Kirmes im Kopf

Zu den Nebenwirkungen von Antidepressiva gehören unter anderem Manien. Ich bin geneigt, diesen Umstand für eine Art wohlwollende Ironie des Schicksals zu halten: Wem es so elend geht, dass er Antidepressiva nehmen muss, der hat ein Gottesgeschenk in Form eines Kicks verdient!
sophie_portraitpue_2Denn nichts anderes ist eine Manie: Ein opulenter Kick, ein Hoch, das mit „guter Stimmung“ ungefähr so viel zu tun hat, wie ein Tsunami mit der Brandung an der Nordseeküste.
In aller Regel handelt es sich hier um ganz leichte manische Episoden, die rasch zuende gehen, aber schon eine solche Bonsai-Manie ist eine beeindruckende Erfahrung!
Antriebslosigkeit und Fatigue sind wie weggeblasen, das Schlafbedürfnis lässt so rapide nach, dass man problemlos auch ein, zwei Nächte durchmachen kann. Die Stimmung ist nicht gut, sie ist Groß!Ar!Tig!. Und sehr sehr heiter. Nicht immer vermögen andere Menschen die enorme Witzigkeit des Momentes so recht zu würdigen, aber das stört nicht weiter: Wenn sonst keiner lacht, muss man’s selber machen! Die Kreativität steht dem Humor in nichts nach und das Gehirn sprudelt eine Idee nach der anderen hervor. Da gleichzeitig die Konzentrationsfähigkeit ihren Jahresurlaub in Disney World verbringt und Priorisierung oder auch nur Reihenfolge urplötzlich Fremdworte sind, verzettelt man sich glorios und wird vermutlich 99% dieser fantastischen Einfälle nicht zuende bringen. Was in gewisser Weise ein Segen ist: Die Urlaubsvertretung der Konzentrationsfähigkeit heißt „erhöhte Risikobereitschaft“.

Kurz: Eine Manie zu durchleben, ist nicht ganz ungefährlich!
Menschen, die an schweren Manien leiden schwere Manien haben, ruinieren unter Umständen nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familien. Sie verjuxen ihr Vermögen wahlweise an der Börse oder im Casino, weil sie eine großartige Idee haben. Oder sie balancieren über Dachfirste, weil sie der Überzeugung sind, das zu können. Wie das für die betreffenden Menschen ist und welche Konsequenzen es nach sich zieht, schildert Leonard in seiner Mind Comedy sehr anrührend.

sophie_wetpueDass es auch beim Ausschleichen eines Antidepressivums – also als Entzugserscheinung – zu Manien kommen kann, war mir neu. Logisch eigentlich: Auf welchem Beipackzettel steht schon, was passiert, wenn man das Medikament nicht nimmt?
Antidepressiva muss man ausschleichen, das weiß ich – die darf man nicht einfach absetzen. Aber dass jetzt Wirkungen eintreten, die ich beim Einschleichen nicht bemerkt habe, überrascht mich schon!
Aber hey! Das hätte echt schlimmer kommen können! Die Kopfschmerzen zum Beispiel, die ebenfalls neu sind, sind echt kacke. Welcome mania!!!

Okay, es ist gewöhnungsbedürftig, wenn mein Körper „oh bitte, ich muss liegen!“ stöhnt und mein Gehirn gleichzeitig „Go! Go! Go!“ (Textentwürfe, Kochrezepte und sonstige Ideen laufen parallel auf anderen Sendern) kräht.
Und ich merke selber, dass es irgendwie nervig sein muss, wenn ich anderen keine 5 Minuten (lustige Zeiteinheit, das wären ja bereits 300 Sekunden, einunzwanzig, zweiundzwanzig …, Anm.d.L.) lang zuhören kann. Ich gebe mir alle Mühe, ehrlich! Aber dann poppt eine weitere großartige Idee hoch und Minuten später merke ich, dass ich irgendwas verpasst habe … Ich selber quassele ohne Punkt und Komma. Von Hölzken auf Stöcksken …

So lange ich noch selber merke, dass ich manisch bin, ist die Welt soweit in Ordnung!
Sollte ich das nicht mehr merken, wird mich jemand notfalls auch gegen meinen Willen zum Arzt bringen, für diesen Moment habe ich vorgesorgt.
Und momentan lasse ich selbst die allerkleinsten meiner Ideen vorsichtshalber abnicken, bevor ich sie in die Tat umsetze.

Bislang sind viele dieser Ideen tatsächlich brauchbar! Ich bin eine Art „One woman brainstorming“!
Nicht alle werde ich selbst realisieren können, dazu bin ich körperlich gar nicht in der Lage.
Aber zur Zeit verfasse ich diverse Texte gleichzeitig und nicht alle haben schon den Weg über die Tastatur gefunden, etliche sind einfach in meinem Kopf gewachsen, während ich eigentlich etwas ganz anderes gemacht habe. Ich bin sehr gespannt, ob ich die wirklich alle zuende bringe!

Für die Bewältigung meines Alltags dagegen, muss ich deutlich mehr Zeit einplanen. Ich verfüge über die Aufmerksamkeitsspanne eines Kolibris und mein Paddelkoeffizient ist enorm:
Ich setze an, die Medikamentenkiste wegzuräumen und denke „Nee. Die wird noch gebraucht, um dem Hund seine Medikamente unter’s Futter zu mischen! Fütter erst den Hund und räum die Kiste danach weg!“. Ich räume die Kiste weg, gehe los, um das Hundefutter zu holen und komme mit den Zutaten für unser Abendessen zurück …Wenn der Himmel bedeckt ist, funzt die Solaranlage nicht, dann mach ich mein „Duschwasser“ hilfsweise auf dem Herd warm.„Du hast den Waschlappen vergessen!“ denke ich auf dem Weg zum Badezimmer, komme aber zu dem Schluss, dass es auch ohne geht. Das Litermaß, mit dem ich mir das Wasser über den Kopf schütte, ist auch nicht mit von der Partie … das ist schon sehr viel ungünstiger. Und JETZT fällt mir auf, dass der Eimer mit heißem Wasser, in dem Waschlappen UND Litermaß schwimmen sollten, auch noch in der Küche steht …

Dankenswerterweise betrachte ich auch das, wenn schon nicht mit Erheiterung, so doch mit Gelassenheit. Ich würde mich schon unter normalen Umständen nicht als pessimistischen Menschen bezeichnen, aber im Moment könnten sich von meiner Weltsicht diverse Dankbarkeits-Apologeten eine Scheibe abschneiden. Wenn einem schubweise nicht nur siedendheiß, sondern auch kotzübel wird, kann man das auch gut brauchen.

sophie_portraitpueSchon seit ein paar Tagen fällt mir auf, dass ich sehr geräuschempfindlich geworden bin und dann hin und wieder auch erschrecke …
Eine Fahrt in die Stadt macht deutlich, wie ausgeprägt diese Sensibilität ist. Normalerweise, bilde ich mir ein, bin ich eine entspannte, pflegeleichte Beifahrerin – jetzt muss ich mich alle paar Meter entschuldigen, weil ich wegen nix und wieder nix eine Art „Oh mein Gott, wir überfahren gerade ein Kind!“ Reaktion produziere. Der Gestank ist unfassbar und ich bekomme eine Ahnung davon, wie sich hypersensible Menschen fühlen müssen. Aber auch die visuellen Reize sind überwältigend: Jeder Mensch, glaube ich, kennt Momente wie den, wenn man zum ersten Mal in eine Kathedrale kommt, nach oben schaut und innerlich „Wow!“ haucht …
Ich habe meinen „Wow!“ Moment mitten in Alès, einer Stadt, deren Architektur sich vor allem anderen durch Mut zur Hässlichkeit auszeichnet. Aber „wow!“, da flattert auf der Baustelle eine Plane im Wind! Vor dem „WOW!“ Himmel! Ich bin „WOW!!!“ völlig geflashed …

Als ob das noch nicht genug wäre, gehen wir zum ersten Mal in das große Kino. Nachmittagsvorstellung – vorsichtshalber – weil ich ja viele Menschen in großen Räumen nicht gut aushalten kann.
Weil wir früh dran sind, sitzen wir ganz allein in einem Saal für 100 Zuschauer. Ich kann die Stille rauschen hören. Und spüre den sanften Druck, den die Leere auf meinen Körper ausübt. Wow!
Und dann darf ich „Alita – Battle angel“ sehen, wie Kinder es tun! Mit offenem Mund, völlig distanzlos, hingerissen …
Es gelingt mir immerhin, nicht lautstark mitzukämpfen und ich springe auch nicht aus meinem Sessel auf. Angesichts der 3D Version, die wir leider verpasst haben, hätte ich mit Sicherheit jede Contenance verloren …
Was für ein Abenteuer! Ich könnte heulen vor Dankbarkeit.
Ich bin ganz und gar gefangen, kann zu meiner allergrößten Überraschung den französischen Dialogen ohne Probleme folgen … und formuliere zeitgleich bereits diesen Text für den Blog. Alles mit ein und demselben Gehirn!

sophie_nacki

 

Die Fotos zu diesem Text sind von Sophie Strodtbeck, an deren Chihuahua-Dame Pü ich beim Stichwort Manie recht schnell denken musste. Warum nur???
Sophie macht nicht nur tolle Bilder, sie schreibt auch wunderbare Bücher über Hunde!
Vielleicht schreibt sie irgendwann einmal ein Buch über das Pü!
Das wäre dann ein Püroman. (Darüber kann sie Stunden später immer noch lachen! Anmerkung des Lektorats … Du sollst keine anderen Lektoren neben mir haben, Anm.d.L.)

Ich biete dem Lektor an, einen Gastbeitrag über das Leben mit einem manischen Menschen zu schreiben. Er winkt müde ab. Ich verstehe überhaupt nicht, warum