseher angemacht. Zu meiner Ehrenrettung: Talkshows bei RTL habe ich immer gemieden! Aber ich habe sehr genau gewusst, wann auf welchem Sender welche uralte Serie wiederholt wurde und bin auch vor „unsere kleine Farm“ nicht zurückgeschreckt.

Irgendwann in der Nacht (wenn ich mit Star Trek und den Wiederholungen der Pathologenkrimis durch war) hab ich den Rückweg ins Bett angetreten.
Dieses Programm hat sich gar nicht mal so sehr von meinem vorherigen Tagesablauf unterschieden …
In erster Linie hab ich einfach aufgehört, mir vorzunehmen, mich jetzt mal zusammenzureißen.
Ich hab aufgehört, mich zu bemühen.

Wundersamerweise begann ich nach ca. einer Woche, mich zu langweilen. Und kleinere Aktivitäten in Erwägung zu ziehen, weil ich Lust dazu hatte.
Und so ist es mir tatsächlich gelungen, mich ganz unbeschadet wieder von meinem Lotterbett zu erheben.

Eine ganze Woche habe ich seitdem nie wieder gebraucht.
Aber wenn ich das Gefühl habe, dass es mir richtig schlecht geht, dass jetzt wirklich alles zu viel ist, dann schreibe ich mir selber eine Entschuldigung und stelle jegliche Bemühung ein. Dann bleib ich im Bett!
Mittlerweile (wenn ich Glück habe) ist „ich bleib heute im Bett!“ um 10 Uhr ausgestanden. An schlechten Tagen erst mittags. Aber es funktioniert tatsächlich, ohne dass ich kämpfe. Weil ich nicht kämpfe.

Außer vielleicht gegen die wohlmeinenden Menschen um mich herum, die nicht müde werden, mich aus meinem Bett holen zu wollen, weil das doch nicht gut sein kann …

Die kleine Inderin

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Bei meiner Suche nach therapeutischer Unterstützung habe ich großes Glück gehabt.
Nach relativ wenigen Anläufen bin ich bei einer Frau gelandet, deren Gesamteindruck – Aussehen, Kleidung, Attitüde – mir freundlich, sanft und warm erschien.

Ich hab sie nie danach gefragt, aber auf mich hat sie den Eindruck gemacht, als müsse sie indische Vorfahren haben, weswegen ich mir irgendwann angewöhnt habe, sie solchen Menschen gegenüber, die wussten, von wem ich spreche, als „die kleine Inderin“ zu bezeichnen. Das scheint mir bis heute sehr viel angemessener, als von „Frau Sowienoch“ oder „meiner Therapeutin“ zu sprechen.

Sie war warm und freundlich! Wenn sie es jedoch für notwendig hielt, wusste sie die Dinge auch ganz unsanft auf den Punkt zu bringen: Knochentrocken, schonungslos und überaus treffend.
Ich erinnere mich an ein Gespräch, in dessen Verlauf ich ihr erklärt habe, ich wolle mit meiner Erkrankung niemandem lästig fallen. Auch meinen Freunden und meiner Familie nicht.
An dieser Stelle hat sie mich ganz freundlich und verständnisvoll angeschaut und mit ihrer sanften Stimme gesagt: „Dann bringen Sie sich am besten um!“ …
Ich hab geschluckt. Schwer geschluckt. Bevor ich dann doch losgelacht habe …

Keine noch so wortreiche und liebevolle Erläuterung der Tatsache, dass ich gar keine andere Wahl habe, als mich der Welt so zuzumuten, wie ich nun mal bin, hätte jemals so eindrucksvoll und nachhaltig sein können!
Ich habe diesen explizit freundlichen und verständnisvollen, tatsächlich aber eher verschmitzten Blick noch häufiger gesehen …
Und mir noch etliche sehr trockene Kommentare angehört.
Für mich hat das gepasst.

Je nachdem, welches Thema wir gerade „auf dem Zettel“ hatten, bin ich unter großen Ängsten zu meinen Terminen gereist (das ist ähnlich, wie beim Zahnarzt: Man fürchtet zwar, dass es wehtun wird, aber man weiß auch, dass man da jetzt durch muß). Manchmal hatte ich vorher überlegt, worüber ich gerne sprechen würde und habe dann doch etwas ganz anderes erzählt. Manchmal habe ich auch einfach nur losgeweint. Es war immer in Ordnung wie es war.

Ich habe während meiner Therapie viele Dinge für mich klären können und einiges über mich gelernt, aber ich glaube, einer der wichtigsten Punkte war tatsächlich der, dass es eine Anlaufstelle für mich gab, die – ganz egal, was gerade los war – für einen Moment Ruhe und Klarheit brachte.
Mein Leben war nach 50 Minuten Gespräch natürlich nie besser als davor, aber ich konnte es für diesen Moment gefasster betrachten. Manchmal sogar mit einem Lachen.