Patricia

… und der Versuch, etwas über meine Erkrankung zu erfahren

Wenn es um die Frage geht, ob ich meine Anliegen medizinischer Natur vertrauensvoll zu ÄrztInnen trage, oder mich doch lieber auf mich selbst und diverse Internet-Recherchen verlasse, bin ich ein ums andere Mal vollkommen hin und hergerissen.

Früher, als noch alles gut und sowieso mehr Lametta war, wäre es mir gar nicht in den Sinn gekommen, meine eigenen Symptome zu recherchieren – auch dann nicht, als das Googeln schon erfunden war. Ich fand, damit mache man sich erstens bestenfalls selbst verrückt, und zweitens sei Medizin ja nicht ohne Grund ein Hochschulstudium.

Und eigentlich finde ich das immer noch. Ich möchte das finden: Ich wünsche mir eine Medizin, die nicht nur auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse arbeitet, sondern außerdem Fach-oder gar Nischen-Expertise mit einem ganzheitlichen Ansatz vereint. Für die interdisziplinäre Arbeit eine Selbstverständlichkeit ist. Die bei aller Wissenschaftlichkeit den Menschen nicht aus dem Auge verliert.
Kurz: Die eierlegende Wollmilchsau.

Solange ich an solchen Beschwerden und Erkrankungen gelitten habe, die unkompliziert zu diagnostizieren und zu behandeln waren, hat mein Bedauern über das offensichtliche Fehlen eines solchen Wundertieres sich in Grenzen gehalten – es handelte sich um ein sogenanntes PAL („Problem anderer Leute“ – Näheres hierzu ist in Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“ nachzulesen). Wenn ich auch einräumen muss, dass die Endometriose, der Glomustumor und die Makuladegeneration geringfügig flotter hätten diagnostiziert werden können (siehe: Blindfisch) …

Sei’s drum … so richtig blöd ist es erst geworden, als die Symptome so gar nicht mehr greifbar waren, als alle Zeichen auf „psychosomatisch!“ zu stehen schienen.
In dieser Phase war schon der „Zwischenstop“ bei Borreliose eine ungeheure Erleichterung: Endlich gab es eine Diagnose, die sich ohne Wenn und Aber an den Blutwerten ablesen ließ!
Und es gab eine Therapie!
Nur: Die Symptome blieben …

Borreliose ist in Frankreich nicht als chronische Erkrankung anerkannt – ob dieses Krankheitsbild überhaupt existiert, ist meines Wissens auch in Deutschland umstritten.
Also war ich, was die heißersehnte Diagnose betraf, einerseits austherapiert, und nahm andererseits wieder an der „Verlosung“ teil.

An diesem Punkt habe ich entschieden, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Ich habe recherchiert, gegoogelt, mich Gruppen und Foren angeschlossen … immer auf der Suche nach Möglichkeiten, mir selbst zu helfen (mehr dazu hier).
Darein habe ich eine Menge Zeit und durchaus auch Geld investiert – leider ohne dass allzu viel dabei herausgekommen wäre.

Es ist, wenn man so will, dem französischen Gesundheitssystem zu verdanken, dass meine Bemühungen, mir selbst zu helfen, nicht ganz und gar ungebremst in Richtung Borreliose davongaloppierten: Die Suche ging ja weiter.
Und führte ins noch unerschlossene Land der Fibromyalgie …

Remember? Fibromyalgie war der erste Treffer meiner ersten Google-Suche bezüglich meiner Symptome …
Weil es sich aber um eine Ausschlussdiagnose handelt, habe ich mich nicht im Detail damit beschäftigt. Ich glaube immer noch, dass die Gefahr, Symptome bei sich selbst zu entdecken, umso höher ist, je mehr man sich mit einzelnen Krankheitsbildern befasst …

Aber hier war sie nun, die Diagnose. Und so war ich ganz entzückt, just in diesem Moment über einen kostenlosen Online-Kongress zum Thema Fibromyalgie zu stolpern!
Kongress klang gut! Wissenschaftlich irgendwie … und seriös … geballte Information aus verschiedenen Fachgebieten. Tolle Sache!
Sogleich habe ich mich dafür angemeldet.
Kaum war das erledigt, erreichte mich auch schon eine Mail, die sich versichern wollte, dass ich mein „Geschenk“ (irgendeine pdf) tatsächlich erhalten hätte.
Jo, hatte ich, also habe ich den Erhalt bestätigt.
Und habe damit sozusagen die Büchse des Kongresses geöffnet.

Umgehend wurde ich von meiner Ansprechpartnerin für den Kongress … nennen wir sie Patricia … überschwänglich begrüßt. Sie ließ mich außerdem wissen, dass ich die Kongressinhalte gerne gegen Entgelt erwerben könne. Was ich … nun ja … ein wenig übereilt fand, hatte der Kongress doch noch gar nicht begonnen. Aber offenbar ist Patricia ein außerordentlich zugewandter und fürsorglicher Mensch: Seitdem vergeht kein Tag mehr ohne sie und ihre Mails.

Mit Beginn des Kongresses entpuppte sich Patricia dann auch als dessen Moderatorin, die die Interviews mit den SpezialistInnen führte. Sie ist selbst Ärztin uuuuuuuund: Betroffene!
Honi soit, wer jetzt an gewisse eierlegende Säugetiere denken muss.

Die Aufnahmen von ihr wirkten, als säße sie an ihrem Schreibtisch, halte ihr Smartphone entspannt in den Händen und plaudere hinein … auf charmante Weise unprofessionell. Und vermutlich ganz professionell genau so gewollt: Denn auch wenn Patricia beständig den Eindruck zu vermitteln bemüht ist, sie habe diesen Kongress ganz allein aus dem Boden gestampft, weil das Thema ihr so sehr am Herzen liegt – dahinter steht ein ganzes Unternehmen.
Wie auch immer … vermutlich lag es an der verzerrten Perspektive, dass ihr breites Dauerlächeln wirkte, als habe sie mindestens 20 Zähne mehr, als andere Menschen. Dazu beseelt strahlende Augen und eine liebevoll-heitere Stimme. Verzückung pur.
„Es ist einfach wundervoll, mit unseren SpezialistInnen für Fibromyalgie sprechen zu dürfen!“ trällerte, ach was, jubilierte dies Gesamtkunstwerk unermüdlich, „sie haben wundervolle Erkenntnisse und noch wundervollere Behandlungsvorschläge!“.
Ich gebe zu: an diesem Punkt bin ich innerlich ausgestiegen.

Ich verstehe die Intention: Menschen, die, ebenso wie ich selbst, eine ganze Odyssee an Arztterminen hinter sich haben, die womöglich als HypochonderInnen belächelt und in die Psycho-Ecke gestellt wurden, die schon gar keine Lust mehr haben, sich noch ein weiteres Mal zu erklären, und die Hoffnung auf Linderung ihrer Symptome schon so gut wie verloren haben … solchen Menschen ist es Balsam auf ihre Seelen, endlich einmal liebevoll und voller Optimismus empfangen zu werden.
Wenn ich es mir so recht überlege, möchte ich das auch. Aber nicht von einem Online-Gesamtkunstwerk.

Zu Beginn des Kongresses habe ich mir einzelne Vorträge herausgepickt, die mir interessant erschienen, aber – sorry, Patricia! – bei den meisten bin ich über die Anmoderation nicht herausgekommen. Kaum begannen Deine Augen vor Begeisterung zu rollen, hab ich schaudernd vorspulen müssen und wusste den folgenden Vortrag gleich nicht mehr so recht zu würdigen.
Dein Hinweis in einem der Videos, der nun folgende Experte betreibe eine eigene Fachklinik, in der man sich (eine private Krankenversicherung vorausgesetzt) auch selbst behandeln lassen könne – Du habest es schon ausprobiert und es sei SO wundervoll gewesen! – hat es ehrlich gesagt auch nicht besser gemacht.
Überhaupt befremdet es mich, wenn der eingeladene Experte das Heilmittel, über welches er referiert, auch gleich selbst vertreibt. Im konkreten Fall hab ich das mir noch unbekannte Produkt aus schierer Neugierde gegoogelt: Ein Mittel gegen Husten – oder war’s Halsweh? – welches ganz hervorragend gegen Fibromyalgie wirkt, wenn diese Wirkung auch – leiderleider – bislang nicht nachzuweisen war.
Und so weiter und so fort …
Dass ich einen Teil der angepriesenen Präparate und Nahrungsergänzungsmittel (ulkig, was nicht alles gegen Fibromyalgie und Borreliose hilft!) gleich auf der Kongress-Website hätte bestellen können, hab ich noch zur Kenntnis genommen – ernsthaft beschäftigt hab ich mich nicht mehr damit.

Unterdessen sandte Patricia mir unverdrossen täglich eine Mail. Mindestens eine.
Stets mit dem Hinweis, ich könne das Kongresspaket käuflich erwerben – jetzt noch für NUR X Euro, danach dann für Y! Jeden Tag auf’s Neue. Falls mir das von gestern auf heute entfallen sein sollte …

Zwar hab ich nicht ein einziges Mal versucht, mir die für jeweils 24 Stunden freigeschalteten Videos alle anzuschauen, aber ich vermute, ein Mensch, der noch in der Lage ist, zu arbeiten, hat so viel Zeit nicht zur Verfügung, wer arbeitsunfähig krank ist, bringt die nötige Konzentration womöglich nicht auf.
Wer alle Videos sehen möchte, kommt also nicht umhin, diese zu kaufen.

Nach Ende des Kongresses, nahm ich an, werde die E-Mail-Flut abnehmen … aber weit gefehlt!
Ein Bonus-Tag jagte den anderen, stets mit dem Hinweis, ich könne das Kongress-Paket jetzt noch zum Preise von …
Mich hat das an den Fischverkauf auf Wochenmärkten erinnert, wenn der Marktschreier gegen Ende des Marktes immer noch und noch einen Fisch drauflegt …
Und es nahm kein Ende!

Patricia hat nämlich – Ihr glaubt es nicht! – ein E-Book zum Thema veröffentlicht!
Mein absolutes Highlight war diejenige ihrer Mails, in welcher ich klipp und klar gefragt wurde, was mich eigentlich noch hindert, dieses ver****** E-Book zu bestellen …
Und es hört nicht auf: Ich kriege immer noch Mails.
Klar, ich könnte die abbestellen. Aber ich wollte mal gucken, wie lange diese virtuelle Kaffeefahrt, die die Verzweiflung chronisch kranker Menschen für ihre Zwecke ausnützt, wohl noch andauert.


Sowohl Fibromyalgie als auch chronische Borreliose zählen zu den sogenannten unsichtbaren Erkrankungen, denen Menschen, die nicht betroffen sind, oft mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüberstehen („Wie, du bist krank? Du siehst total gesund aus! Reiß dich mal zusammen!“). Nach wie vor gibt es auch MedizinerInnen, die ihre Existenz schlichtweg bestreiten. Die Symptome sind vielfältig und schränken die Lebensqualität der Erkrankten extrem ein. Beide sind nicht heilbar und die Symptome lassen sich nur bedingt behandeln. Immerhin verlaufen sie nicht tödlich, was möglicherweise eine Erklärung dafür ist, dass Medizin und Forschung nicht alles unternehmen, um ein Heilmittel dafür zu finden. Medizinische Forschung ist teuer und augenscheinlich gibt es Erkrankungen, deren Erforschung lohnender erscheint. Das hat eine gewisse Logik, ist aber schwer einzusehen, wenn man selbst darunter leidet.

An diesem Punkt – wenn die böse Schulmedizin die Menschen „mal wieder“ im Stich lässt – tritt die gute Alternativmedizin zu deren Rettung an.
Mal abgesehen davon, dass der Begriff „Schulmedizin“ aus dem Nationalsozialismus stammt … wenn ich einmal annehme, dass die Pharmaindustrie ausschließlich an Gewinnen interessiert ist, an Fibromyalgie-Erkrankten jedoch nichts verdient, weil die Krankheit als nicht heilbar gilt, es aber HeilpraktikerInnen gibt, die sie dennoch zumindest zu lindern vermögen, indem sie solche Präparate verkaufen, die die selbe geschmähte Pharmaindustrie produziert … halt nur nicht auf Rezept … merkt Ihr selber, gelle!
All die gepriesenen Diäten, Behandlungen und Präparate haben eines gemeinsam: Ihre Wirksamkeit ist nicht nachgewiesen.
Mit ein paar Ausnahmen: Bleichmittel, Terpentin und Wurmkuren haben natürlich nachgewiesenermaßen eine Wirkung. Hier halt nur nicht die erhoffte.

Bin ich also eine gläubige Jüngerin der Schulmedizin?
Ich würde sagen: Nein.
Eher würde ich mich als Rundum-Agnostikerin bezeichnen.

Soll ich Euch mal ein Geheim verraten?
Wisst Ihr, was prima gegen Insektenstiche und die Quaddeln von Brennnesseln hilft?
Draufpinkeln! Ich schwör!
Das wüsste ich nicht, wenn ich nicht bereit gewesen wäre, es mal auszuprobieren.
Nicht alles, was hilft, muss unbedingt aus einem Medikamentenschächtelchen kommen!
Aber ich lasse mir nicht gerne mit windigen Versprechungen das Geld aus der Tasche ziehen. Schon gar nicht mit einer solchen Penetranz.

Das Schweigen der Taucherin

Wenn eine Bloggerin, die von ihrem Leben mit Depressionen berichtet, ganz und gar verstummt, kann das ein Grund zur Besorgnis sein – oder eine gute Nachricht!
Bei mir ist letzteres der Fall: Es geht mir gut. Wenn ich heute einen wirklich schlechten Tag habe, dann habe ich so ziemlich genau das, was gesunde Menschen meinen, wenn sie (zum Missvergnügen derjenigen, die sich mit einer psychischen Erkrankung herumschlagen) „Das kenn ich, das geht mir manchmal ganz genauso!“ sagen.
Der Plan, mein Leben so zu verändern, dass ich es ohne Angst und Depression leben kann, ist aufgegangen. Darüber gibt es nicht mehr groß was zu erzählen.

Stattdessen sind, zu meiner nicht geringen Überraschung, die Ursachen meiner Erkrankung in den Fokus gerückt, von denen ich bisher immer angenommen hatte, sie seien schlicht nicht ausfindig zu machen.
Mit schwarzer Pädagogik habe ich mich eher zufällig und aus einem ganz anderen Grund zu beschäftigen begonnen, merke aber immer wieder, dass entsprechende Literatur irgendetwas in mir trifft, mich weinen macht und aus der Fassung bringt, so dass ich beim Lesen viele Pausen machen muss. Manches scheine ich schon in der Sekunde wieder zu vergessen, in der ich es wahrgenommen habe, gerade so, als wollte mein Gehirn nichts damit zu tun haben.
Dass ich zu den sogenannten KriegsenkelInnen gehöre, den Kindern der Kinder also, die den zweiten Weltkrieg mit tiefen Traumata überlebt haben, war mir bewusst. Wie umfänglich sich dieses „Erbe“ auf das Leben der Betroffenen auswirkt (und wie typisch meine Lebensgeschichte in vieler Hinsicht ist) erlese ich mir erst jetzt. Auch das mit vielen und langen Pausen.

Bis ich hierüber selbst zu schreiben in der Lage bin, wird noch eine Menge Zeit vergehen, dessen bin ich mir sicher.

***

Über mein Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers zu schreiben, schien mir ebenfalls ein lohnendes Unterfangen zu sein, allerdings konnte ich in diesem Moment nicht ahnen, wie zermürbend die nächsten Monate sein würden.
Irgendwann waren alle Ausschlussuntersuchungen gemacht, aber es gab keine Diagnose, sondern immer nur neue, unerklärliche Symptome.

Der bereits bestens bewährte Entengang erweiterte sich um eine Art Hühnerflügel-Position der Arme, die dabei half, im Zweifel das Gleichgewicht zu halten.
Zuweilen hat es sich angefühlt, als würden meine Beine wahlweise über ein paar Gelenke zu viel, oder aber zu wenig verfügen. Wer schon einmal versucht hat, Pedalo zu fahren (zwei etwa fußgroße Brettchen zwischen drei Räder-Paaren, auf denen balancierend man sich, mit einer Bewegung wie beim Fahrradfahren, vor- und zurückbewegen kann), kann sich das Zuviel an Gelenken vermutlich vage vorstellen. Das Zuwenig betraf häufig die Knie, die plötzlich zu fehlen schienen, was zu einer Art Stelzengang führte.
Je zügiger ich (womöglich bergauf) zu gehen versucht habe, desto unkoordinierter und langsamer wurden meine Bewegungen. Bis an schlechten Tagen gar nichts mehr ging.
Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es eine Frage der Konzentration war: Auf dem Hof, wo ich jeden Weg und Steg gut kenne, bin ich die meiste Zeit relativ gut klargekommen. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt jedoch musste ich achtgeben, wohin ich überhaupt wollte, keine PassantInnen anrempeln, eventuelle Hindernisse vermeiden, nicht über die Bordsteinkante stolpern, auf den Verkehr achten … das war viel zu viel, zum halbwegs normalen Gehen haben die Kapazitäten nicht mehr gereicht. Mit jedem Meter bin ich immer langsamer und immer eieriger vorangekommen und ich hab mir oft sehr gewünscht, wie eine ganz alte Dame am Arm geführt zu werden.

Entsprechende neurologische Untersuchungen waren samt und sonders ohne Befund. Bis eine junge Neurologin auf meinen Einwand hin, die zwei Meter ebenen Linoleumbodens in ihrem Untersuchungszimmer könne ich natürlich ohne Probleme überwinden, auf die Idee kam, mich einmal zügig den Gang der neurologischen Station entlanggehen zu lassen.
Zusammen mit meinen Freundinnen Ente und Huhn habe ich auch das prima hingekriegt und bin nur beim Wenden kurz mal aus dem Gleichgewicht geraten. Dann jedoch trat ganz unverhofft aus einem der Untersuchungsräume jemand in meinen Weg. Zumindest schien mir das so – später habe ich mir erzählen lassen, ich hätte reichlich Platz gehabt und einfach weitergehen können.
Die Vollbremsung, die mir in diesem Moment nötig schien, hat mich um ein Haar von den Füßen gerissen, mein Oberkörper kippte zu einer schwungvollen Verbeugung nach vorn, während beide Arme heftig ruderten um dabei nicht lang hinzuschlagen.
Das immerhin machte Eindruck, hinterließ ansonsten aber nichts als Ratlosigkeit.

Als nächstes waren meine Hände betroffen: Wenn ich nicht sehr konzentriert und vorsichtig zu Werke gehe, lasse ich kleine Dinge fallen, oder schleudere sie von mir. In etwa so, wie wenn man versucht, einen Marmeladen-Toast ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen an den Kanten zu halten und ihn stattdessen in eine Salto-ähnliche Drehung versetzt.
Zunächst habe ich mich gewundert, warum in meiner Gegenwart neuerdings so viele Dinge um- oder irgendwo herunter fallen, bis mir klar wurde, dass auch meine Arme ein Eigenleben führen. Weil sie das auch dann tun, wenn ich zum Beispiel Holz ins Feuer lege, verbrenne ich mich regelmäßig. Da trifft es sich gut, dass auch mit meinem Schmerzempfinden etwas nicht in Ordnung zu sein scheint: Ich kann zwar aus dem Umstand, dass es Brandblasen und zuweilen auch Narben gibt, schließen, dass ich mich ganz ordentlich verbrannt haben muss, aber sonderlich weh tut es nicht.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich mit Messern mittlerweile sehr sehr vorsichtig umgehe.

Im Restaurant zu essen hat sehr an herausfordernden Aspekten gewonnen. Ich habe mir zwar angewöhnt, alles, was ich vom Tisch fegen könnte, unauffällig aus dem Weg zu räumen, aber allein die Außenreize (ein unvertrauter Raum, fremde Menschen, Musik) saugen so viel Aufmerksamkeit ab, dass für die Handhabung von Messer und Gabel nicht genug davon übrigbleibt. Ich hantiere ungeschickt und regelmäßig fällt mir auf dem Weg zum Mund das Essen von der Gabel. Blattsalat ist eine Katastrophe.
Ein Gang zur Toilette will gut überlegt sein. Die Restaurants in Alès sind oft recht eng … Ich stehe also zunächst einmal auf (und hoffe, dass keines meiner Beine ausgerechnet jetzt wegknickt) und peile die Lage: Wo zwischen den Tischen muss ich lang? Wo kann ich mich gegebenenfalls festhalten und wo lieber nicht (die Schultern sitzender Gäste zum Beispiel bieten sich zwar an, sollten aber wirklich nur im Notfall gepackt werden)? Kann mir ein/e KellnerIn in die Quere kommen? Das alles will sorgsam geplant sein, bevor ich mich dann ganz langsam auf den Weg mache.

Die Menschen in Südfrankreich, so scheint es, sind entweder sehr ignorant, oder außerordentlich gelassen: Ich habe bisher nie den Eindruck gehabt, angestarrt zu werden.
Es ist mir auch nicht peinlich, so ungeschickt zu sein – oder jedenfalls nur selten: die Momente, in denen mir das Essen von der Gabel fällt, kann ich überhaupt nicht leiden. Ich glaube, die meiste Zeit fehlt es auch für Schamgefühle an den nötigen Ressourcen – dafür bin ich in diesen Momenten schlicht zu beschäftigt. Allerdings scheine ich auch nicht alles selbst mitzubekommen: Wie lange es dauert, zum Beispiel, bis ich mich, nachdem ich aufgestanden bin, um mich besser orientieren zu können, tatsächlich in Bewegung setze.
Aber es ist anstrengend, weil ich alles, was anderen Menschen ganz nebenbei gelingt, mit Bedacht tun muss.

Ich hätte nie gedacht, dass, obwohl keines meiner Symptome unerträglich ist, das schiere „krank sein“ einen Menschen so sehr beschäftigen, ja geradewegs absorbieren kann. Wie ermüdend das ist!
Und ich habe schnell die Lust verloren, darüber zu reden.

 

Was soll ich denn antworten, auf die Frage, wie es mir geht?
„Als ich aufgewacht bin, war mein linker Arm so taub, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Hand zu bewegen. Hab ich mal erwähnt, dass sie bei der Küchenarbeit häufig verkrampft, so dass die Finger stocksteif in alle Richtungen zeigen? Die muss ich dann mit der anderen Hand wieder zurechtbiegen und wenn es ganz arg ist, setze ich mich drauf – dann ist Ruhe. Aber mit der Arbeit komme ich so natürlich nicht voran. Heute hab ich Hilfe gebraucht, um mich im Bett aufzusetzen, aber immerhin bin ich überhaupt vor Mittag in die Gänge gekommen. Apropos Gänge: Das Gehen fällt ein bisschen schwer heute. Aber die Schmerzen sind ganz gut auszuhalten. Manchmal allerdings durchfahren mich Stiche, die so wehtun, dass ich laut aufschreie. Ich weiß nie, wann das passiert, deswegen hab ich immer ein bisschen Angst. Und ich hoffe sehr, dass mir das nicht irgendwann im Yoga-Kurs passiert. Aber dorthin zu fahren schaffe ich es eh nicht oft – wenn das linke Bein richtig zickt, weiß ich ja nicht, ob ich die Kupplung getreten kriege und meinen Armen traue ich auch nicht so recht. Aber sonst geht’s eigentlich.“

Wer um alles in der Welt soll sich das anhören? Und selbst wenn es solche wohlmeinenden Menschen gibt: Variationen dieses Textes wären an jedem verdammten Tag meines Lebens die Antwort. Schlimm genug, dass ich mich damit beschäftigen muss – ich will das nicht auch noch in Worte fassen.

Darüber zu schreiben will auch keine rechte Freude machen und das nicht nur, weil ich es selbst schon lange nicht mehr hören kann. Ich kann mich auch nicht mehr schreiben hören: Bisher sind die meisten meiner Texte entstanden, während ich eigentlich etwas anderes getan habe – spazieren gehen oder Auto fahren zum Beispiel. Anschließend musste ich sie nur noch abtippen.
Aber abgesehen davon, dass ich zu beidem nur noch selten in der Verfassung bin, scheinen die Worte in der anschließenden Erschöpfung zu verfliegen. Sie verschwinden meist lange bevor sie den Weg über die Tastatur finden.

Und sie stolpern in erschreckendem Ausmaß.
Es ist nicht bei Buchstabendrehern oder gänzlich verwirbelten Kombinationen geblieben, sondern ich habe begonnen, Wörter völlig willkürlich durch andere zu ersetzen. Wörter mit drei Buchstaben zum Beispiel finden ganz und gar beliebig Verwendung. Zuweilen wirkt es, als hätte ich eine eingebaute Spracherkennung mit Gehörschaden – ich schreibe mehr, wenn ich Meer schreiben will, oder nähen statt Mähne, wobei die Groß- und Kleinschreibung witzigerweise stets korrekt ist. Beim Buchstabieren der Worte selbst allerdings hapert es, das mache ich plötzlich so, wie man es spricht: neulich zu meinem Entsetzen unfähr statt unfair.
Für einen Rechtschreib-Freak wie mich, der Postings in Social Media gewohnheitsmäßig Korrektur liest, bevor die Enter-Taste gedrückt wird, ist das die Hölle auf Erden.
Es ist mir peinlich und es macht mir Angst.
Bis jetzt bemerke ich die meisten Fehler schon beim Schreiben und bei den wenigen, die ich tatsächlich übersehe, weiß außer mir ja niemand, dass es nicht die Autokorrektur ist, die da blühenden Unfug produziert, sondern mein Gehirn.
Was aber, wenn mir das nicht mehr gelingt?

Ich hätte mir, wird mir allmählich klar, sehr darin gefallen, darüber zu schreiben, wie ich mit einer chronischen Erkrankung zurechtkomme. Aber ich muss feststellen, ich komme nicht zurecht. Jedenfalls nicht so, dass ich etwas Kluges, Durchdachtes, oder gar Wegweisendes zu diesem Thema zu sagen hätte. Wenn es eine Diagnose gäbe, stelle ich mir vor, wüsste ich, womit ich es zu tun habe und könnte (hoffentlich) irgendwie damit umgehen. Stattdessen trage ich ein Wischiwaschi von Fachärztin zu Facharzt und hoffe jedes Mal auf’s Neue, dass es diesmal nicht mit einem Schulterzucken endet.
Die derzeitige Hoffnung klammert sich an die Abteilung für seltene Erkrankungen einer Universitätsklinik. Und sie wird eine Weile durchhalten müssen, die Hoffnung: Der Termin ist erst im Herbst.

Der Rat des Rabbis

Ein Mann kam zum Rabbi, um diesem sein Leid zu klagen:
„Es ist unerträglich Rabbi, meine Frau, die Kinder und ich leben in einem einzigen Raum und können uns darin kaum bewegen!“
„Hast du auch Tiere?“, fragte der Rabbi.
„Ja, ich besitze einen Ziegenbock.“
„Dann nimm ihn mit ins Haus! Und komm in einer Woche wieder.“

Nach einer Woche war der Mann vollkommen verzweifelt.
„Es ist grauenhaft, Rabbi! Der Bock stinkt fürchterlich!“
„Nun“, sprach der Rabbi, „stell den Bock wieder in den Stall und komm in einer Woche wieder.“.

Eine weitere Woche später spricht der Mann strahlend vor Freude beim Rabbi vor.
„Ich bin ein glücklicher Mann, Rabbi. Ich besitze ein Haus, so dass all meine Lieben ein Dach über dem Kopf haben. Und es riecht so gut darin!“

IMG_15213-sw-web

Letztendlich entschließe ich mich, das Antidepressivum zu nehmen.
Nicht etwa, weil ich depressiv wäre – im Gegenteil: Für meinen elenden körperlichen Zustand bin ich erstaunlich guter Dinge. Aber es ist zur Zeit die letzte Option, die ich noch nicht probiert habe und es besteht die Hoffnung, dass es die Schmerzen lindert.
Die Ausschlussdiagnosen sind bis auf weiteres abgeschlossen: Augenscheinlich erfreue ich mich bester Gesundheit.

Gegen Depressionen wird das Mittel nicht mehr verschrieben, da es solche mit weniger Nebenwirkungen gibt und tatsächlich ist der Beipackzettel von beeindruckender Länge. Ich beschließe, ihn nicht zu lesen: Ich muss nicht alles wissen.

Nicht alles, was ich nun erlebe, ist unangenehm.
Eines Abends höre ich Musik – ganz leise, wie aus großer Entfernung. Wenn im Dorf ein Fest stattfindet, kommt das hin und wieder vor. Allerdings wundert mich, dass es Blasmusik ist. Und es ist auch ein ganz normaler Wochentag …
Die Musik ist nur in meinem Kopf. Ein hübsches kleines Stück, das ich nun häufiger, aber nicht andauernd hören kann.
Es könnte schlimmer kommen, denke ich. Marschmusik zum Beispiel. Oder Trash Metal …

Ich habe kaum noch Schmerzen und kann unmittelbar nach dem Aufstehen aufrecht gehen. Aber so recht genießen kann ich das nicht: Ich stehe nur für ein paar wenige Stunden am Tag überhaupt auf. Mit Müh und Not gelingt es mir, mit dem Hund kurze Spaziergänge zu machen und mich um das Abendessen zu kümmern. Damit ist mein Tagewerk erledigt. Autofahren kann ich nicht mehr.

Ich beginne, die Tage im Kalender abzuhaken: Medikament einschleichen – Normaldosis nehmen – erhoffte Wirkung abwarten (bei Depressionen dauert es ca. 6 Wochen, bis die Wirkung spürbar ist, vielleicht ist es in meinem Fall ähnlich). Bei dem Antidepressivum, das ich früher genommen habe, sind die Nebenwirkungen mit der Zeit immer weniger geworden bis ich sie gar nicht mehr bemerkt habe – jetzt scheint es eher umgekehrt. Und sowie die minimale Frist verstrichen ist, passiert es: Ich vergesse, meine Tabletten zu nehmen. Mangels Schilddrüse und mit Bluthochdruck ist das eigentlich eine zuverlässige morgendliche Routine: Mit der ersten Tasse Tee werden die Tabletten runtergespült. Das scheint mir eine mehr als deutliche Nachricht zu sein: Ich schleich das Zeug wieder aus!

Mit den Schmerzen kommt auch mein Appetit wieder, die Lust, zu schreiben, ein ganz und gar unbegründeter Schub guter Laune und ein wunderbares Gefühl der Klarheit im Kopf. Der Bocksgestank verfliegt.

Drei Jahre Schattentaucherin: Kurswechsel

Fünf Jahre ist es nun her, dass ich – nach über zehn Jahren mit Psychopharmaka und therapeutischer Unterstützung – begonnen habe, mich zu fragen, ob es richtig sein könne, immer weiter mich für das Leben „passend machen“ zu wollen, oder ob es nicht vielmehr an der Zeit sei, mein Leben an mich, meine Bedürfnisse und meine Möglichkeiten anzupassen.
In der Verfassung, tatsächlich aktiv zu werden, mein Leben neu zu gestalten, war ich damals freilich nicht. Ich hatte schlicht Glück: Ohne dass ich danach gesucht hätte, fand sich ein Platz für mich, an dem ich ein anderes Leben ausprobieren konnte. Mir blieb nur, mich auf den Weg zu machen und das fand ich schwierig und schmerzhaft genug.

Seit vier Jahren lebe ich auf einem Bauernhof in den Cevennen, einer nur spärlich besiedelten Gegend im Süden Frankreichs, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Hügelig sind die Cevennen. Und grün. Aber karg, felsig und unwirtlich ebenso. Eine Gegend, in der schon früher Menschen Schutz gesucht haben.
Der Hof ist einsam gelegen, Nachbarn gibt es nicht. Meist ist es so ruhig, dass einem die Stille in den Ohren klingt. Soweit es mir möglich war, hab ich mich an der Hofarbeit beteiligt. Die Strukturen, die das Leben auf dem Land kurzerhand „setzt“, haben mir gutgetan, ebenso wie die Fürsorge für unsere Tiere. Nicht zu vergessen: Die Hofküche! Die ist mir Arbeitsplatz, Ergotherapie und Kreativlabor in einem!
Wer nun aber meint, dass damit, hopp!, mein Leben in Ordnung war, den muss ich enttäuschen. Ich war dieselbe, wie vorher: Immer noch depressiv, immer noch gelegentlich von Panikattacken heimgesucht. Aber immerhin: Eigenständig unterwegs, ohne medikamentöse Unterstützung.

Vor drei Jahren nun, habe ich mich entschieden, mich als Mensch mit einer psychischen Erkrankung zu outen und vom weiteren Verlauf meines Weges zu berichten: Die Schattentaucherin war geboren.

IMG_21076-web

Während der ersten beiden Jahre auf dem Hof war ich vollauf damit beschäftigt, den Kopf über Wasser zu halten: Am Leben teilzunehmen sofern möglich, Tiefs und Rückschläge durchzustehen, auf baldige Besserung zu hoffen und irgendwann auch zu vertrauen. Bis heute fällt es mir schwer zu unterscheiden, ob es tatsächlich meine Lebenssituation ist, die unerträglich scheint, oder „nur“ die Depression mir wieder einmal einflüstert, dass alles sinnlos sei. „Wenn’s nach zwei, drei Tagen wieder okay ist, war’s nur die Depresse!“, aber das weiß ich dann: An Tag eins möchte ich sterben. Immerhin war irgendwann nur noch von Tagen die Rede – nicht mehr von Wochen und Monaten. Und ganz allmählich hat sich Vertrauen entwickelt: Darauf, dass heute halt mal ein schlechter Tag ist. Mit der Betonung auf „heute“ und „mal“ …

Erst dann war Platz für die Idee, es könne noch „Luft nach oben“ geben und ich aktiv etwas dafür tun, mein Befinden weiter zu stabilisieren. Angefangen habe ich ganz klein: Mit Achtsamkeitsübungen, die ich morgens im Bett absolvieren konnte. Ein Yogakurs, der wundersamerweise just in dem Moment im Dorf angeboten wurde, als ich soeben erfahren hatte, dass Yoga meine Achtsamkeitsbemühungen wirksam unterstützen könne, dagegen, schien mir ein außerordentlich ehrgeiziges Projekt zu sein. Es dennoch in Angriff zu nehmen, hat mich eine Menge Mut und Zähigkeit gekostet – aber es hat sich gelohnt!

Heute denke ich, dass – obwohl auch CBD durchaus hilfreich ist – es vor allem anderen die Yoga-Übungen sind, die mir gut tun. Es hat, zugegeben, eine Weile gedauert – aber es ist ja auch wichtig, auszuprobieren, ob ein Fehler reproduzierbar ist – bis ich eingesehen habe, dass Rückfälle bevorzugt mit dem Ende der Schulferien einhergingen, also immer dann eintraten, wenn das Yoga-Training ein paar Wochen lang ausgefallen war. Seitdem suche ich regelmäßig meine Matte auf.

Im Großen und Ganzen ist meine Stimmung (der Franzose spricht hier drolligerweise von „humeur“) stabil. Wenn ich arg gestresst bin, habe ich hin und wieder immer noch Panikschübe, aber – ganz ehrlich? – das sind Fürze im Orkan. Unangenehm, ja, peinlich auch – aber nicht wirklich ein Problem. Das Weinen bin ich nicht losgeworden: Wenn mich etwas berührt – ganz egal, in welcher Weise – weine ich. Zuweilen weine ich sogar dann, wenn mich etwas zum Lachen bringt. Das finde ich befremdlich und durchaus auch hinderlich. Aber es gibt ganz sicher Schlimmeres.

Viel wichtiger finde ich, dass ich kürzlich ganz allein im großen Supermarkt in der Stadt war!
Okay, es war kein großer Einkauf, aber ich bin da einfach reinmarschiert und hab erst hinterher begriffen, dass da eine Premiere stattgefunden hatte. Das erste Mal seit 5 Jahren und ich hab nicht einmal darüber nachgedacht!

Demnach könnte die Tauchfahrt jetzt und hier enden: Es hat geklappt. Ich habe eine Lebensweise für mich gefunden, bei der es zum Thema Depression nur noch selten etwas zu berichten gibt.
Stattdessen ist ein Schatten ganz anderer Art auf mein Leben gefallen.
Eine chronische Erkrankung des Körpers, das zumindest steht momentan zu befürchten, die mich mindestens ebenso wirksam daran hindert, am Leben teilzunehmen.
Früher habe ich hin und wieder geflachst, ein Vorteil an Depressionen sei, dass sie immerhin nicht weh täten … Das jetzt tut weh. Unter anderem.
Und derzeit scheint es, als hätte ich noch einen langen Weg vor mir: Bislang gibt es keine brauchbare Diagnose, eine Behandlung, die über ein Stochern im Nebel hinausgeht, ist nicht in Sicht. Das ist beängstigend, empörend, frustrierend und – ooops! – deprimierend. Dafür ist mein humeur nach wie vor erfreulich stabil!

Die Taucherin war mir eine gute Begleiterin auf dem Weg aus der Depression. Sie soll mich auch auf dem Weg durch diesen Schatten begleiten.

Ich und die anderen

Andy Gage wurde 1965 geboren und nicht lange danach von seinem Stiefvater, einem sehr bösen Menschen namens Horace Rollins, ermordet. Es war kein normaler Mord: die Mißhandlungen und Schändungen, die ihn töteten, waren zwar real, sein Tod aber nicht. Tatsächlich starb nur seine Seele, und als sie starb, zersplitterte sie.“

Ich erinnere mich noch lebhaft, wie „Ich und die anderen“ mich gefunden hat: Ich ging die Treppe zum Untergeschoss meiner bevorzugten Buchhandlung hinab, als ich plötzlich einen schreiend bunten Einband genau in Augenhöhe hatte. Der Autor, Matt Ruff, war mir ein Begriff, hatte ich doch „Fool on the hill“ mit großem Vergnügen gelesen. „Das ist schon … also … ziemlich anders …“, wandte die Buchhändlerin ein, aber für mich war – ohne auch nur den Klappentext gelesen zu haben – klar: meins!

Heute gehört eine Buchhandlung, in der ich stöbern und mich finden lassen kann, vor allem aber eine gutsortierte Leihbücherei, die mir das für kleines Geld ermöglicht, zu den wenigen Dingen, die mir ab und zu fehlen. Und so habe ich – wenn die letzte amazon-Bestellung wieder einmal „leergelesen“ war – begonnen, diejenigen Bücher noch einmal zu lesen, die mir hinreichend lieb und wert waren, sie bis in die Cevennen mitzunehmen.
„Ich und die anderen“ ist eines davon. Und über 10 Jahre nach der ersten Lektüre ist mir klargeworden, dass es für mich eines der liebevollsten Bücher ist, die ich je gelesen habe.

Andrew Gage leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung oder multipler Persönlichkeitsstörung – die Splitter seiner ursprünglichen Seele (Matt Ruff spricht hier von Seelen, nicht von Persönlichkeiten) sind zu eigenständigen Seelen geworden. Aber „Ich und die anderen“ ist nicht die Geschichte eines Leidenden, ihr Protagonist ist nicht gestört. Er mag sich zuweilen gestört fühlen, so wie es Menschen halt ergeht, die in einer – sagen wir: sehr buntgemischten – Wohngemeinschaft leben. Denn in dem, was einmal Andy Gages Kopf war, ist mit Hilfe einer Therapeutin ein Haus entstanden, das sich über hundert Seelen teilen. Die wenigsten von ihnen treten in den Vordergrund und das ist kompliziert genug, wenn sie – nachdem jeder seine private Zeit im Badezimmer hatte – sich zum Beispiel bemühen, bei einem einzigen Frühstück sowohl kaffee- oder aber teetrinkenden Erwachsenen, als auch den Fünfjährigen unter ihnen gerecht zu werden.
Es ist kompliziert, aber es liest sich nicht so. Vielmehr bekommt man den Eindruck einer liebevoll gezeichneten Großfamilie – das dazugehörige gelegentliche Chaos inklusive.

Mouse (eigentlich Penny) dagegen leidet. Sie weiß zum Beispiel, dass sie ihren Job ordentlich macht, aber weder, wie sie ihn bekommen hat, noch, was genau sie dort eigentlich tut. Oder warum sie ihn plötzlich doch verliert. Sie erwacht in fremden Betten und fragt sich nicht, was sie am Vorabend gemacht hat, sondern gleich, wieviele Tage oder womöglich Wochen diesmal vergangen sein mögen, ohne dass sie es mitbekommen hätte. Penny hat keine Ahnung, was mit ihr los ist.
Daher erkennt sie, als sie Andrew begegnet, ihre Gemeinsamkeiten nicht. Einige ihrer Seelen jedoch tun das sehr wohl. Und so sind sie es, die hinter Pennys Rücken ebenfalls Kontakt zu ihm aufnehmen. Zu ihm selbst oder einer der Seelen in seinem Körper.
Mit der beginnenden Freundschaft zwischen den beiden (?) wird die Geschichte zunächst tatsächlich ein wenig unübersichtlich, handelt es sich doch um eine Beziehung zwischen sehr vielen und höchst unterschiedlichen Beteiligten. Die durchaus witzige Blüten treibt, wenn zum Beispiel die freundliche Tante Sam und die aggressive und vulgäre Maledicta ihr gemeinsame Vorliebe für Billardspiele und Kuchenorgien entdecken.
Den Roadtrip und Krimi, zu dem sie sich später entwickelt, hätte ich persönlich nicht unbedingt gebraucht, hatte ich doch allein an der Interaktion der verschiedenen Seelen schon meine helle Freude, aber natürlich benötigen diese ein wenig Bewegungsspielraum.
Leserin und Leser wachsen dabei an ihren Aufgaben: Werden die einzelnen Seelen – wobei es sich durchaus auch um zwei Seelen in einer Brust handeln kann, die sich gerade unterhalten – zunächst durch die Gesprächssituation oder bestimmte Attribute (ein großes Interesse an Dinosauriern zum Beispiel weist darauf hin, dass es der kleine Jake ist, der sich gerade zu Wort meldet) kenntlich gemacht, kommt es später auch zu Dialogen, bei denen man plötzlich merkt, dass man auch ganz ohne Erklärung weiß, mit wem man es gerade zu tun hat. Was anfangs befremdlich gewirkt hat, ist ganz unmerklich zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Es ist diese Selbstverständlichkeit, die mich so für „Ich und die anderen“ einnimmt.
Matt Ruff verschweigt keineswegs, dass es sexuelle Gewalt gegen Kinder ist, die Seelen zersplittern lässt. Und so sind die Schilderungen derjenigen Seelen, die sich immerhin an die Begleitumstände, den Machtmißbrauch, die Hilflosigkeit erinnern können, anrührend und verstörend, selbst wenn sie den sexuellen Übergriff als solchen mit keinem Wort erwähnen.
Wie schmerzhaft die Erkenntnis ist, wie schwierig, eine geeignete Therapeutin / einen geeigneten Therapeuten zu finden, wie grauenvoll, sich zu erinnern … all das findet Erwähnung.
Aber der Fokus liegt im Jetzt. Jetzt ist es so. Jetzt sind sie da, die Seelen. Und müssen einen Weg finden, irgendwie miteinander klarzukommen.
Es geht nicht um Ursprung, Diagnose und Behandlung einer Störung, sondern um einen Haufen sehr unterschiedlicher Leute, die sich unfreiwillig einen Lebensraum teilen und mit so liebevollem Blick gezeichnet sind, dass man nicht einmal die unsympathischen und nervigen unter ihnen wirklich missen möchte.
„Ich und die anderen“ ist auch ein Buch über den liebevollen Umgang mit sich selbst. Eine Geschichte über das Klarkommen.
Schön, dass es mich gefunden hat!

Ein süßes Getränk und ein paar bittere Worte

Schon vor geraumer Zeit habe ich auf der Suche nach dem „warum?“ solcher Tage, an denen ich mich morgens unter einer bleiernen Bettdecke wiederfinde, eine Tabelle angelegt, in der ich neben meiner Stimmung an dem betreffenden Tag alles notiere, was diese beeinflusst haben könnte.
Besondere Vorkommnisse, Konflikte, Schmerzen, aber auch die Mondphasen (man weiß ja nie …).
Gleichzeitig dient sie als Traum-Tagebuch.
Ich bin zwar keine große Traumdeuterin, aber ich glaube schon, dass sich wiederholende Motive eine Bedeutung haben (hierzu ein andermal mehr). An bleiernen Tagen wache ich meist aus zutiefst bedrückenden Träumen auf – wobei ich natürlich nicht wissen kann, ob die Träume das Tief aulösen, oder das Tief die Träume …

Als ich im letzten Herbst eine Ausschlussdiät begonnen habe, bot es sich an, das, was ich gegessen und getrunken hatte, auch gleich hier einzutragen. Eine Angewohnheit, die ich beibehalten habe, da ich zwar unterdessen weiss, dass es ein paar Dinge gibt, die ich nicht oder nur in Maßen essen sollte, aber nicht „sauber“ genug ausgeschlossen habe, um ganz sicher zu sein.

Weil es so praktisch ist (und ich – falls das bisher nicht aufgefallen sein sollte – echt einen Spleen mit Tabellen habe), trage ich mittlerweile auch Geburten und Todesfälle der Weidetiere hier ein.
Aber das nur am Rande …

Als die Tabelle immer größer und unübersichtlicher wurde, kam die Idee auf, Farbmarkierungen zu nutzen. Okay … ich hab nen Knall mit Tabellen …
Depressive Tage erkennt man – wenig originell – an verschiedenen Grauschattierungen. Wut ist rot, Angst violett. Große Weinerlichkeit blau – des Wassers wegen. Instabilität und Reizbarkeit sind gelb bis orange. Und *Tusch!* grün steht für „okay“!
Spannend ist das im Rück- und Überblick: Wenn es mir schlecht geht, kommt es mir immer gleich vor, als sei das der Dauerzustand – ich habe bis heute nicht wirklich gelernt, mir zu sagen „okay, das ist jetzt mal ein blöder Tag …“. Früher war das auch nicht so, da hatte ich graue Phasen, keine Tage. Und so fühlt es sich häufig immer noch an. An der Tabelle kann ich jedoch ablesen, dass es häufig tatsächlich nur einzelne Tage sind.
Rückblickend fällt mir dann auch auf, dass ich manchmal tage- und wochenlang „keine Meinung“ hatte, da waren meine Tage dann weder bemerkenswert gut, noch sonderlich schlecht, sondern einfach normal. So normal, dass ich mich glatt mal nicht mit meiner Befindlichkeit beschäftigt habe. Auch schön!

Dass es einen Zusammenhang zwischen einer längeren „normalen“ Phase und einem Getränk geben könnte, ist mir eher zufällig aufgefallen. Und nein: Damit meine ich kein Pils!
Während meiner Ausschlußdiät, obwohl diese ja recht turbulent begonnen hatte, war ich offenbar recht stabil und guter Dinge: Wenige Kommentare, viele ungefärbte Tabellenkästchen …
In dieser Zeit hatte ich, da es gut für die Verdauung sein soll (und – um ehrlich zu sein – weil das Rezept so lecker klang!) auch eine Kur mit Curcuma in Form von so genannter „goldener Milch“ begonnen. Nach deren Ende mehrten sich die farbigen Kästchen wieder. Grün waren sie eher selten …
Natürlich könnte es auch an der Diät gelegen haben!
Vor die Wahl gestellt, ob ich jetzt entweder wieder jeden Tag einen Becher leckere heiße Milch trinke, oder erneut mit dem Verzicht auf Lebensmittel beginne, die ich gerne esse, hab ich mir halt die Freiheit genommen, mit der lustvolleren Variante anzufangen.
Sollte diese sich als wirkungslos erweisen, kann ich die Diät ja immer noch wieder aufnehmen.
Das scheint aber gar nicht nötig zu sein:
Wenn meine Tabelle nicht lügt und die Götter des Placebo mir kein Bein gestellt haben, trägt Curcuma bei mir zu einer Stabilisierung meiner Stimmung bei.
Eine bahnbrechende Entdeckung ist das nicht: Man sagt Curcuma nach, dass es unter anderem gegen Depressionen helfen soll. Allerdings ist das auf den selben Websites nachzulesen, nach denen auch Achtzigjährige ihren Krebs mit Kokosöl besiegen. Und alle Speckröllchen sich in Wohlgefallen auflösen, wenn man folgende 5 Lebensmittel meidet …
Kurz: Ich bin da eine große Skeptikerin. Und bei Ratschlägen des Tenors „Ach, du hast Depressionen? Da musst du doch nur …!“ prinzipiell bockig.
Sagen wir, bei mir scheint die „goldene Milch“ in meiner jetzigen Lebenssituation eine positive Wirkung zu haben, obwohl ich sie ja anfangs gar nicht deswegen zu mir genommen habe.
Mich freut das sehr und ich genieße jeden „normalen“ Tag! …

IMG_17423-web

… Dennoch schreibe ich diesen Text mit einem gewissen Unbehagen. Curcuma scheint mir zu helfen. Mir. Jetzt. Auf keinen Fall möchte ich als Ratgeberin der Kategorie „wie Du mit einem einfachen Hausmittel Deine Depressionen besiegen kannst“ mißverstanden werden.
Und ich möchte alle, die erst seit Kurzem mitlesen, sehr eindringlich um etwas bitten:
Wenn Ihr in nächster Zeit einem depressiven Menschen begegnet, fallt bitte nicht mit der Tür ins Haus und ratet ihm zu Curcuma, weil Ihr gelesen habt, dass es Depressionen zu lindern vermag!
Möglicherweise verbringen depressive Menschen mehr Zeit als Ihr in den Wartezimmern von Ärzten, wo man beim Blättern in den Zeitschriften Ratschläge wie diesen in großer Zahl finden kann. Mit einiger Sicherheit ist ihnen bekannt, dass es neben der Schulmedizin alternative Therapieformen gibt. Sie sind in der Lage, zu recherchieren, wenn sie etwas in Erfahrung bringen möchten. Etliche konsultieren sicher nicht nur ÄrztInnen und TherapeutInnen, sondern ziehen auch HeilpraktikerInnen hinzu. Womöglich studieren sie auch Fachbücher und -artikel, die sich mit ihrer Erkrankung befassen.
Vielleicht auch nicht.
Vielleicht ist ihre Erkrankung noch ganz neu für sie und sie müssen erst einmal mit der Tatsache klarkommen, dass in ihrem Kopf etwas nicht stimmt.
Oder sie gehören zu denjenigen, die mit der Erkenntnis zu leben lernen müssen, dass ihre Form der Depression nicht heilbar ist, sondern für immer ein Teil ihres Lebens sein wird.
Aber ganz egal, welcher Typ Depri gerade vor Euch steht: Was lässt Euch glauben, dass Ihr die ersten seid, die mit genau diesem Tip um die Ecke kommen? Ausdauersporthaustierentspannungstraininglichttherapiejohanniskrautnahrungsergänzungsmittelheißesbadbeikerzenscheincurcuma …
Wir haben das alles schon gehört. Ichzichmal. Versprochen!

Ja, Ihr meint es gut!
Und das wäre vollkommen in Ordnung, wenn wir über eine Erkältung oder Dünnpfiff reden würden. Da rät man reflexhaft zu Dampfbädern, Pfefferminzöl, Kamillentee, Flohsamenschalen, Coca Cola und Salzstangen und niemand denkt sich etwas dabei.
Würde Euer Gegenüber Euch erzählen, es leide an Diabetes, Multipler Sklerose oder womöglich Krebs, würdet Ihr dagegen den Teufel tun, zu irgendwelchen Hausmitteln zu raten, selbst wenn Ihr gelesen habt, dass Kokosöl gegen Krebs wirkt.
Denn DAS sind ja richtig ernsthafte Erkrankungen! … klingelt’s?
Depressionen sind ernsthafte Erkrankungen. Unbehandelt können sie durchaus tödlich verlaufen.
Wenn Ihr hier mit sorgenvoller Miene feststellt, dass Psychopharmaka ja abhängig machen (was a. durchaus nicht alle tun und b. bei akuter Suizidgefahr auch nicht das dringlichste aller Probleme ist), sondern stattdessen zitiert, was die Zeitschrift im Wartezimmer Eures Arztes für diesen Fall rät, dann sprecht Ihr uns genau das ab: Dass wir an einer ernsthaften Erkrankung leiden.
Und nicht nur das: Ihr sprecht uns auch schuldig.
Solange wir nicht den letzten Schnickschnack abseits der Schulmedizin ausprobiert haben, sind wir doch selber schuld daran, dass es uns immer noch schlecht geht …
Neeschonklar, so ist das nicht gemeint! Aber genau so kommt es an.

Ich bin selbst ein wenig verwundert darüber, wie bitter mich das immer noch werden lässt …
Oder anders: Es macht mich jetzt bitter. Früher hab ich derlei „Hilfe“ einfach abtropfen lassen und so schnell wie möglich zu vergessen versucht. Heute habe ich die Kapazitäten frei, mich darüber zu ärgern.
Da ich sie aber lieber anders nutzen würde:
Wenn Ihr erfahrt, dass ein Mensch in Eurem Freundes- oder Bekanntenkreis an Depressionen leidet, dann klemmt Euch doch einfach sämtliche tollen Ratschläge und fragt stattdessen, was Ihr tun könnt, wenn es ihm richtig scheiße geht. Und wenn Ihr nichts tun könnt, dann tut halt nichts. Haltet die Normalität aufrecht. Seid da!

Wenn Ihr an die Wirkung von goldener Milch glaubt, dann kocht welche! Trinkt sie gemeinsam!
Aber quatscht keine Opern …

Kelch … vorüber!

Warum ich mich entschieden habe, keine Highly Sensitive Person zu sein.

In letzter Zeit stolpere ich ständig über Artikel und Blogposts zum Thema Hochsensibilität. Frequenz steigend.
Ob mir das wohl etwas sagen will? Ich glaube: Nein.
Und falls doch, dann bestenfalls, dass das Thema derzeit einen Hype erfährt – HSP ist das neue Burnout, wenn man so will.
Nur viel schicker!

IMG_18509-q-web
Früher seien Hochsensible als Berater, Weise und Zauberer in Erscheinung getreten, lese ich. Das will zwar nicht so recht zu der Vermutung passen, dass 15 bis 20 Prozent aller Menschen hochsensibel seien – da wäre ja mal richtig was los gewesen in der Zaubererwelt! – klingt aber gut. Klingt richtig gut!
Überhaupt (und wissenschaftlich betrachtet, auch wenn sie sich bislang neurophysiologisch nicht nachweisen lässt) scheinen die Attribute der Hochsensibilität auf den ersten Blick attraktiv:
Hochsensible nehmen Reize jeder Art tiefer, intensiver und detaillierter wahr als andere (sogenannte normalsensible Menschen). Sie verfügen über eine vielschichtige Fantasie, eine ausgeprägte Intuition, sind begeisterungsfähig und vielseitig interessiert. Sie können die Stimmungen und Emotionen anderer Menschen leicht und detailliert erkennen und sind in der Lage, in großen Zusammenhängen zu denken.
Holla die Waldfee, wenn das nicht nach einer Gabe klingt!
Aber schon von den Weisen und Zauberern wissen wir, dass Segnungen dieser Art immer auch Fluch sind.
Diese umfassende, intensive und nachhaltige Wahrnehmung lässt sich nicht nach Bedarf ein- und ausschalten, der Mensch ist seinen Eindrücken geradezu ausgeliefert. Deswegen ermüden hochsensible Menschen rasch, sie sind schnell überfordert, müssen sich vor Reizüberflutung schützen und sorgsam darauf achten, sich Pausen und Rückzugsmöglichkeiten zu organisieren.
Was ich bei Betroffenen über ihr Leben mit der Hochsensibilität gelesen habe, klang dann auch oft eher anstrengend und kompliziert.
Und dennoch: Sensibilität, Empathie, Intuition, Tiefe, Intensität, Kreativität … sind so verdammt positiv belegt!
Damit nehmen sie unter den Menschen mit (psychischen, neurophysiologischen) „Besonderheiten“ eine Sonderstellung ein.
Die Maßnahmen (Auszeiten, Rückzugsmöglichkeiten, Wunsch nach Rücksichtnahme), die sie ergreifen möchten und müssen, um mit ihrer speziellen Besonderheit leben zu können, unterscheiden sich gar nicht mal so sehr von denen, die auch uns anderen nützlich sind oder wären. Aber sie stehen in einem ganz anderen Licht da, sorgen sie doch dafür, dass eine GABE sich entfalten kann.
Für Menschen mit Asperger Autismus gilt das durchaus auch, nur denkt bei denen niemand an Zauberer, sondern alle an Rainman.
Alle anderen – also die Depris, Paniker, Borderliner, PTBSler und wie sie alle heißen – haben zwar ganz ähnliche Bedürfnisse, allein es fehlen die Sympathiewerte.

Aus schierer Neugierde hab ich mal einen der einschlägigen Tests absolviert und „Sapperlot!“:
„Sie sind mit an Gewissheit grenzender Sicherheit eine HSP. … Sie werden sicher noch glücklicher und leistungsfähiger sein, wenn Sie nicht versuchen zu leben wie ein nicht-HSP. Arbeiten Sie daran Wege und Möglichkeiten zu finden, um in einer Ihnen angenehmen Weise Kontakt mit der Welt zu halten. Die Welt braucht Sie und Ihre Empfindsamkeit. Sie sind eine Bereicherung.“

Das Gefühl der starken Erleichterung, von dem Betroffene häufig berichten, weil sie sich endlich nicht mehr „wie vom anderen Stern“ fühlen, wollte sich allerdings nicht einstellen. Mein Gefühl sagte eher etwas wie „Och nö … !“.
Nur um sicher zu gehen, habe ich danach noch ungefähr 10 weitere Tests ausprobiert, so wie Google sie zu Tage förderte.
Half nix: Ich bin hochsensibel. Auffällig fand ich zwar, dass die Mehrzahl der Anbieter mir gerne auch gleich das passende Coaching und / oder ihr Buch zum Thema verkaufen wollten … aber Honi soit qui mal y pense
Lustiger war schon die (natürlich nicht als repräsentativ zu wertende!) Bitte an einige Menschen aus meinem Bekanntenkreis, den Test ebenfalls zu machen:
Ich bin nicht nur selbst eine HSP, ich bin auch von ihnen umgeben!

Ein Ergebnis, das sich vielleicht durch einen Blick auf die Fragen erklären läßt …
Der Test von „zartbesaitet“ zum Beispiel umfasst 29 Aussagen, die mit
1 = nein, überhaupt nicht
2 = nein
3 = eher nein
4 = halb und halb / weiß nicht
5 = eher ja
6 = ja
7 = ja, sehr!
mehr oder weniger zu bestätigen sind.

Spaßeshalber beantworte ich alle mit „weiß nicht“ und „knacke“ schon damit die magische Punktzahl: Hochsensibilität beginnt bei 163 Punkten, ich hab 168 …
Aber Spaß beiseite.
Gehen wir mal einige der Aussagen durch:

Ich habe ein reiches und vielschichtiges Innenleben.
Jetzt mal alle die Hand hoch, deren Innenleben vollkommen hohl und flach ist!
Oookay … jetzt die mit der akuten Depresse die Hände runter …
Na?

Ich bin ein guter Zuhörer.
Ich bin gewissenhaft.
Ich strenge mich an, keine Fehler zu machen und nichts zu vergessen.
Bildende Kunst / Musik / Naturstimmungen bewegen mich tief.
Ich bemerke und genieße zarte oder feine Gerüche, Geschmäcker, Klänge oder Kunstwerke.
Wer soll sich denn da zu einem glasklaren „nein“ durchringen, oder auch nur zu einer Antwort unterhalb des „weiß auch nich“ Durchschnittes?

Lärm ist mir unangenehm.
Wem nicht?
Die Frage ist ja genau nicht, ob er in Wacken okay wäre und nur nervt, wenn er von der Baustelle nebenan kommt.

Es ist mir lästig, wenn gleichzeitig verschiedenste Dinge von mir verlangt werden.
Klingt das wirklich irgendwie ungewöhnlich?

In Wettbewerbssituationen oder unter Beobachtung werde ich so nervös oder unsicher, dass ich schlechtere Leistungen bringe, als ohne diesen Streßfaktor.
Yup. Lampenfieber heißt das Wort. Alternativ: Prüfungsangst.

Natürlich ist der Test anonym! Aber selbst wenn wir ganz allein Kreuzchen auf einer Website hinterlassen, haben wir ein Bild von uns selbst. Und wir möchten nicht von uns sagen, dass wir hohl, leer und ignorant sind, dass wir zu denen gehören, die nix merken. Wir wissen ja, dass es um Sensibilität geht und möchten am Ende nicht als grobe Klötze dastehen. Und dann ist es schwierig, nicht mit dem Ergebnis „hochsensibel“ aus der Nummer rauszukommen.

Letztlich, lese ich (mit sich nun doch einstellender Erleichterung und durchaus erheitert) müsse und könne man aber nur selbst für sich entscheiden, ob man hochsensibel sei.
Das ist ja grade nochmal gutgegangen!

Im Großen und Ganzen bin ich nämlich der festen Überzeugung, dass ich deswegen so hohe Punktwerte erreiche, weil für Menschen mit Depressionen und Angststörungen dieselben Strategien eine Rolle spielen.
Natürlich fühle ich mich schnell überfordert – manchmal ja schon damit, morgens aus dem Bett zu kommen.
Und natürlich machen Trubel und Aktivität, wenn man selbst gerade mal wieder mit einem Heulanfall zu kämpfen hat, die Sache nicht besser.
Wenn ich mich mit zu vielen Menschen in einem geschlossenen Raum aufhalten muss und womöglich noch Lärm hinzukommt, verspüre ich mit einiger Sicherheit Paniksymptome.
Lärm ist mir fast immer unerträglich. Es sei denn, ich mach ihn selber: Wenn ich so richtig schlechte Laune habe, höre ich Hardrock, dass die Wände wackeln und habe überhaupt kein Problem damit.
Das, was für normalgestimmte Menschen (um mal nicht „gesund“ zu sagen) normaler Alltag und Zusammenleben mit anderen Menschen ist, empfinde ich als extrem anstrengend. Ich ermüde rasch, möchte mich häufig zurückziehen und versuche selbstverständlich, mir meine Tage, mein Leben entsprechend einzurichten.
Im zwischenmenschlichen Bereich kriege ich tatsächlich mehr mit, als mir oft lieb ist. Vor allem Wut, Angst und Verzweiflung meiner Mitmenschen prasseln geradezu auf mich ein. Das kann außerordentlich hilfreich sein, wenn es mir gelingt, zu handeln und zum Beispiel dafür zu sorgen, dass ein Konfliktgespräch stattfinden kann, ist aber auch sehr anstrengend – danach bin ich völlig ausgelaugt. Kann ich weder handeln, noch mich abgrenzen, besorgt letzteres relativ schnell die Depression für mich: Sie schubst mich kurzerhand ins Bett.
Hier bin ich noch auf der Suche nach Strategien und schon deswegen werde ich das Thema Hochsensibilität weiter verfolgen, auch wenn dieser Kelch an mir vorübergegangen ist. Außerdem interessieren mich Menschen mit Besonderheiten (ooops … nö … ich bin eher nicht vielseitig interessiert!) – vor allem mit Blick auf unsere Gemeinsamkeiten, nicht so sehr auf das, was uns trennt.

Aus manchen Texten lese ich ein gewisses Maß an Selbstverliebtheit heraus, das ich eher nervig finde … aber okay, der Reiz der Stichworte „tief“, „intensiv“, „reich“ ist vermutlich ganz enorm.
Und eine Tendenz, alles aber auch wirklich alles für die eigene Besonderheit zurechtzuschneidern.
So las ich neulich wahrhaftig, für Hochsensible sei es wichtig, auf Reisen bequeme Kleidung zu tragen. Vermutlich, weil Normalsensible eine kneifende Hose weder bemerken, noch auf einem Langstreckenflug irgendwie als Beeinträchtigung empfinden würden …

Ich glaube, es sind diese Eindrücke, die mich so unwillig machen, mir den Schuh HSP anzuziehen.
Ich lebe seit Jahren mit einer … sagen wir … originellen Gehirnchemie, aber meine Besonderheit ist eine Krankheit. Ein Makel. Ich will gerne glauben, dass hochsensible Menschen sich gut überlegen, wann, mit wem und wie sie über ihre Besonderheit sprechen. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass die diesbezügliche Latte für andere Menschen sehr viel höher liegt. Für Borderliner zum Beispiel …
Wenn ich heute feststellen könnte: Ich habe Depressionen und Panikattacken, weil ich hochsensibel bin (was ich zwar grundsätzlich gar nicht unlogisch finde, worauf meine Psychiaterin und Therapeutin aber vermutlich auch gekommen wären), dann würde sich im Ergebnis genau nichts ändern. Mein Leben wäre exakt dasselbe.
Zugegeben, mir gewisse Zeitgenossen vorzustellen, wie sie sich vor den Kopf schlagen und ausrufen „Ach so! Hochsensibel bist Du! Ja dann …!“ ist unterhaltsam. Es ist jedoch wie mit der Fantasie von der eigenen Beerdigung, auf der dann allen alles ganz schrecklich leid tut. Ist nett, bringt aber nix.
Ich habe (so gut das ging) gelernt, mit einer Krankheit zu leben. Ich habe zu ihr gestanden und offen über sie gesprochen. Jetzt will ich sie auch behalten.