Ruhe

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Es kann unglaublich still sein auf dem Hof. Sogar das „Grundrauschen“ aus Insektengesumm und Vogelzwitschern verstummt manchmal und dann ist es selbst tagsüber vollkommen still.

Den Großteil der Zeit kommt es mir vielleicht deswegen so still vor, weil die Geräusche, die ich höre, so zuordenbar sind: Jemand ist mit dem Traktor unterwegs oder schneidet irgendwo frei – und ich kann ziemlich deutlich hören, wo genau. Ich höre nicht nur Hunde bellen, sondern welcher Hund und häufig auch, weswegen. Die zahlreichen Raubvögel kann ich zwar nicht identifizieren, wohl aber anhand ihrer Rufe unterscheiden. Nicht nur ungewohnte Geräusche fallen sofort auf, sondern auch solche, die zwar vertraut, aber im falschen Moment zu hören sind: Ich stehe in der Küche und höre ein vertrautes „Mäh! Mäh!“. Denke noch „ach ja, die Schafe …“ als mir klar wird, dass ich die ganz sicher nicht hören sollte, wenn ich in der Küche stehe!

Es gibt keinen mehr oder weniger konstanten, lärmenden Geräuschebrei, sondern tatsächlich einzelne Geräusche, jedes für sich zu identifizieren. Und manchmal ihre vollständige Abwesenheit: Dann möchte man ebenfalls innehalten, tief einatmen und ganz leise sein.

Auch die Ruhe ist umfassend: Es gibt weder Fernseher noch Radio, noch haben wir eine überregionale Zeitung abonniert. Doch, doch, na klar: Wir haben Internet! Könnten also problemlos Radio hören oder Nachrichten schauen. Tun wir auch. Aber nur ganz selten.
Mir tut das gut: Seit ich mit Informationen nicht mehr überschüttet werde, sondern nach denen suchen muß, die mich tatsächlich interessieren, scheint mir in meinem Kopf mehr Platz für anderes, naheliegenderes zu sein.

Seit ich keine Antidepressiva mehr nehme, ist außerdem das Weinen wieder da: Was mich auch nur im Mindesten berührt, läßt mich gleich die Fassung verlieren.
Ich mag mich dem nicht völlig entziehen: Ich kann vor Flüchtlingsdramen und Attentaten nicht die Augen verschließen, auch wenn sie mir immer gleich überlaufen. Aber ich muß mir meine Kräfte einteilen. Und brauche Rückzugsmöglichkeiten.

Das Weinen nervt, ehrlich gesagt, extrem.
Dafür ist mit ihm auch das Lachen zurückgekehrt: Ich bin eigentlich leicht zu erheitern und vielleicht bin ich ganz tief in meinem Inneren sogar eine höchst alberne Person. Schon aus geringstem Anlaß kann ich Lachanfälle bekommen, die mich mit Atemnot und Bauchweh zurücklassen. Und natürlich mit Tränen in den Augen.

Die Antidepris haben auch das unterdrückt …
Sagen wir: Die Heulerei nervt, aber das ist mir der Spaß wert …

***

Immer wieder lese ich, dass soziale Kontakte ungeheuer wichtig seien für Menschen wie mich …
Mir für mein Teil scheint das Gegenteil richtig zu sein: Je weniger Sozialkontakte ich habe, desto besser geht es mir …
Wenn ich solche Dinge sage, bekomme ich Angst vor mir selber.
Nein, ich bekomme eine Scheißangst vor den Reaktionen derer, die das lesen und sich den Schuh anziehen könnten. Nein! Natürlich meine ich nicht Dich!
Ich bin froh und dankbar für jeden Freund, jede Freundin, die ich habe! Ich möchte keine/n von Euch missen!
Ich hab mich immer für einen geselligen Menschen gehalten. Ich gehe gerne mit Menschen um!
Aber je weniger Menschen tatsächlich um mich sind, desto ruhiger ist es in meinem Kopf.

Natürlich bin ich hier nicht ganz allein.
Aber selbst mit gelegentlichen Volontären (Menschen die gegen Kost und Logis eine Zeit lang auf dem Hof mitarbeiten) und / oder Gästen bleibt die Anzahl der Hofbewohner immer sehr überschaubar.
Etliche von ihnen gehen vermutlich sowieso davon aus, dass man ein wenig … nun … speziell sein muß, um auf Dauer hier zu leben. Und scheinen mir nicht allzu überrascht, wenn ich dann nochmal auf andere Weise speziell bin, was mir einige Verrenkungen in Sachen „normal wirken“ erspart.
Meine Art, speziell, seltsam, oder was auch immer zu sein, hat hier ihren Platz, gehört dazu. Sie macht mich nicht anders. Erklärungsbedürftig mag sie ein ums andere Mal sein, wenn Menschen zum Beispiel nicht wissen, dass das, was sie da gerade sehen, eine Panikattacke ist. Aber dann liegt der Fokus auf ihrem Informationsdefizit, nicht auf einem Defizit meiner Person. Für mich fühlt sich das völlig anders an.

Still ist sie nicht, die Ruhe in meinem Kopf.
Man kann „Dinge vor seinem inneren Auge sehen“ – wenn es auch ein „inneres Ohr“ gibt, höre ich damit gerne Musik. Oder erzähle mir selbst Geschichten. In richtig guten Momenten schreibe ich – und tippe den fertigen Text hinterher nur noch ab. Natürlich überlege ich auch, was ich noch alles erledigen möchte (möchte, nicht muß!).
Was fehlt, ist der unerträgliche Lärm aus Selbstzweifeln und -vorwürfen, längst vergangenen Konflikten, Verletzungen und Niederlagen.
An schlechten Tagen lauert er im Hintergrund, dann muß ich sozusagen den Regler für Insektengesumm und Vogelgezwitscher manuell etwas höher drehen.
Es funktioniert.

Die kleine Inderin

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Bei meiner Suche nach therapeutischer Unterstützung habe ich großes Glück gehabt.
Nach relativ wenigen Anläufen bin ich bei einer Frau gelandet, deren Gesamteindruck – Aussehen, Kleidung, Attitüde – mir freundlich, sanft und warm erschien.

Ich hab sie nie danach gefragt, aber auf mich hat sie den Eindruck gemacht, als müsse sie indische Vorfahren haben, weswegen ich mir irgendwann angewöhnt habe, sie solchen Menschen gegenüber, die wussten, von wem ich spreche, als „die kleine Inderin“ zu bezeichnen. Das scheint mir bis heute sehr viel angemessener, als von „Frau Sowienoch“ oder „meiner Therapeutin“ zu sprechen.

Sie war warm und freundlich! Wenn sie es jedoch für notwendig hielt, wusste sie die Dinge auch ganz unsanft auf den Punkt zu bringen: Knochentrocken, schonungslos und überaus treffend.
Ich erinnere mich an ein Gespräch, in dessen Verlauf ich ihr erklärt habe, ich wolle mit meiner Erkrankung niemandem lästig fallen. Auch meinen Freunden und meiner Familie nicht.
An dieser Stelle hat sie mich ganz freundlich und verständnisvoll angeschaut und mit ihrer sanften Stimme gesagt: „Dann bringen Sie sich am besten um!“ …
Ich hab geschluckt. Schwer geschluckt. Bevor ich dann doch losgelacht habe …

Keine noch so wortreiche und liebevolle Erläuterung der Tatsache, dass ich gar keine andere Wahl habe, als mich der Welt so zuzumuten, wie ich nun mal bin, hätte jemals so eindrucksvoll und nachhaltig sein können!
Ich habe diesen explizit freundlichen und verständnisvollen, tatsächlich aber eher verschmitzten Blick noch häufiger gesehen …
Und mir noch etliche sehr trockene Kommentare angehört.
Für mich hat das gepasst.

Je nachdem, welches Thema wir gerade „auf dem Zettel“ hatten, bin ich unter großen Ängsten zu meinen Terminen gereist (das ist ähnlich, wie beim Zahnarzt: Man fürchtet zwar, dass es wehtun wird, aber man weiß auch, dass man da jetzt durch muß). Manchmal hatte ich vorher überlegt, worüber ich gerne sprechen würde und habe dann doch etwas ganz anderes erzählt. Manchmal habe ich auch einfach nur losgeweint. Es war immer in Ordnung wie es war.

Ich habe während meiner Therapie viele Dinge für mich klären können und einiges über mich gelernt, aber ich glaube, einer der wichtigsten Punkte war tatsächlich der, dass es eine Anlaufstelle für mich gab, die – ganz egal, was gerade los war – für einen Moment Ruhe und Klarheit brachte.
Mein Leben war nach 50 Minuten Gespräch natürlich nie besser als davor, aber ich konnte es für diesen Moment gefasster betrachten. Manchmal sogar mit einem Lachen.