Turbulenzen

Ich habe damit gerechnet, eines Tages während der Physiotherapie die Fassung zu verlieren, aber als es dann passiert, bin ich dennoch überrascht.
Es gibt da eine Blockade auf Höhe meines Zwerchfelles, die mich daran hindert, frei zu atmen.
Ich glaube, dass der Mann mit den heilenden Händen das schon seit langer Zeit weiß, aber jetzt sieht er offenbar den Moment gekommen, diese zu lösen.
Und es hätte vielleicht auch funktioniert, wenn ich ihn einfach nur hätte machen lassen müssen: Ich kann allen, die das ängstigt, beruhigend zureden und wenn es ganz arg wird, selbst einen Schritt beiseite treten.
Aber ich soll gegen seine Hände einatmen, die auf Brustbein und Bauch liegen, beim Ausatmen ihrem Druck folgen! Ich soll konzentriert dabei sein. Das kann ich nicht!

Die Tränen laufen, ich beginne, nach Luft zu schnappen.
Ich weiß, dass er mir zu helfen versucht, aber das GEHT NICHT!
Ich versuche, mich zu fügen. Ich vertraue ihm, er weiß, was er tut.
Und frage mich im nächsten Moment, was ich hier eigentlich tue: Ich will das nicht!
Ich verfluche meine mangelnden Französischkenntnisse.
Immerhin gelingt es mir, mitzuteilen, dass mir lieber wäre, wenn er sich mit meinen Schultern beschäftigt.

Das tut er und er bleibt freundlich, gelassen und liebevoll. Aber er erklärt mir auch, dass es wichtig ist, diese Blockade zu lösen, und wir es weiter versuchen sollten. Damit hat er sicher Recht.
Dass die weise Yogini jahrelang vergeblich versucht hat, mir die Atemübungen des Pranayama schmackhaft zu machen, die Körper und Geist zusammenführen sollen, kann er ja nicht wissen. Nicht, dass ich mich nicht bemüht hätte, aber es war und blieb eine einzige Quälerei.
Vielleicht funktioniert es so herum – über die Einwirkung auf den Körper – besser, aber ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst haben soll: Vor seinen Bemühungen, oder vor deren Gelingen …

Bei der Achtsamkeitspraxis leitet die weise Meditierende eine Mettā -Meditation an, bei der es um gute Wünsche für sich selbst, aber auch für andere geht.
Die mag ich sehr, deshalb lade ich zu Beginn alle ein, mir dabei Gesellschaft zu leisten.

Aglaia (Aglaia, Achtsamkeit mit Hindern … Aglaia) ist sofort da: links von mir wird es schwarz und ich spüre ihr Gewicht auf meiner Schulter. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Achtsamkeitsübungen mag, oder gekommen ist, um aufzupassen. Vielleicht auch beides.
Zunächst sprechen wir die guten Wünsche für uns selbst aus „Möge ich glücklich und zufrieden sein“ zum Beispiel. Die Vorstellung, glücklich und zufrieden sein zu dürfen, bringt jemanden völlig aus der Fassung: Ich beginne zu weinen. Eine Weile lasse ich einfach die Tränen laufen, dann macht Aglaia sich bemerkbar und obwohl ich bequem liege beginnt mein Nacken zu schmerzen. Links … natürlich …
Das ist, soweit ich sagen kann, eine ihrer Aufgaben: Wenn es zu beängstigend, zu schmerzlich wird, bekämpft sie Feuer mit Feuer und sorgt für körperliche Schmerzen, die mich wirkungsvoll ins Hier und Jetzt zurückholen. Wenn ich genug gesehen habe, ist sie es, die „das Licht ausmacht“.
Aglaia ist eine Beschützerin. Darüber hinaus weiß ich nicht viel über sie.

Die guten Wünsche für einen nahestehenden Menschen richte ich an eine liebe Freundin, der ich von Herzen wünsche, dass sie leicht und unbeschwert durchs Leben gehen, gesund sein möge.

Als nächstes bin ich eingeladen, meine Gedanken auf einen Menschen zu richten, der gerade eine schwere Zeit durchlebt. Als ich das versuche, meldet sich eine leise, aber penetrant sarkastische Stimme, die all das für großen Blödsinn hält. Das klingt nach T.
„T.“ steht zwar für „Täter:innen-Introjekt“, aber tatsächlich bin ich mir nicht sicher, wer oder was sie ist. Sie ist eine Stimme, die ich manchmal laut hören kann. T. steht für Härte gegen sich selbst, findet die Rücksichtnahme auf eigene Bedürfnisse schlicht albern und ist generell der Ansicht, dass ich mich „einfach nur anstelle“. Einmal habe ich in einer Meditation jemanden gesehen, der T. gewesen sein könnte, oder jedenfalls die selben Ansichten vertrat: Alles Blödsinn!
Ich versuche, meinen Blickwinkel zu ändern: Auch T. möchte glücklich und zufrieden sein, sich geborgen fühlen, leicht und unbeschwert durchs Leben gehen, gesund sein!
Das verblüfft sie so sehr, dass sie schweigt.

Zum Ende der Achtsamkeitspraxis suche ich einen Ort auf, an dem ich mich sicher fühle, mich erholen kann. Den safe room aus der Hypnose möchte ich nicht nutzen, also stelle ich mir die Terrasse vor, auf der ich bei gutem Wetter Yoga mache. Ruckzuck liegt der Kater laut schnurrend neben meiner rechten Schulter. Der Hund lässt sich zu meiner Linken nieder. Es ist Major, unser Herdenschutzhund. Oskar, mein verstorbener Seelenhund, findet seinen Platz an meinem rechten Bein. Er schläft tief und fest. Seine Präsenz ist so weiß, wie Aglaias schwarz ist.

Wir sind eingeladen, uns an eine schwierige (nicht zu schwierige) Situation zu erinnern, um sie (und uns selbst) gelassen und ohne Wertung zu betrachten. Dann fragen wir uns, was wir in diesem Moment gebraucht, was wir uns gewünscht hätten.

Ich denke an meine Panikattacke bei der Physiotherapie, komme dann aber nicht recht weiter. Was hätte ich gebraucht? Was hätte geholfen?

Und sehe eine Frau. Sie nähert sich von links, hat in etwa mein Alter, gehört aber einer anderen Generation an: Ihre Haare sind ordentlich gelegt. Kräftig sieht sie aus,resolut, zupackend. Und sie streckt jemandem die Zunge heraus! Die freche Frau trägt eine orchideenfarbene, metallisch funkelnde Steppjacke. Ihr folgen weitere Frauen, die ähnlich gekleidet sind: Es wirkt, als würde sie eine Demonstration anführen.

„Genug gesehen!“ findet Aglaia und breitet eine schwarze Schwinge aus.

Aber ich kann das Funkeln weiterhin sehen: Es legt sich wie eine Decke über mich.

Traumfrau

Die weise Hebamme aka Psychotherapeutin im Nachbarort hat mir vorgeschlagen, über meine Träume zu sprechen.
Zwar glaube ich durchaus, dass manche unserer Träume uns etwas sagen wollen, und ich schreibe sie schon seit vielen Jahren auf, aber jetzt bin ich skeptisch.
Traumdeutung? Ich weiß ja nicht …
Andererseits: Warum nicht? Ein Versuch kann ja nicht schaden!

Ich übersetze einen meiner Träume, der mir interessant erscheint, ins Französische und drucke den Text aus. Um meinen Traum zu erzählen, müsste ich nicht nur die neuen Vokabeln pauken, sondern mir auch diverse grammatische Verwicklungen merken. Ich müsste den Text quasi auswendig lernen.
So geht es schneller.

Das Gespräch führen wir nach wie vor hauptsächlich auf Englisch. Das ist mühsam, weil wir dann beide nicht unsere Muttersprache nutzen und immer wieder durch Rückfragen klären müssen, ob wir einander richtig verstanden haben. Aber ich bin schon froh, dass wir überhaupt eine gemeinsame Sprache sprechen!

Der weitere Verlauf ist völlig anders, als ich mir das vorgestellt hatte.
Ich hatte irgendetwas in Richtung „Wenn Sie von einem weißen Pferd träumen, dann bedeutet das, dass sie ein problematisches Verhältnis zu ihrem Vater haben!“ erwartet; in etwa das, was in Zeitschriften gleich links von den Horoskopen zu lesen ist.
Unterdessen beschämt mich mein mangelndes Zutrauen in ihre Fähigkeiten.

Wir gehen den Traum ganz langsam, Schritt für Schritt durch und sie stellt mir Fragen dazu:
Erkenne ich Personen oder Orte wieder? Kann ich sie beschreiben? Habe ich eine solche Situation schon einmal erlebt? Was fällt mir ein, wenn ich an ein bestimmtes Detail denke?
Es ist sozusagen freies Assoziieren entlang des roten Fadens meines Traumes und ich bin überrascht, wie viele Erinnerungen dabei auftauchen.

Je intensiver ich mich mit meinen Träumen beschäftige, desto detaillierter wird meine Erinnerung daran. Dass ich sich wiederholende Träume habe, weiß ich schon lange, aber erst jetzt fällt mir auf, wie viele Details immer wieder auftauchen. Gleichzeitig beobachte ich, dass die regelmäßig wiederkehrenden Träume jetzt andere Verläufe nehmen – ganz so, als würde mein Handlungsspielraum sich vergrößern.

Unsere Gespräche über diesen Traum, die sich über mehrere Sitzungen hinziehen, sind eher unterhaltsam, als schmerzlich. Oft muss ich selbst im Englischen Hände und Füße zur Hilfe nehmen, um mich verständlich zu machen. Wir lachen viel.
Ich mag die weise Hebamme gut leiden und fühle mich sicher bei ihr.
Dennoch bekomme ich mit der Zeit mehr und mehr Angst vor unseren Treffen.

Bei einem der letzten Termine schaffe ich es gerade so eben, Contenance zu wahren, solange ich im Wartebereich sitze. Kaum schließt sich die Tür hinter mir, bekomme ich eine der heftigsten Panikattacken meines Lebens.
Sie rät mir, loszulassen, der Attacke ihren Lauf zu lassen.
Und ich antworte „Wenn ich das tue, bricht alles auseinander. Dann werde ich verschwinden.“

Nach meinen Treffen mit der weisen Hebamme suche ich stets einen weisen Mann auf: Es ist der Physiotherapeut, dessen Behandlungsräume gleich neben ihrem liegen.
Ich kenne ihn schon seit einigen Jahren. Er spricht ausschließlich Französisch, ist aber in der Lage, meine Beschwerden mit seinen Händen zu orten, selbst wenn ich sie nicht beschreiben, sondern nur mit dem Finger dahin deuten kann, wo es wehtut.
Er ist „eingeweiht“: Er weiß, dass ich gerade aus der Psychotherapie komme und unter Umständen in schlechter Verfassung bin.

Manchmal „berührt“ er das Trauma in meinem Körper, dann bekomme ich Angst, mir wird übel, oder ich beginne zu dissoziieren. Die weise Hebamme hat ihm erklärt, dass das passieren kann.
In solchen Momenten rede ich mir selbst gut zu: Dass wir diesen Mann schon lange kennen. Dass er weiß, was er tut, und wir ihm vertrauen können. Das hilft.

An diesem Tag bitte ich ihn, einfach irgendetwas zu tun, damit ich ruhiger werde.
Er hilft mir, entspannt und tief zu atmen.
An besseren Tagen übt er während der Behandlung Französisch mit mir.

Überflüssig zu erwähnen, dass ich nicht mehr selbst Auto fahre: Ich muss mich fahren lassen.

Über die Zeit lässt die Angst vor den Therapiesitzungen nach und ich sehe meinem nächsten Termin geradewegs gelassen entgegen.
Abgesehen davon allerdings, dass es mir gelingt, mich so geschickt im der genauen Uhrzeit zu irren, dass es mir um ein Haar gelungen wäre, nur zur Physiotherapie zu müssen.

Eine halbe Stunde immerhin haben wir noch!
Die weise Hebamme beginnt, mir ihre Interpretation meines Traumes zu schildern.
Dann geht alles ganz schnell: Tränenausbruch, Schnappatmung, der Tinnitus kreischt in meinen Ohren, so dass ich sie kaum noch hören kann. Ich bekomme einen Tunnelblick, an den Seiten wird es schwarz. Und ich spüre, wie ich neben meinen Körper trete. Ungefähr so, als sei ich mein eigenes Lenorgewissen, allerdings habe ich Sorge, dabei vom Stuhl zu fallen.

„Loslassen“ kann ich das nicht, aber ich bemühe mich, nicht die Luft anzuhalten, sondern wenigstens in Bruchstücken rauszuquetschen, was mir passiert.

Mir kommen in diesem Moment keine Erinnerungen ins Bewusstsein, es überwältigen mich keine Emotionen … ich bin nur Körper. Und – als die Attacke abklingt – absolut ratlos.
Ich begreife überhaupt nicht, was mir da passiert ist!

Traumata vererben sich über mehrere Generationen.
An vieles habe ich keine Erinnerung, aber sie steckt in meinem Körper.
Insofern scheint es mir folgerichtig, dass die „Aufarbeitung“ ebenfalls in meinem Körper vonstatten geht.
Danach fühle ich mich sehr ruhig. Und ich bin unglaublich müde.
So müde, dass ich auf der Liege des Physiotherapeuten beinahe einschlafe.

Das, was wir bis zu diesem Moment besprochen haben, war übrigens lediglich der Beginn eines langen, detailreichen Traumes.
Der Beginn einer Mischung aus Geister- und Achterbahnfahrt.