Drei Jahre Schattentaucherin: Kurswechsel

Fünf Jahre ist es nun her, dass ich – nach über zehn Jahren mit Psychopharmaka und therapeutischer Unterstützung – begonnen habe, mich zu fragen, ob es richtig sein könne, immer weiter mich für das Leben „passend machen“ zu wollen, oder ob es nicht vielmehr an der Zeit sei, mein Leben an mich, meine Bedürfnisse und meine Möglichkeiten anzupassen.
In der Verfassung, tatsächlich aktiv zu werden, mein Leben neu zu gestalten, war ich damals freilich nicht. Ich hatte schlicht Glück: Ohne dass ich danach gesucht hätte, fand sich ein Platz für mich, an dem ich ein anderes Leben ausprobieren konnte. Mir blieb nur, mich auf den Weg zu machen und das fand ich schwierig und schmerzhaft genug.

Seit vier Jahren lebe ich auf einem Bauernhof in den Cevennen, einer nur spärlich besiedelten Gegend im Süden Frankreichs, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Hügelig sind die Cevennen. Und grün. Aber karg, felsig und unwirtlich ebenso. Eine Gegend, in der schon früher Menschen Schutz gesucht haben.
Der Hof ist einsam gelegen, Nachbarn gibt es nicht. Meist ist es so ruhig, dass einem die Stille in den Ohren klingt. Soweit es mir möglich war, hab ich mich an der Hofarbeit beteiligt. Die Strukturen, die das Leben auf dem Land kurzerhand „setzt“, haben mir gutgetan, ebenso wie die Fürsorge für unsere Tiere. Nicht zu vergessen: Die Hofküche! Die ist mir Arbeitsplatz, Ergotherapie und Kreativlabor in einem!
Wer nun aber meint, dass damit, hopp!, mein Leben in Ordnung war, den muss ich enttäuschen. Ich war dieselbe, wie vorher: Immer noch depressiv, immer noch gelegentlich von Panikattacken heimgesucht. Aber immerhin: Eigenständig unterwegs, ohne medikamentöse Unterstützung.

Vor drei Jahren nun, habe ich mich entschieden, mich als Mensch mit einer psychischen Erkrankung zu outen und vom weiteren Verlauf meines Weges zu berichten: Die Schattentaucherin war geboren.

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Während der ersten beiden Jahre auf dem Hof war ich vollauf damit beschäftigt, den Kopf über Wasser zu halten: Am Leben teilzunehmen sofern möglich, Tiefs und Rückschläge durchzustehen, auf baldige Besserung zu hoffen und irgendwann auch zu vertrauen. Bis heute fällt es mir schwer zu unterscheiden, ob es tatsächlich meine Lebenssituation ist, die unerträglich scheint, oder „nur“ die Depression mir wieder einmal einflüstert, dass alles sinnlos sei. „Wenn’s nach zwei, drei Tagen wieder okay ist, war’s nur die Depresse!“, aber das weiß ich dann: An Tag eins möchte ich sterben. Immerhin war irgendwann nur noch von Tagen die Rede – nicht mehr von Wochen und Monaten. Und ganz allmählich hat sich Vertrauen entwickelt: Darauf, dass heute halt mal ein schlechter Tag ist. Mit der Betonung auf „heute“ und „mal“ …

Erst dann war Platz für die Idee, es könne noch „Luft nach oben“ geben und ich aktiv etwas dafür tun, mein Befinden weiter zu stabilisieren. Angefangen habe ich ganz klein: Mit Achtsamkeitsübungen, die ich morgens im Bett absolvieren konnte. Ein Yogakurs, der wundersamerweise just in dem Moment im Dorf angeboten wurde, als ich soeben erfahren hatte, dass Yoga meine Achtsamkeitsbemühungen wirksam unterstützen könne, dagegen, schien mir ein außerordentlich ehrgeiziges Projekt zu sein. Es dennoch in Angriff zu nehmen, hat mich eine Menge Mut und Zähigkeit gekostet – aber es hat sich gelohnt!

Heute denke ich, dass – obwohl auch CBD durchaus hilfreich ist – es vor allem anderen die Yoga-Übungen sind, die mir gut tun. Es hat, zugegeben, eine Weile gedauert – aber es ist ja auch wichtig, auszuprobieren, ob ein Fehler reproduzierbar ist – bis ich eingesehen habe, dass Rückfälle bevorzugt mit dem Ende der Schulferien einhergingen, also immer dann eintraten, wenn das Yoga-Training ein paar Wochen lang ausgefallen war. Seitdem suche ich regelmäßig meine Matte auf.

Im Großen und Ganzen ist meine Stimmung (der Franzose spricht hier drolligerweise von „humeur“) stabil. Wenn ich arg gestresst bin, habe ich hin und wieder immer noch Panikschübe, aber – ganz ehrlich? – das sind Fürze im Orkan. Unangenehm, ja, peinlich auch – aber nicht wirklich ein Problem. Das Weinen bin ich nicht losgeworden: Wenn mich etwas berührt – ganz egal, in welcher Weise – weine ich. Zuweilen weine ich sogar dann, wenn mich etwas zum Lachen bringt. Das finde ich befremdlich und durchaus auch hinderlich. Aber es gibt ganz sicher Schlimmeres.

Viel wichtiger finde ich, dass ich kürzlich ganz allein im großen Supermarkt in der Stadt war!
Okay, es war kein großer Einkauf, aber ich bin da einfach reinmarschiert und hab erst hinterher begriffen, dass da eine Premiere stattgefunden hatte. Das erste Mal seit 5 Jahren und ich hab nicht einmal darüber nachgedacht!

Demnach könnte die Tauchfahrt jetzt und hier enden: Es hat geklappt. Ich habe eine Lebensweise für mich gefunden, bei der es zum Thema Depression nur noch selten etwas zu berichten gibt.
Stattdessen ist ein Schatten ganz anderer Art auf mein Leben gefallen.
Eine chronische Erkrankung des Körpers, das zumindest steht momentan zu befürchten, die mich mindestens ebenso wirksam daran hindert, am Leben teilzunehmen.
Früher habe ich hin und wieder geflachst, ein Vorteil an Depressionen sei, dass sie immerhin nicht weh täten … Das jetzt tut weh. Unter anderem.
Und derzeit scheint es, als hätte ich noch einen langen Weg vor mir: Bislang gibt es keine brauchbare Diagnose, eine Behandlung, die über ein Stochern im Nebel hinausgeht, ist nicht in Sicht. Das ist beängstigend, empörend, frustrierend und – ooops! – deprimierend. Dafür ist mein humeur nach wie vor erfreulich stabil!

Die Taucherin war mir eine gute Begleiterin auf dem Weg aus der Depression. Sie soll mich auch auf dem Weg durch diesen Schatten begleiten.

Ruhe

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Es kann unglaublich still sein auf dem Hof. Sogar das „Grundrauschen“ aus Insektengesumm und Vogelzwitschern verstummt manchmal und dann ist es selbst tagsüber vollkommen still.

Den Großteil der Zeit kommt es mir vielleicht deswegen so still vor, weil die Geräusche, die ich höre, so zuordenbar sind: Jemand ist mit dem Traktor unterwegs oder schneidet irgendwo frei – und ich kann ziemlich deutlich hören, wo genau. Ich höre nicht nur Hunde bellen, sondern welcher Hund und häufig auch, weswegen. Die zahlreichen Raubvögel kann ich zwar nicht identifizieren, wohl aber anhand ihrer Rufe unterscheiden. Nicht nur ungewohnte Geräusche fallen sofort auf, sondern auch solche, die zwar vertraut, aber im falschen Moment zu hören sind: Ich stehe in der Küche und höre ein vertrautes „Mäh! Mäh!“. Denke noch „ach ja, die Schafe …“ als mir klar wird, dass ich die ganz sicher nicht hören sollte, wenn ich in der Küche stehe!

Es gibt keinen mehr oder weniger konstanten, lärmenden Geräuschebrei, sondern tatsächlich einzelne Geräusche, jedes für sich zu identifizieren. Und manchmal ihre vollständige Abwesenheit: Dann möchte man ebenfalls innehalten, tief einatmen und ganz leise sein.

Auch die Ruhe ist umfassend: Es gibt weder Fernseher noch Radio, noch haben wir eine überregionale Zeitung abonniert. Doch, doch, na klar: Wir haben Internet! Könnten also problemlos Radio hören oder Nachrichten schauen. Tun wir auch. Aber nur ganz selten.
Mir tut das gut: Seit ich mit Informationen nicht mehr überschüttet werde, sondern nach denen suchen muß, die mich tatsächlich interessieren, scheint mir in meinem Kopf mehr Platz für anderes, naheliegenderes zu sein.

Seit ich keine Antidepressiva mehr nehme, ist außerdem das Weinen wieder da: Was mich auch nur im Mindesten berührt, läßt mich gleich die Fassung verlieren.
Ich mag mich dem nicht völlig entziehen: Ich kann vor Flüchtlingsdramen und Attentaten nicht die Augen verschließen, auch wenn sie mir immer gleich überlaufen. Aber ich muß mir meine Kräfte einteilen. Und brauche Rückzugsmöglichkeiten.

Das Weinen nervt, ehrlich gesagt, extrem.
Dafür ist mit ihm auch das Lachen zurückgekehrt: Ich bin eigentlich leicht zu erheitern und vielleicht bin ich ganz tief in meinem Inneren sogar eine höchst alberne Person. Schon aus geringstem Anlaß kann ich Lachanfälle bekommen, die mich mit Atemnot und Bauchweh zurücklassen. Und natürlich mit Tränen in den Augen.

Die Antidepris haben auch das unterdrückt …
Sagen wir: Die Heulerei nervt, aber das ist mir der Spaß wert …

***

Immer wieder lese ich, dass soziale Kontakte ungeheuer wichtig seien für Menschen wie mich …
Mir für mein Teil scheint das Gegenteil richtig zu sein: Je weniger Sozialkontakte ich habe, desto besser geht es mir …
Wenn ich solche Dinge sage, bekomme ich Angst vor mir selber.
Nein, ich bekomme eine Scheißangst vor den Reaktionen derer, die das lesen und sich den Schuh anziehen könnten. Nein! Natürlich meine ich nicht Dich!
Ich bin froh und dankbar für jeden Freund, jede Freundin, die ich habe! Ich möchte keine/n von Euch missen!
Ich hab mich immer für einen geselligen Menschen gehalten. Ich gehe gerne mit Menschen um!
Aber je weniger Menschen tatsächlich um mich sind, desto ruhiger ist es in meinem Kopf.

Natürlich bin ich hier nicht ganz allein.
Aber selbst mit gelegentlichen Volontären (Menschen die gegen Kost und Logis eine Zeit lang auf dem Hof mitarbeiten) und / oder Gästen bleibt die Anzahl der Hofbewohner immer sehr überschaubar.
Etliche von ihnen gehen vermutlich sowieso davon aus, dass man ein wenig … nun … speziell sein muß, um auf Dauer hier zu leben. Und scheinen mir nicht allzu überrascht, wenn ich dann nochmal auf andere Weise speziell bin, was mir einige Verrenkungen in Sachen „normal wirken“ erspart.
Meine Art, speziell, seltsam, oder was auch immer zu sein, hat hier ihren Platz, gehört dazu. Sie macht mich nicht anders. Erklärungsbedürftig mag sie ein ums andere Mal sein, wenn Menschen zum Beispiel nicht wissen, dass das, was sie da gerade sehen, eine Panikattacke ist. Aber dann liegt der Fokus auf ihrem Informationsdefizit, nicht auf einem Defizit meiner Person. Für mich fühlt sich das völlig anders an.

Still ist sie nicht, die Ruhe in meinem Kopf.
Man kann „Dinge vor seinem inneren Auge sehen“ – wenn es auch ein „inneres Ohr“ gibt, höre ich damit gerne Musik. Oder erzähle mir selbst Geschichten. In richtig guten Momenten schreibe ich – und tippe den fertigen Text hinterher nur noch ab. Natürlich überlege ich auch, was ich noch alles erledigen möchte (möchte, nicht muß!).
Was fehlt, ist der unerträgliche Lärm aus Selbstzweifeln und -vorwürfen, längst vergangenen Konflikten, Verletzungen und Niederlagen.
An schlechten Tagen lauert er im Hintergrund, dann muß ich sozusagen den Regler für Insektengesumm und Vogelgezwitscher manuell etwas höher drehen.
Es funktioniert.