Mein Freund der Baum

Als die weise Meditierende bei unserem vorerst letzten Treffen zur gemeinsamen Achtsamkeitspraxis ein Experiment vorschlägt, spüre ich, dass einige Angst bekommen, lasse mich aber darauf ein, weil ich andererseits auch neugierig bin und nichts verpassen möchte.
Aglaia ist sofort bei mir – sie wirkt alarmiert.

Aber es beginnt ganz harmlos: Wir sind eingeladen, uns einen Baum vorzustellen. Es kann ein Baum sein, den wir kennen, oder einer, den wir in unserer Phantasie erstehen lassen. Ich muss spontan an die große Steineiche denken, den schönsten Baum des Hofes. Andererseits sind dort die Hunde begraben … ob das eine gute Idee ist? Birken mag ich auch! Vielleicht lieber eine Birke?

Das Bild der Steineiche schiebt sich immer wieder in den Vordergrund. Nun denn … immerhin kann ich diesen Baum deutlich vor mir sehen.

Es ist eine kontemplative Übung, eine Betrachtung.
Wir beginnen damit, die Wurzeln des Baumes zu betrachten, die ihm Halt und Sicherheit geben, aus denen er seine Kraft zieht, und stellen uns die Frage, was unsere eigenen Wurzeln sind.
Unsere Familie vielleicht, oder die Kultur, in der wir aufgewachsen sind.
Über meine familiären Wurzeln möchte ich lieber nicht nachdenken, so viel ist sicher!
Kultur? Seit ich im Ausland lebe, weiß ich, dass ich sehr viel deutscher bin, als ich immer dachte – aber grad ist das auch keine Hilfe.
Steineichen wurzeln tief, denn der Boden, in welchem sie gedeihen, ist karg und trocken. Sonderlich nährend kommt mir das jetzt auch nicht vor.
Mir wird bewusst, dass Traumata den Betroffenen all das nehmen: Das Gefühl, verwurzelt zu sein und Halt zu finden. In Sicherheit zu sein. Kein Wunder, dass ich mit dem Bild nicht klarkomme!
Die Erkenntnis tut weh und Aglaia macht sich bemerkbar: Dunkelheit breitet sich aus und ich bekomme Schmerzen. Ich versichere ihr, dass ich vorsichtig sein werde.
Wenn ich keine Wurzeln habe, dann will ich mich jetzt und hier in diesem Boden verwurzeln, mich mit dem Stück Land verbinden, auf welchem ich im Laufe der letzten Jahre Halt und Sicherheit gefunden habe!

Der Stamm steht für unsere Fähigkeiten, unsere Ressourcen.
Schreiben! Schreiben, gar keine Frage, ist eine meiner wichtigsten Ressourcen! Kreativität überhaupt. Und ich habe Humor. Der hilft – auch wenn er zur Not schwarz ist.
Nun hat so eine alte Steineiche einen ziemlich mächtigen Stamm … vielleicht hätte ich mir lieber einen Schößling ausdenken sollen.

Die Äste sind unsere Visionen und Wünsche.
Die Blätter Menschen, die uns etwas bedeuten, oder bedeutet haben. Die wir, oder die uns geliebt haben.
Und die Früchte Geschenke, die wir erhalten oder gemacht haben.
Ach herrje … was das betrifft hätte ich ein Gewächs vom Format einer Wünschelrute gerade so eben bewältigt.
Dieser prachtvollen Baumkrone mit den silbrig schimmernden Blättern, die im Wind rauschen, aus der es Unmengen von Eicheln regnet, werde ich nicht im Ansatz gerecht.
Mein selbstgewähltes Eremitinnendasein kommt mir plötzlich verarmt und traurig vor.

Die Schmerzen werden immer heftiger und ich erwäge, die Übung abzubrechen.
Andererseits weiß ich aus der Yoga-Praxis, dass solche Abbrüche sehr irritierend wirken können – es ist sinnvoll, sich sowohl für den Ein- als auch für den Ausstieg Zeit zu nehmen.
Also beschließe ich, der Baum zu sein!
Meine Füße sind fest in diesem kargen Boden verwurzelt, meine Wurzeln erstrecken sich durch das ganze Gelände! Mein Stamm ist stark, meine Arme sind erhoben und meine Hände berühren den Himmel! Die Hunde schlafen zu meinen Füßen und ich umspanne den Hof und alle, die ihn bewohnen!

Dieser Kraftakt erschöpft mich ganz und gar und ich warte verzweifelt auf das Ende der Meditation.
Es kommt in Form der Metta-Sätze.
„Echt jetzt? Das AUCH noch?“
Das klingt nach „T“ und ihren despektierlichen Bemerkungen, aber ausnahmsweise verstehe ich sie. Ich kann nicht mehr!
Wir einigen uns darauf, mit halbem Ohr zuzuhören und uns einfach dem Ende der Veranstaltung entgegentreiben zu lassen.

Ich bin zutiefst dankbar für diese Erfahrung: Für die Erfahrung, dass es in der Achtsamkeitspraxis möglich ist, schmerzhafte und verstörende Empfindungen wahrzunehmen und anschließend weiterzugehen.
Wie erschöpft ich bin, merke ich, als ich kurz darauf versuche, eine Treppe hochzusteigen: Mir zittern die Knie.

Selbstversuche

In meinen Zwanzigern habe ich einmal, in einer Art Varieté-Zelt, dem Auftritt eines Hypnotiseurs beigewohnt. Ich habe mich sogar gemeldet, als Freiwillige für die Bühne gesucht wurden!
Heute erinnere ich mich nur noch, dass ich, als er „Ihre Arme werden ganz leicht!“ gesagt hat, dachte „Is klar! Jetzt heben wir alle die Arme hoch …“ und einigermaßen befremdet war, als meine Arme tatsächlich in die Höhe strebten.
Beim „in den Pfirsich beißen“ allerdings bin ich rausgeflogen: Unverkennbar handelte es sich bei dem „Pfirsich“ um eine Zitrone!
So wurden nach und nach die Kandidat:innen aussortiert bis nur noch eine einzige Frau übrigblieb, die – und das hat mich damals schon beeindruckt! – schließlich auf zwei Stühlen lag, die Schultern auf dem einen, die Unterschenkel auf dem anderen, während der Hypnotiseur mit Anlauf auf ihren Bauch sprang. Sie verzog keine Miene, lag da wie ein Brett

Als ich mich um einen Hypnose-Termin in der Schmerzabteilung der Universitätsklinik bemühe, ist mir bewusst, dass mich jetzt garantiert kein Bühnenzauber erwartet, aber ein bisschen ängstlich bin ich schon! Was, wenn ich in der Hypnose die peinlichsten Geschichten meines Lebens erzähle? Oder irgendetwas Hochnotpeinliches tue?
Der Arzt (immer dran denken: er ist Arzt, kein Entertainer!) beruhigt mich: Nicht er wird mich hypnotisieren, sondern ich werde das selbst tun. Er wird mir nur dabei helfen, das zu lernen!
So weit verstehe ich ihn, aber dann gerate ich ins Schwimmen:
Entgegen meiner Hoffnung spricht er ausschließlich Französisch und ich habe ihm gesagt, dass ich ihm folgen könne sofern er langsam spräche.
Nun … wenn das langsam ist, möchte ich schnell nicht erleben …

Es passiert mir nicht zum ersten Mal, dass mir in besagter Klinik versichert wird: Doch, doch! Keine Sorge! Die Spezialist:innen sprächen Deutsch oder zumindest Englisch!
Beim ersten Mal hab ich das tatsächlich geglaubt.
Da bin ich auf Alzheimer getestet worden. Wer den Test kennt, weiß, dass es dabei unter anderem darum geht, sich Wörter zu merken und Gegenstände und Zusammenhänge korrekt benennen zu können. Natürlich weiß ich, wie das Tier mit dem Horn auf der Nase heißt! Nur nicht auf Französisch … Und klar: Was eine Armbanduhr und ein Lineal gemeinsam haben, ist das Messen von Einheiten! Sofern bekannt ist, was „Armbanduhr“, „Lineal“ und „messen“ auf Französisch heißt … Wir gestikulieren was das Zeug hält! Ich fokussiere mich auf den Umstand, dass die schiere Absurdität der Situation durchaus einen gewissen Unterhaltungswert hat, bin anschließend aber so erschöpft, dass ich kaum noch gehen kann.
Die gute Nachricht: Alzheimer habe ich nicht. Und ich sei gut organisiert, heißt es. Immerhin!

Beim zweiten Termin zeigt sich, dass ich die Aufgaben, die ich bis dahin hätte erledigen sollen, nicht vollständig verstanden habe. Also wird mir ein weiteres Mal – diesmal sehr langsam – erklärt, was ich tun soll.
Und: Zu meiner großen Erleichterung spricht der Arzt dann doch ein bisschen Englisch!

Heute lerne ich stattdessen, mir einen sicheren Raum vorzustellen.
Das kenne ich schon und habe, da der betreffende Raum tatsächlich existiert und ich ihn sehr gut kenne, keinerlei Schwierigkeiten, ihn vor meinem inneren Auge erstehen zu lassen. Und natürlich weiß ich, welche Geräusche ich höre und wie es dort riecht!
Neu ist, dass es explizit mein Körper sein soll, der dort in Sicherheit ist. Der Arzt führt mich durch eine Art Bodyscan (siehe: Wellness mit Schattenseiten) in meinem safe room.
Ich habe kein Problem, ihm zu folgen, merke aber bei dieser Gelegenheit, wie schwer es mir fällt, die Augen tatsächlich fest zu schließen. Ein winziger Spalt bleibt immer offen … nur für den Fall.
Und ich finde es extrem gruselig, mit geschlossenen Augen neben einem fremden Mann zu sitzen, der mir zuflüstert, wie sicher mein Körper gerade ist!
Das ist insofern nicht so schlimm, als ich ab jetzt alleine üben soll: jeden Tag 10 Minuten.


Zunächst kommt es hin und wieder vor, dass dabei plötzlich alles schwarz wird. Da ich diese Schwärze schon aus der Meditation kenne, macht sie mir keine Angst – aber ich weiß nicht recht, was ich tun soll: Hineinsehen und gucken, was passiert? Oder mich weiter auf meinen sicheren Raum konzentrieren?
Ich entscheide mich für Letzteres, aber es gelingt mir nicht, das „Licht wieder einzuschalten“.
Am Ende der Hypnose soll ich ein Geschenk aus meinem sicheren Raum mitnehmen und sorgsam verwahren. Ich stelle mir mein Vertiko vor (ein Familienerbstück), in welchem eine Holzschatulle mit Schnitzereien steht, die meiner Mutter gehört hat. Dort verstaue ich mein Geschenk.
Bei einer Gelegenheit ist das Vertiko mit Schwärze angefüllt und die Schatulle ist voll von etwas, das ich ganz sicher nicht sehen möchte. Es sieht aus wie Blut.
Ich werfe mein Geschenk hinein und schließe eilig die Tür.
Ein anderes Mal springt mich etwas an, als ich das Vertiko öffne.
Ich werde mir einen anderen Aufbewahrungsort suchen müssen – offenbar haben Familienerbstücke so ihre Tücken …

Der Arzt hat mir gesagt, dass es nicht jeden Tag gleich gut klappen wird.
Aber mit zunehmender Übung merke ich, dass ich mich mehr und mehr entspanne, kurz davor bin, einzuschlafen.
Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass ich weniger dazu neige meinen Kopf ein- und die Schultern hochzuziehen. Das tue ich sonst sogar im Schlaf: Mein Kopf ruht nie ganz entspannt auf dem Kissen, ein Ohr ist immer gespitzt, so, als könnte ich jeden Moment angegriffen werden. Kein Wunder, dass ich Verspannungen habe! Die schmerzen, hab ich mal gehört, am meisten, wenn sie sich lösen. Kommt mir auch so vor!
Und selbst als die Schmerzen allmählich nachlassen fühle ich mich immer noch, als hätte ich mich körperlich völlig verausgabt.
Dennoch: Ich genieße das Gefühl, mit dem mein Kopf ganz schwer in ein Kissen sinkt!
In meinem safe room ist es (warum auch immer) zartgelb und herrlich weich. Ich nutze die täglichen 10 Minuten, um meinen Kopf wieder und wieder hineinsinken zu lassen, den Nacken zu strecken und die Schultern zu entspannen.
Mein Körper ist hier sicher!

Volles Programm

Der Frühling hat es in sich!

Die weise Hebamme unterstützt mich weiter darin, meine Träume zu interpretieren (siehe: Traumfrau), und es ist nicht ungewöhnlich, dass eine solche Sitzung drei Tage dauert. Jedenfalls für mich: Am Vortag übersetze ich Träume und/oder Überlegungen dazu ins Französische und bekomme erste Angstsymptome. Am Tag X selbst bin ich vor dem Termin aufgeregt bis panisch und danach fix und fertig: Dann muss ich erst einmal ins Bett. Am Tag darauf fühle ich mich, als hätte ich eine Mischung aus Ironwoman und Everest-Besteigung hinter mir.

Die Weise Meditierende (siehe: Drei weise Frauen) bietet einen weiteren Workshop an und ich stelle fest, dass ich diesmal, obwohl der Inhalt sich nicht allzu sehr verändert hat, die Meditation ganz anders erlebe, ganz neue Erkenntnisse daraus ziehe. Überflüssig zu erwähnen, dass ich am Tag nach dem mehrstündigen Auftakt, das Bett gehütet habe …

Meine Yoga-Praxis habe ich, nach einer Phase, in welcher sie mir nicht gut getan hat, auf traumasensibles Yoga umgestellt. Damit bin ich sehr zufrieden!
Obwohl ich seit über sechs Jahren mehr oder weniger stets die selben Übungen gemacht und sie immer als wohltuend und entspannend empfunden hatte, habe ich mich in der letzten Zeit gefühlt, als sei mein Körper anschließend sehr aufgeregt, als stünde ich unter Strom. Angenehm war das nicht!
Die traumasensiblen Übungen sind noch kleinteiliger als die, die ich bisher kannte, wirken wie Vorbereitungen auf das, was mir eh schon wie Yoga für Alte und Gebrechliche vorgekommen war. Und sie tun mir gut!
Die Lektüre des entsprechenden Buches allerdings hat mich an meine Grenzen gebracht – dazu ein andermal mehr.

Last not least lerne ich, mich selbst zu hypnotisieren!
Es war – und damit schließt sich sozusagen der Kreis – die weise Hebamme, die mir den Tip gegeben hat, dass die Schmerzabteilung der nächstgelegenen Universitätsklinik Hypnose anbietet.
An dieser Stelle kann ich – trotz aller Bemühungen um eine positive Weltsicht – ein gewisses Maß an Frust und Verbitterung nicht leugnen: Dass ich unter chronischen Schmerzen leide, ist durchaus keine Neuigkeit und ich hatte in besagter Klinik schon mehr als einen Termin!
Warum um alles in der Welt hat mich vorher niemand an diese Abteilung verwiesen?
Aber sei’s drum: Jetzt jedenfalls habe ich den Fuß in der Tür!

Bleibt nur noch, meine diversen Termine so zu koordinieren, dass ich mich vom letzten halbwegs erholen kann, bevor ich Angst vor dem nächsten bekomme …

gereizt!

Als ich meine allerersten Hitzewallungen hatte, dachte ich „Aha! Die Wechseljahre!“.
Und habe amüsiert vermerkt, wie oft ich morgens im T-Shirt aus dem Haus gestürmt bin, um ein bis zwei Stunden später zu realisieren, dass ich für Temperaturen nahe null Grad nicht passend angezogen war.


In diesen Phasen habe ich mir abends zwei bis drei frische T-Shirts neben’s Bett gelegt, um ein nassgeschwitztes ohne großen Aufwand austauschen zu können. Das schien mir damals am schwierigsten: Aus der Feststellung „mir ist kalt!“ im Halbschlaf die richtigen Schlüsse zu ziehen – „ich bin klatschnass!“ – und dann auch noch das Richtige zu tun: „umziehen!“.
Weiter habe ich mir über das Phänomen keine Gedanken gemacht.

Meine „Wechseljahre“ kamen und gingen.
Die finale Bestätigung, das endgültige Ausbleiben der Menstruation, konnte ich nicht zu Rate ziehen: Seit meine Gebärmutter wegen schwerer Endometriose entfernt wurde, blute ich nicht mehr.
Und unter uns: Ich habe jahrzehntelang versucht, meinen Körper mit all seinen Funktionen anzunehmen, Mein Frau-Sein zu akzeptieren!
Die Entfernung meiner Gebärmutter hatte – wegen Zysten und Myomen – schon lange zur Debatte gestanden. Ich hab das – auch ohne ausgeprägten Kinderwunsch – immer abgelehnt.
Meine Gebärmutter war schließlich ein Teil von mir! Mein Zyklus war Teil meines Lebens!
Trotzdem ist mir der Abschied letztendlich leicht gefallen: Aus dem „gebärfähigen Alter“ war ich deutlich raus, ich hatte alles getan, mich mit meiner „Weiblichkeit“ zu arrangieren …
Es war okay, ab jetzt getrennte Wege zu gehen!
Und so habe ich Abschied genommen: Meiner Gebärmutter erklärt, dass ich sie sehr zu schätzen gewusst, mich aufrichtig bemüht habe, mit ihr und ihren Funktionen zu leben, dass es nun aber an der Zeit sei, sich zu trennen.
Und tatsächlich: Ich habe diesen Aspekt meines Frau-Seins keine Sekunde lang vermisst!

Aber ich benötige nun Blutuntersuchungen, um zu wissen, ob „es“ soweit ist.
Der aktuelle Stand: Mein Körper, der in so vieler Hinsicht nicht so funktioniert, wie er soll, kriegt das immer noch hin!
Der letzte Scan meines Unterleibes zeigt einen Eisprung.
Dennoch: Es wird passieren!
Und mir ist durchaus bewusst, wie erschreckend wenig ich über diesen Lebensabschnitt weiß.

Hitzewallungen, ja. Depressionen auch – aber warum eigentlich?
Ich habe keine Lust, mich damit zu beschäftigen, merke aber auf, als ich über „die gereizte Frau“ stolpere.
Ein Buch, welches mir nicht dabei helfen möchte, diesen Lebensabschnitt zu ertragen, sondern mich ermutigt, gereizt zu sein. Definitiv: Mein’s!

Gereizt zu sein, gehört nämlich ohne Wenn und Aber ebenfalls zur Perimenopause dazu, der Übergangszeit zwischen … ja, was eigentlich? Fruchtbarkeit und … was?
Definiert Weiblichkeit sich über Fruchtbarkeit und der Vorstellung jugendlicher Schönheit?
Und wenn nicht … worüber dann?

Ich erfahre, dass viele Symptome, die ich bisher meiner Erkrankung zugeordnet habe, auch dem Umstand geschuldet sein können, dass ich „in den Wechseljahren“ bin. Und, dass der Ausdruck Wechseljahre tatsächlich bedeuten kann, dass die Symptome 10 bis 15 Jahre lang andauern.
Bei mit passt alles: Was ich erlebe, könnten Begleiterscheinungen der Perimenopause sein, Symptome meiner chronischen Erkrankung, oder aber Nebenwirkungen der Medikamente, die ich nehme. Oder alles zusammen.
So weit, so nice … aber warum hat mir das nie jemand gesagt?
Konkrete Tips kann ich dem Buch daher nicht entnehmen: Zu viele Unbekannte.
Aber ich habe einen Riesenspaß beim Lesen!

Miriam Stein schreibt nicht einfach einen Ratgeber, sie erzählt, wie sie selbst die „Wechseljahre“ erlebt. Und sie tut das mit einem Ausmaß an Selbstironie und Humor, dass ich mich stellenweise vor Vergnügen nass machen möchte. Apropos Inkontinenz …
Ansonsten listet sie auf, was alles Frauen tun können, um diesen Lebensabschnitt nicht einfach zu ertragen, sondern zu gestalten.
Manches davon befremdet mich.
Ich habe „vulvovaginale Atrophie“ so lange langsam auszusprechen geübt, bis es mir halbwegs geschmeidig über die Lippen kommt. Aber ich glaube nicht, dass ich mir in diesem Leben die Vagina werde lasern lassen. Gleiches gilt für Facelifting und Fettabsaugung.
Und warum um alles in der Welt hätte ich meine Eizellen einfrieren lassen sollen, um wirklich jederzeit schwanger werden zu können? Jederzeit schwanger werden zu können war schlimm genug, als es noch ohne technologische Unterstützung möglich war …
Die Hitzewallungen – erwähnte ich die Hitzewallungen? – könnte ich durchaus missen, aber ansonsten bin ich bereit, einfach alt zu werden – mit allem was dazugehört.

Die Autorin selbst ist „gut situiert“, erfolgreich im Beruf.
Ich rechne ihr an, dass sie gelegentlich anmerkt, arme Frauen, Frauen in armen Ländern, hätten zu dem Großteil der Möglichkeiten, die sie beschreibt, keinen Zugang.
Dennoch möchte ich ihr hin und wieder zurufen „Gute Frau, in dieser Situation sind Klimakteriumsbeschwerden wirklich das kleinste aller Probleme!“.
Aber gut: Sie erzählt ihre Geschichte. Und sie listet auf, was geht. Wenn es denn geht.
Nicht ihre Schuld, dass meine Welt(sicht) eine ganz andere ist.

Gegen Ende des Buches sammelt Miriam Stein mich denn auch wieder ein:
Sie guckt auf ganz andere Weise über den Tellerrand, als ich das erwartet hätte, und erzählt zum Beispiel von Sheela- na-gig, einer Figur, die sich an den Fassaden mittelalterlicher Kirchen in Großbritannien und Irland findet. Die kleine, haarlose (gealterte?) Frau präsentiert ihre weit geöffnete Vulva und gilt heute als Schutzheilige irischer Feministinnen. Sie könnte eine kulturelle Bedeutung der Vulva transportieren, die nichts mit Sex oder Fruchtbarkeit zu tun hat, sondern – ähnlich wie der Phallus – eine Machtposition symbolisiert.
Weiter richtet sie ihren Blick nach Asien und berichtet von einem buddhistischen Ritual, welches Frauen den Übergang in die Menopause erleichtern soll, und sie gleichzeitig in der religiösen Gesellschaftsordnung aufsteigen lässt. Sie werden in die Schwesternschaft „Peng“ aufgenommen, deren Angehörige tief miteinander verbunden sind, sich austauschen und in der Gemeinschaft Halt finden.

Miriam Stein nimmt Sheela-na-gig und die Schwesternschaft Peng zum Anlass, eine feministische Utopie zu skizzieren, eine ganz eigene Vorstellung davon, wie eine Welt aussehen könnte, in der Frauen heranreifen, statt lediglich zu altern. In der sie in Verbindung gehen und sich ihrer Kraft bewusst werden.

Das klingt nach Aufbruch. Meins!

Spinne, Rabe, Känguru

Mir schwant nichts Gutes, als am Tag des Online-Workshops zur Einführung in die Arbeit mit inneren Anteilen böiger Wind aufkommt …
Unser Tun und Lassen wird weit über landwirtschaftliche Belange hinaus vom Wetter bestimmt: Bei Gewitter ist stets mit Stromausfällen zu rechnen, bei starkem Wind bläst es uns das Internet weg …
In der Küche ist eingeheizt, Yogamatte und Kuscheldecke einerseits, Papier und Stifte andererseits liegen bereit … und ich komme nicht über die Einleitung hinaus, erfahre gerade eben, was ich erfahren würde, wenn ich denn online bliebe
Das erinnert schon ein bisschen an die Zeiten, als Funksprüche auf die Informationen zwischen all dem „rrrrks“ und „knacks“ abgehört wurden …

Gasthaus“ schnappe ich auf, „Anteile treffen“ … „drei auswählen“ …
Bei angeleiteten Meditationen gibt es immer wieder Pausen des Schweigens – die Meditierenden sollen sich ja auf ein Bild, eine Frage oder dergleichen fokussieren und nicht einfach zugeschwallt werden. Ich versuche, die Länge der Pausen einzuschätzen und spinkse hin und wieder zur Kamera und ihrem Lämpchen:
Grün … grün … aus!
Dann wechsle ich von der Yogamatte auf den Küchenstuhl und versuche, die Götter des Internets gnädig zu stimmen. So kann ich nicht meditieren!

Manchmal bleibt die Verbindung zwar erhalten, aber das Bild friert ein und ich höre nichts. Es gelingt mir, Bröckchen des Theorieteils zu erhaschen. Aber den größten Teil der Zeit sitze ich einfach frustriert und gelangweilt vor dem Rechner.

Einem Teil meiner Anteile bin ich ja schon begegnet … zur Not kann ich sicher drei aussuchen, mit denen ich später arbeiten möchte.
„Nicht ausgerechnet gleich die schwierigsten“ … soviel immerhin habe ich mitbekommen. Aber so oft ich im Hundetraining auch gepredigt habe, dass wir immer vom Leichten zum Schwierigen trainieren: Ich konnte mich noch nie an meine eigenen Ratschläge halten.

„Du bist einfach nur faul und undiszipliniert!“ habe ich unterdessen an anderer Stelle gelernt, ist womöglich die Stimme eines täternahen, täterloyalen Anteils, oder ein sogenanntes Täterintrojekt. Das Wort „Täter“ ist, finde ich, an dieser Stelle missverständlich, weil zumindest ich an „Täter“ im Sinne von „Straftäter“, „Gewalttäter“ denken muss, was so aber gar nicht zwingend gemeint ist. „Täter“ können zum Beispiel auch einfach Elternteile sein, die ihrerseits instabil, nicht zuverlässig ansprechbar und schützend sind. „Auslöser“ oder „Verursacher“ wäre vielleicht passender.
Mein allererster Therapeut hat mir mal erklärt, man spreche in der Therapie nicht von Schuld, sondern von ursächlicher Beteiligung. Irgendwie so …

Ein solcher Anteil wertet nicht, sondern hält dem ursächlich beteiligten Menschen die Treue, beschützt ihn und generiert so Nähe und Sicherheit. Täternahe Anteile verzeihen dem Täter – allerdings nicht aus einer friedfertigen, heilenden Haltung heraus:
(„Ein kleiner Klaps hat noch niemandem geschadet!“ wäre ein ganz typischer Ausspruch eines solchen Anteiles).
Es sind außerordentlich starke Anteile, deren Entstehen dem Überleben dient: Sie sind hart gegen „sich“ selbst und verhindern den Zusammenbruch des Systems, indem sie schwächere, verletzbare Anteile beschützen.

Das Thema windet sich wie ein Aal, so richtig bekomme ich es noch nicht zu fassen* – ähnlich wie bei „Dissoziation“ und „Glaubenssatz“, werde ich wohl einfach warten müssen, bis mein Verstand die Information in einer Form vorfindet, die er für „verdaulich“ hält.
Aber gestolpert bin ich nun einmal darüber und das Detail „hat dem Täter verziehen“ hat mich kurzerhand von den Füßen geholt.

* Eine recht gute Erklärung findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=mhVt3r_7aWc

Im Hier und Jetzt sitze ich immer noch vor dem Rechner. Nichts tut sich.
„Täterintrojekt“ sinniere ich … „TI“ … „T“!
T ist eine von Taras Persönlichkeiten in „Taras Welten“, sie trägt ein „T.“ Tattoo auf dem Po.
Mein Blick fällt auf die bereitgelegten Stifte.
Ich beginne, ein pinkfarbenes T zu zeichnen.
Seit Jahren habe ich nicht zu zeichnen versucht: Durch die Makuladegeneration verschwindet alles, was ich direkt anschaue, hinter einer grauen Fläche und auch mit meiner Feinmotorik steht es grad nicht zum Besten.

Dementsprechend krakelig fällt mein T aus. Trotzdem habe ich Lust, aus dem Punkt ein Herzchen zu machen und das T selbst auch noch mit Lila zu dekorieren.

Mit meiner Angst sollte ich vielleicht auch einmal ein Wörtchen reden …
Es gibt eine Sorte Spinnen, die ich für mich „Eckenspinnen“ nenne, weil sie gern in Ecken sitzen. Sie bestehen fast nur aus Beinen und sind so hauchzart, dass man sie kaum sieht. Erschrecken sie, beginnt der ganze Körper zu beben. Bei Gefahr rennen sie eilig davon.
Beim Staubsaugen achte ich immer sehr darauf, ihnen reichlich Vorsprung zu lassen, damit ich sie nicht versehentlich aufsauge.

Die Eckenspinne gelingt schon besser.

Außerdem, fiel mir auf, weiß ich gar nicht, wer Aglaia eigentlich ist …
Für sie möchte ich einen Raben zeichnen.
Um Raben ranken sich zahlreiche Mythen – sie gelten als Unglücks- oder gar Todesboten, ursprünglich aber auch als Bringer des Lichts.
Der germanische Gott Odin führte stets zwei Raben, Munin und Hugin, mit sich, die er jeden Tag ausschickte, um zu erfahren, was in der Welt Wichtiges geschah.Im Mittelalter galten Raben als Begleiter von Hexen.
Schon als Kind habe ich mir einen zahmen Raben erträumt und der Anblick „unserer Raben“ weckt, wenn sie über dem Hof kreisen, immer mal wieder eine gewisse Begehrlichkeit.
Als ich versuche, einen Raben zu „sehen“ (man kann nicht zeichnen, wovon man keine genaue Vorstellung hat) fällt mir Wilhelm Buschs Hans Huckebein ein, seine Vorliebe für Alkohol und sein unwürdiges Ende …

Zurück zum Bild eines beeindruckenden Rabenvogels!
Leider gelingt mir lediglich eine schwarze Friedenstaube mit großem Schnabel …

Zu meinem Selbst will mir zunächst so gar nichts einfallen, also schreibe ich einfach ein dünnes „Selbst“ auf das entsprechende Blatt.
Wie sich zeigt, habe ich trotz der „Funkstille“ alles richtig gemacht: Wir hätten den Namen oder ein Stichwort für den jeweiligen Anteil auf ein Blatt schreiben sollen, Zeichnungen werden normalerweise später angefertigt.
Die Blätter werden auf dem Fußboden ausgelegt: Auf dem „Selbst“ stehen wir, die Anteile liegen vor uns. Ganz kurz höre ich eine Stimme aus dem OFF, die das extrem albern findet.
In (oder eben auf) unserem Selbst können wir uns verankern: Sollte der Kontakt mit einem der Anteile schwierig werden, können wir zu uns selbst zurückkehren.
Ich stehe stabil, ganz leicht im Knie und erinnere mich an einen Ratschlag, den ich einmal gelesen habe: Stell dir vor, du hättest einen langen, muskulösen Schwanz, mit dem du dich zusätzlich auf dem Boden abstützen kannst.
Und mir wird klar: Ein Känguru!
Das Bild für mein Selbst ist ein Känguru. Und es trägt Boxhandschuhe.

Nun sind wir eingeladen, uns „auf“ den Anteil zu stellen, mit dem wir in Kontakt treten möchten.

Ich hatte mit T beginnen wollen, bekomme aber plötzlich solche Angst, dass ich es sinnvoller finde, mich zuerst auf die Eckenspinne zu stellen. Kaum dort angekommen, beginne ich zu weinen. Es ist ein Weinen, das ich von mir gar nicht kenne: Ich selbst verkrampfe mich dabei, ziehe die Schultern hoch, halte die Luft an – hier weint jemand ganz entspannt.
Und rät mir, einmal zu schauen, ob meine Höhenangst womöglich etwas damit zu tun hat, dass ich nicht „zu hoch hinaus wollen“ darf.

Nach einer Verschnaufpause bei mir selbst, versuche ich, Kontakt zu T aufzunehmen.
Im ersten Moment habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
Dann: Nichts. Keine Reaktion.
Erst als ich zu meinem Selbst zurückkehre, spüre ich einen deutlichen Schub von hinten, als solle ich wieder zu T hin …
Das wird – wenn auch nicht jetzt sofort – mit Sicherheit passieren.
„Vielleicht“, schießt mir durch den Kopf, „freut sie sich für’s Erste einfach, dass ich ihr ein Bild gemalt habe.“.

Nun zu Aglaia.
Ich bekomme sofort heftige Schmerzen in der linken Körperhälfte. Vom Kopf bis zu den Füßen – sogar die Zähne tun weh. Ansonsten schweigt sie.
Der größte Teil der Anleitung zum Umgang mit meinen Anteilen, ist leider an mir vorbeigerauscht – da war was, aber ich erinnere mich nicht …
Nur daran, dass ich meinen Anteilen einen guten Wunsch senden kann.
Aglaia, von der ich glaube, dass mit ihr auch die bleierne Schwere einhergeht, die es mir manchmal unmöglich macht, mich auch nur im Bett aufzusetzen, wünsche ich, dass ihr Flug gelingen möge.

Versuch’s doch mal mit Yoga!

Dieser Text ist einer lieben Freundin gewidmet, der Yoga schon so oft empfohlen wurde, dass sich ihr Nackenfell bereits bei „Yo …“ zu sträuben beginnt.

„Versuch’s doch mal mit Yoga!“ kommt gleich nach „Ausdauersport ist gut gegen Depressionen!“ und „sorg mal ein bisschen für dich, sei nett zu dir selbst: wie wäre es mit einem schönen, duftenden Schaumbad?“ …
Ausdauersport, vulgo „Joggen“ – das habe ich bestimmt mal erzählt – ist bei mir schon daran gescheitert, dass ich beim Anziehen der Socken in ein Dimensionstor geraten bin: Eine halbe Stunde nach dem Entschluss, mich anzuziehen, war Socke Nummer eins immer noch nicht am Fuß. Das Schicksal von Socke Nummer zwei liegt bis heute im Dunklen …

Aber die Nummer mit dem Schaumbad hab ich ausprobiert!
Das volle Programm: Brühheißes Wasser, reichlich duftender Schaum, Kerzen auf dem Wannenrand, eine Handvoll auf Vorrat gedrehter Zigaretten (da hab ich noch geraucht), ein heiterer Roman (Bridget Jones – damals bin ich wirklich vor nichts zurückgeschreckt) und – aber echt nur ganz ausnahmsweise! – ein Fingerbreit Whisky (Sekt war aus).
Hat’s nicht gebracht.

In die Sonne, oder eben in die Badewanne gehen, Sport treiben etc. ist natürlich auch für solche Menschen gut, die zu Depressionen und Ängsten neigen. Mit der Betonung auf neigen: Während einer Depression kann es schon eine erhebliche sportliche Herausforderung sein, das Bett zu verlassen, sich anzuziehen und sich einigermaßen regelmäßig zu waschen. Und tatsächlich gibt es Formen der Depression, bei denen all das nicht hilft. Wirklich nicht. Überhaupt gar kein Bisschen. Trotzdem ständig dazu aufgefordert zu werden, womöglich mit vorwurfsvollem Unterton („wenn du das nicht machen willst, bist du ja schon irgendwie selbst schuld …“) macht es nicht besser.


Warum ich dennoch Yoga praktiziere

Vor einigen Jahren habe ich begonnen, mich mit dem Thema „Achtsamkeit“ bzw. „MBCT – Mindfulness Based Cognitive Therapy (achtsamkeitsbasierte Verhaltenstherapie) zu befassen, wozu ein allmorgendlicher Bodyscan gehörte.

Rückblickend denke ich, zumindest für den Bodyscan war es noch zu früh: Ich habe die lebhafte Reaktion meines Körpers auf meine Versuche, seiner gewahr zu sein, zwar zur Kenntnis genommen, konnte aber nichts damit anfangen.
Zur Unterstützung der Übungen wurde Yoga empfohlen, genau gesagt: bestimmte Yoga Übungen.

Als kurz darauf im Dorf ein Yoga-Kurs angeboten wurde, hab ich nicht lange gefackelt.
Nicht, weil ich das unbedingt gewollt hätte. Ich fand, das sei Kismet: Der maximal unwahrscheinliche Umstand, dass irgendwo im Nirgendwo just dann ein Yogakurs angeboten wurde, als ich darüber nachdachte, einen zu besuchen. Sowas verpflichtet …
Und das Universum war mit mir: Wie der Zufall es wollte – aber das ist mir erst sehr viel später klargeworden – wurden dort genau die Übungen unterrichtet, die ich brauchte.
Heute weiß ich, dass es sich bei dem, was ich gelernt habe und immer noch lerne, um traditionelles und sehr kleinschrittig aufgebautes Hatha-Yoga handelt, damals war mir das – ehrlich gesagt – vollkommen schnuppe, da hatte ich ganz andere Sorgen.

Den Hof zu verlassen um ganz allein unter lauter fremden Menschen, deren Sprache ich nicht beherrschte, an ganz egal was teilzunehmen, hat mir anfangs solche Angst eingejagt, dass ich mit nichts anderem beschäftigt war. Trotzdem war es nicht einfach Erleichterung, was ich empfunden habe, wenn ich das Training wieder einmal überstanden hatte, sondern ich habe mich leicht und fröhlich gefühlt. Irgendetwas hat Yoga bewirkt, soviel war klar.
Und irgendetwas ist auch passiert, wenn ich das Training – zum Beispiel während der Schulferien, wenn der Kurs nicht stattfand – „geschlabbert“ habe. Dann bin ich regelmäßig in die Depression abgerutscht.
Gleichwohl war nicht alles eitel Sonnenschein, nicht alle Erfahrungen leicht und fröhlich: Yoga kann alte Emotionen berühren und aktivieren, die wir zwar aus unserem Bewusstsein eliminiert haben, die der Körper aber dennoch in Erinnerung behält. Die Tränenausbrüche und Panikattacken, die das Training auf diese Weise auszulösen vermag, fühlen sich höchst gegenwärtig an – ganz egal, wie alt die Erinnerungen auch sein mögen.
Bei mir war es insbesondere eine bestimmte Übung, die aus just diesem Grunde bis heute die „tränenreiche Torsion“ heißt – auch wenn sie unterdessen zu meinen liebsten Routinen zählt.

Anfangs also war Yoga ein Mittel im Kampf gegen meine Angst, später dann gegen die Depression. Als ich zunehmend unter Schmerzen zu leiden begann, habe ich die Übungen genutzt, um diese ertragen zu lernen: Selbst wenn es mir die Tränen in die Augen getrieben hat – es war immer noch möglich, zu atmen und mich zu entspannen, es gab immer noch etwas jenseits der Schmerzen.
Mittlerweile sind die Übungen fester Bestandteil meines Alltags und seit ich die passenden Medikamente bekomme, mache ich tatsächlich auch Fortschritte.

Mit den anmutigen Flows, die ich – zugegeben – hin und wieder selbst gerne bei Youtube bestaune, hat mein Tun dennoch nicht mehr gemeinsam, als dass beides auf einer Matte stattfindet.
Die Arbeit – die weise Yogini spricht tatsächlich von travail – findet in der Haupsache im Körper statt, mit viel hinein atmen, sich Millimeter für Millimeter in eine Haltung hinein entspannen, in sich hinein fühlen. Wenn die angestrebte posture dabei zunächst nur angedeutet wird, ist auch das in Ordnung und falls selbst das nicht möglich sein sollte, kann die Übung immer noch mental ausgeführt werden.
Gelegentlich ist mir schon der Verdacht gekommen, dass das der Grund ist, warum beim Training die Augen geschlossen werden: Damit ich nicht sehen muss, dass die Kniekehlen meiner gefühlt durchgestreckten Beine immer noch eine Handbreit vom Boden entfernt sind …
Andererseits schaffe ich es mittlerweile, Positionen zu halten, aus denen ich anfangs wie ein nasser Sack herausgeplumpst bin.

Als ich nun erfahre, dass Hatha-Yoga insbesondere in der Trauma-Therapie empfohlen wird, bitte ich die weise Yogini, mich bei meinen Bemühungen diesbezüglich zu unterstützen.
Außerdem hat mich dann doch ein gewisser Ehrgeiz gepackt: Ich hab versucht, mir selbst ein paar weitere Asanas beizubringen und möchte, dass sie draufschaut, ob ich alles richtig mache.

Ihr Gesichtsausdruck, als ich erzähle, dass ich Youtube-Videos anschaue, um mehr über Yoga zu lernen, ist schwer zu deuten, entspannt sich aber, bilde ich mir ein, als ich versichere, die Flows wirklich nur anzugucken
Sie hört sich geduldig an, was ich an Anregungen im Internet und in meinem dicken Yoga-Buch gefunden habe und lässt mich mehr als einmal wissen „Wenn du das Prinzip verstanden hast, kannst du das so machen! Dann kannst du alles so machen, wie du möchtest!“ …
Dann fragt sie, wo genau ich eigentlich die meisten Schmerzen habe und bittet mich, ihr zwei ganz unspektakuläre Übungen, die zu den absoluten Basics gehören, einmal vorzuführen.
Was es bedeutet, Wirbel für Wirbel abzurollen, habe ich schon im Schulsport gelernt – heute lerne ich, wie es ist, wenn jemand guckt, ob wirklich jeder einzelne Wirbel tut, was er soll …
Und siehe da: Das sind nicht nur die Stellen, die wehtun, sondern auch die, die ich beim Bodyscan nicht erreichen kann. Die Platte an der Stelle, wo mein Dekolletee sein sollte zum Beispiel.
Da rollt genau gar nix …

Während ich mich mit vor Anstrengung zitternden Muskeln bemühe, meine Rückenwirbel durchzuzählen, lösen sich meine Ambitionen, grazile Asanas einzunehmen, dezent in Luft auf: Ich möchte, dass die weise Yogini nach und nach alles, was ich bereits zu können geglaubt habe, noch einmal genau in Augenschein nimmt.

Der Moment der Wahrheit kommt, als sie mich fragt, ob ich auch Pranayama, die Atemübungen, praktiziere.
Ähm … ja … also … theoretisch schon! Ich nehme mir täglich vor, sie regelmäßig zu üben! Also: Ab morgen …
Tatsache ist: Ich hab enorme innere Widerstände!
Was die weise Yogini nicht überrascht: Traumata manifestieren sich im Körper und können daher die Atemübungen extrem erschweren.
Aber, sagt sie: Ohne Pranayama ist es kein Yoga!
Wir einigen uns darauf, dass ich in winzig kleinen Schritten noch einmal ganz von vorn beginnen werde.
Ich komme dieser Verpflichtung nach, weil ich weiß, sie wird fragen beim nächsten Mal … aber rechte Begeisterung will sich nicht einstellen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es „Übung“ heißt, weil man es üben soll – nicht weil man es gleich kann.

Außerdem, bringt sie mir schonend bei, sind auch Asanas und Pranayama lediglich ein kleiner Teil dessen, was Yoga umfasst. Ich bin fasziniert – auch und vor allem, weil sie zu leben scheint, wovon sie da erzählt – und mag mehr darüber lernen.
Ganz gleich, wie weit ich auf diesem Weg kommen mag: Ich bin sicher, ich gehe in die richtige Richtung!

Also doch „versuch’s mal mit Yoga!“?

Ich muss zugeben, dass ich an diesem Punkt wirklich an mich halten muss!
Mittlerweile nutze ich Yoga weniger, um Schmerzen ertragen zu lernen, sondern um sie zu lindern. Ich kann beginnende Depressionen einfangen, mich selbst zur Ruhe bringen und beginne, mich in meinem Körper mehr und mehr zu Hause zu fühlen.
Natürlich gönne und wünsche ich das auch anderen!

Ich glaube außerdem fest, dass, wer bereits über eine gewisse Routine verfügt, es schafft, sich zur Not vom Sofa auf die Matte plumpsen zu lassen, um da wenigstens den „toten Mann“ zu machen. Wenn’s gut läuft vielleicht auch noch ein, zwei andere Übungen, bei denen man bloß daliegt und atmet. Und ja: Schon das hilft!

Ich muss allerdings auch einräumen, dass ich erst einmal für geraume Zeit eine Art Eremitinnen-Dasein führen musste, bevor an „Yoga-Kurs“ überhaupt zu denken war.
Und ja: Ich hab ein Riesenglück gehabt, genau diesen Kurs bei genau dieser Lehrerin zu finden! Trotzdem musste ich mehrere Jahre daran teilnehmen, bevor ich die Wirkung so recht genießen konnte.

Jahaha, es fällt mir schwer! Es fällt mir schwer, weil ich ja helfen will!
Aber Tatsache ist, dass ich nicht nur den richtigen Yoga-Kurs gebraucht habe, nicht nur die richtige Yoga-Lehrerin, sondern auch den richtigen Moment. Den Moment, in welchem ich bereit war!

Diesen Moment kann ich jedem anderen Menschen nur wünschen!
Verordnen kann ich ihn nicht …

Das Schweigen der Taucherin

Wenn eine Bloggerin, die von ihrem Leben mit Depressionen berichtet, ganz und gar verstummt, kann das ein Grund zur Besorgnis sein – oder eine gute Nachricht!
Bei mir ist letzteres der Fall: Es geht mir gut. Wenn ich heute einen wirklich schlechten Tag habe, dann habe ich so ziemlich genau das, was gesunde Menschen meinen, wenn sie (zum Missvergnügen derjenigen, die sich mit einer psychischen Erkrankung herumschlagen) „Das kenn ich, das geht mir manchmal ganz genauso!“ sagen.
Der Plan, mein Leben so zu verändern, dass ich es ohne Angst und Depression leben kann, ist aufgegangen. Darüber gibt es nicht mehr groß was zu erzählen.

Stattdessen sind, zu meiner nicht geringen Überraschung, die Ursachen meiner Erkrankung in den Fokus gerückt, von denen ich bisher immer angenommen hatte, sie seien schlicht nicht ausfindig zu machen.
Mit schwarzer Pädagogik habe ich mich eher zufällig und aus einem ganz anderen Grund zu beschäftigen begonnen, merke aber immer wieder, dass entsprechende Literatur irgendetwas in mir trifft, mich weinen macht und aus der Fassung bringt, so dass ich beim Lesen viele Pausen machen muss. Manches scheine ich schon in der Sekunde wieder zu vergessen, in der ich es wahrgenommen habe, gerade so, als wollte mein Gehirn nichts damit zu tun haben.
Dass ich zu den sogenannten KriegsenkelInnen gehöre, den Kindern der Kinder also, die den zweiten Weltkrieg mit tiefen Traumata überlebt haben, war mir bewusst. Wie umfänglich sich dieses „Erbe“ auf das Leben der Betroffenen auswirkt (und wie typisch meine Lebensgeschichte in vieler Hinsicht ist) erlese ich mir erst jetzt. Auch das mit vielen und langen Pausen.

Bis ich hierüber selbst zu schreiben in der Lage bin, wird noch eine Menge Zeit vergehen, dessen bin ich mir sicher.

***

Über mein Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers zu schreiben, schien mir ebenfalls ein lohnendes Unterfangen zu sein, allerdings konnte ich in diesem Moment nicht ahnen, wie zermürbend die nächsten Monate sein würden.
Irgendwann waren alle Ausschlussuntersuchungen gemacht, aber es gab keine Diagnose, sondern immer nur neue, unerklärliche Symptome.

Der bereits bestens bewährte Entengang erweiterte sich um eine Art Hühnerflügel-Position der Arme, die dabei half, im Zweifel das Gleichgewicht zu halten.
Zuweilen hat es sich angefühlt, als würden meine Beine wahlweise über ein paar Gelenke zu viel, oder aber zu wenig verfügen. Wer schon einmal versucht hat, Pedalo zu fahren (zwei etwa fußgroße Brettchen zwischen drei Räder-Paaren, auf denen balancierend man sich, mit einer Bewegung wie beim Fahrradfahren, vor- und zurückbewegen kann), kann sich das Zuviel an Gelenken vermutlich vage vorstellen. Das Zuwenig betraf häufig die Knie, die plötzlich zu fehlen schienen, was zu einer Art Stelzengang führte.
Je zügiger ich (womöglich bergauf) zu gehen versucht habe, desto unkoordinierter und langsamer wurden meine Bewegungen. Bis an schlechten Tagen gar nichts mehr ging.
Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es eine Frage der Konzentration war: Auf dem Hof, wo ich jeden Weg und Steg gut kenne, bin ich die meiste Zeit relativ gut klargekommen. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt jedoch musste ich achtgeben, wohin ich überhaupt wollte, keine PassantInnen anrempeln, eventuelle Hindernisse vermeiden, nicht über die Bordsteinkante stolpern, auf den Verkehr achten … das war viel zu viel, zum halbwegs normalen Gehen haben die Kapazitäten nicht mehr gereicht. Mit jedem Meter bin ich immer langsamer und immer eieriger vorangekommen und ich hab mir oft sehr gewünscht, wie eine ganz alte Dame am Arm geführt zu werden.

Entsprechende neurologische Untersuchungen waren samt und sonders ohne Befund. Bis eine junge Neurologin auf meinen Einwand hin, die zwei Meter ebenen Linoleumbodens in ihrem Untersuchungszimmer könne ich natürlich ohne Probleme überwinden, auf die Idee kam, mich einmal zügig den Gang der neurologischen Station entlanggehen zu lassen.
Zusammen mit meinen Freundinnen Ente und Huhn habe ich auch das prima hingekriegt und bin nur beim Wenden kurz mal aus dem Gleichgewicht geraten. Dann jedoch trat ganz unverhofft aus einem der Untersuchungsräume jemand in meinen Weg. Zumindest schien mir das so – später habe ich mir erzählen lassen, ich hätte reichlich Platz gehabt und einfach weitergehen können.
Die Vollbremsung, die mir in diesem Moment nötig schien, hat mich um ein Haar von den Füßen gerissen, mein Oberkörper kippte zu einer schwungvollen Verbeugung nach vorn, während beide Arme heftig ruderten um dabei nicht lang hinzuschlagen.
Das immerhin machte Eindruck, hinterließ ansonsten aber nichts als Ratlosigkeit.

Als nächstes waren meine Hände betroffen: Wenn ich nicht sehr konzentriert und vorsichtig zu Werke gehe, lasse ich kleine Dinge fallen, oder schleudere sie von mir. In etwa so, wie wenn man versucht, einen Marmeladen-Toast ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen an den Kanten zu halten und ihn stattdessen in eine Salto-ähnliche Drehung versetzt.
Zunächst habe ich mich gewundert, warum in meiner Gegenwart neuerdings so viele Dinge um- oder irgendwo herunter fallen, bis mir klar wurde, dass auch meine Arme ein Eigenleben führen. Weil sie das auch dann tun, wenn ich zum Beispiel Holz ins Feuer lege, verbrenne ich mich regelmäßig. Da trifft es sich gut, dass auch mit meinem Schmerzempfinden etwas nicht in Ordnung zu sein scheint: Ich kann zwar aus dem Umstand, dass es Brandblasen und zuweilen auch Narben gibt, schließen, dass ich mich ganz ordentlich verbrannt haben muss, aber sonderlich weh tut es nicht.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich mit Messern mittlerweile sehr sehr vorsichtig umgehe.

Im Restaurant zu essen hat sehr an herausfordernden Aspekten gewonnen. Ich habe mir zwar angewöhnt, alles, was ich vom Tisch fegen könnte, unauffällig aus dem Weg zu räumen, aber allein die Außenreize (ein unvertrauter Raum, fremde Menschen, Musik) saugen so viel Aufmerksamkeit ab, dass für die Handhabung von Messer und Gabel nicht genug davon übrigbleibt. Ich hantiere ungeschickt und regelmäßig fällt mir auf dem Weg zum Mund das Essen von der Gabel. Blattsalat ist eine Katastrophe.
Ein Gang zur Toilette will gut überlegt sein. Die Restaurants in Alès sind oft recht eng … Ich stehe also zunächst einmal auf (und hoffe, dass keines meiner Beine ausgerechnet jetzt wegknickt) und peile die Lage: Wo zwischen den Tischen muss ich lang? Wo kann ich mich gegebenenfalls festhalten und wo lieber nicht (die Schultern sitzender Gäste zum Beispiel bieten sich zwar an, sollten aber wirklich nur im Notfall gepackt werden)? Kann mir ein/e KellnerIn in die Quere kommen? Das alles will sorgsam geplant sein, bevor ich mich dann ganz langsam auf den Weg mache.

Die Menschen in Südfrankreich, so scheint es, sind entweder sehr ignorant, oder außerordentlich gelassen: Ich habe bisher nie den Eindruck gehabt, angestarrt zu werden.
Es ist mir auch nicht peinlich, so ungeschickt zu sein – oder jedenfalls nur selten: die Momente, in denen mir das Essen von der Gabel fällt, kann ich überhaupt nicht leiden. Ich glaube, die meiste Zeit fehlt es auch für Schamgefühle an den nötigen Ressourcen – dafür bin ich in diesen Momenten schlicht zu beschäftigt. Allerdings scheine ich auch nicht alles selbst mitzubekommen: Wie lange es dauert, zum Beispiel, bis ich mich, nachdem ich aufgestanden bin, um mich besser orientieren zu können, tatsächlich in Bewegung setze.
Aber es ist anstrengend, weil ich alles, was anderen Menschen ganz nebenbei gelingt, mit Bedacht tun muss.

Ich hätte nie gedacht, dass, obwohl keines meiner Symptome unerträglich ist, das schiere „krank sein“ einen Menschen so sehr beschäftigen, ja geradewegs absorbieren kann. Wie ermüdend das ist!
Und ich habe schnell die Lust verloren, darüber zu reden.

 

Was soll ich denn antworten, auf die Frage, wie es mir geht?
„Als ich aufgewacht bin, war mein linker Arm so taub, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Hand zu bewegen. Hab ich mal erwähnt, dass sie bei der Küchenarbeit häufig verkrampft, so dass die Finger stocksteif in alle Richtungen zeigen? Die muss ich dann mit der anderen Hand wieder zurechtbiegen und wenn es ganz arg ist, setze ich mich drauf – dann ist Ruhe. Aber mit der Arbeit komme ich so natürlich nicht voran. Heute hab ich Hilfe gebraucht, um mich im Bett aufzusetzen, aber immerhin bin ich überhaupt vor Mittag in die Gänge gekommen. Apropos Gänge: Das Gehen fällt ein bisschen schwer heute. Aber die Schmerzen sind ganz gut auszuhalten. Manchmal allerdings durchfahren mich Stiche, die so wehtun, dass ich laut aufschreie. Ich weiß nie, wann das passiert, deswegen hab ich immer ein bisschen Angst. Und ich hoffe sehr, dass mir das nicht irgendwann im Yoga-Kurs passiert. Aber dorthin zu fahren schaffe ich es eh nicht oft – wenn das linke Bein richtig zickt, weiß ich ja nicht, ob ich die Kupplung getreten kriege und meinen Armen traue ich auch nicht so recht. Aber sonst geht’s eigentlich.“

Wer um alles in der Welt soll sich das anhören? Und selbst wenn es solche wohlmeinenden Menschen gibt: Variationen dieses Textes wären an jedem verdammten Tag meines Lebens die Antwort. Schlimm genug, dass ich mich damit beschäftigen muss – ich will das nicht auch noch in Worte fassen.

Darüber zu schreiben will auch keine rechte Freude machen und das nicht nur, weil ich es selbst schon lange nicht mehr hören kann. Ich kann mich auch nicht mehr schreiben hören: Bisher sind die meisten meiner Texte entstanden, während ich eigentlich etwas anderes getan habe – spazieren gehen oder Auto fahren zum Beispiel. Anschließend musste ich sie nur noch abtippen.
Aber abgesehen davon, dass ich zu beidem nur noch selten in der Verfassung bin, scheinen die Worte in der anschließenden Erschöpfung zu verfliegen. Sie verschwinden meist lange bevor sie den Weg über die Tastatur finden.

Und sie stolpern in erschreckendem Ausmaß.
Es ist nicht bei Buchstabendrehern oder gänzlich verwirbelten Kombinationen geblieben, sondern ich habe begonnen, Wörter völlig willkürlich durch andere zu ersetzen. Wörter mit drei Buchstaben zum Beispiel finden ganz und gar beliebig Verwendung. Zuweilen wirkt es, als hätte ich eine eingebaute Spracherkennung mit Gehörschaden – ich schreibe mehr, wenn ich Meer schreiben will, oder nähen statt Mähne, wobei die Groß- und Kleinschreibung witzigerweise stets korrekt ist. Beim Buchstabieren der Worte selbst allerdings hapert es, das mache ich plötzlich so, wie man es spricht: neulich zu meinem Entsetzen unfähr statt unfair.
Für einen Rechtschreib-Freak wie mich, der Postings in Social Media gewohnheitsmäßig Korrektur liest, bevor die Enter-Taste gedrückt wird, ist das die Hölle auf Erden.
Es ist mir peinlich und es macht mir Angst.
Bis jetzt bemerke ich die meisten Fehler schon beim Schreiben und bei den wenigen, die ich tatsächlich übersehe, weiß außer mir ja niemand, dass es nicht die Autokorrektur ist, die da blühenden Unfug produziert, sondern mein Gehirn.
Was aber, wenn mir das nicht mehr gelingt?

Ich hätte mir, wird mir allmählich klar, sehr darin gefallen, darüber zu schreiben, wie ich mit einer chronischen Erkrankung zurechtkomme. Aber ich muss feststellen, ich komme nicht zurecht. Jedenfalls nicht so, dass ich etwas Kluges, Durchdachtes, oder gar Wegweisendes zu diesem Thema zu sagen hätte. Wenn es eine Diagnose gäbe, stelle ich mir vor, wüsste ich, womit ich es zu tun habe und könnte (hoffentlich) irgendwie damit umgehen. Stattdessen trage ich ein Wischiwaschi von Fachärztin zu Facharzt und hoffe jedes Mal auf’s Neue, dass es diesmal nicht mit einem Schulterzucken endet.
Die derzeitige Hoffnung klammert sich an die Abteilung für seltene Erkrankungen einer Universitätsklinik. Und sie wird eine Weile durchhalten müssen, die Hoffnung: Der Termin ist erst im Herbst.

Der Rat des Rabbis

Ein Mann kam zum Rabbi, um diesem sein Leid zu klagen:
„Es ist unerträglich Rabbi, meine Frau, die Kinder und ich leben in einem einzigen Raum und können uns darin kaum bewegen!“
„Hast du auch Tiere?“, fragte der Rabbi.
„Ja, ich besitze einen Ziegenbock.“
„Dann nimm ihn mit ins Haus! Und komm in einer Woche wieder.“

Nach einer Woche war der Mann vollkommen verzweifelt.
„Es ist grauenhaft, Rabbi! Der Bock stinkt fürchterlich!“
„Nun“, sprach der Rabbi, „stell den Bock wieder in den Stall und komm in einer Woche wieder.“.

Eine weitere Woche später spricht der Mann strahlend vor Freude beim Rabbi vor.
„Ich bin ein glücklicher Mann, Rabbi. Ich besitze ein Haus, so dass all meine Lieben ein Dach über dem Kopf haben. Und es riecht so gut darin!“

IMG_15213-sw-web

Letztendlich entschließe ich mich, das Antidepressivum zu nehmen.
Nicht etwa, weil ich depressiv wäre – im Gegenteil: Für meinen elenden körperlichen Zustand bin ich erstaunlich guter Dinge. Aber es ist zur Zeit die letzte Option, die ich noch nicht probiert habe und es besteht die Hoffnung, dass es die Schmerzen lindert.
Die Ausschlussdiagnosen sind bis auf weiteres abgeschlossen: Augenscheinlich erfreue ich mich bester Gesundheit.

Gegen Depressionen wird das Mittel nicht mehr verschrieben, da es solche mit weniger Nebenwirkungen gibt und tatsächlich ist der Beipackzettel von beeindruckender Länge. Ich beschließe, ihn nicht zu lesen: Ich muss nicht alles wissen.

Nicht alles, was ich nun erlebe, ist unangenehm.
Eines Abends höre ich Musik – ganz leise, wie aus großer Entfernung. Wenn im Dorf ein Fest stattfindet, kommt das hin und wieder vor. Allerdings wundert mich, dass es Blasmusik ist. Und es ist auch ein ganz normaler Wochentag …
Die Musik ist nur in meinem Kopf. Ein hübsches kleines Stück, das ich nun häufiger, aber nicht andauernd hören kann.
Es könnte schlimmer kommen, denke ich. Marschmusik zum Beispiel. Oder Trash Metal …

Ich habe kaum noch Schmerzen und kann unmittelbar nach dem Aufstehen aufrecht gehen. Aber so recht genießen kann ich das nicht: Ich stehe nur für ein paar wenige Stunden am Tag überhaupt auf. Mit Müh und Not gelingt es mir, mit dem Hund kurze Spaziergänge zu machen und mich um das Abendessen zu kümmern. Damit ist mein Tagewerk erledigt. Autofahren kann ich nicht mehr.

Ich beginne, die Tage im Kalender abzuhaken: Medikament einschleichen – Normaldosis nehmen – erhoffte Wirkung abwarten (bei Depressionen dauert es ca. 6 Wochen, bis die Wirkung spürbar ist, vielleicht ist es in meinem Fall ähnlich). Bei dem Antidepressivum, das ich früher genommen habe, sind die Nebenwirkungen mit der Zeit immer weniger geworden bis ich sie gar nicht mehr bemerkt habe – jetzt scheint es eher umgekehrt. Und sowie die minimale Frist verstrichen ist, passiert es: Ich vergesse, meine Tabletten zu nehmen. Mangels Schilddrüse und mit Bluthochdruck ist das eigentlich eine zuverlässige morgendliche Routine: Mit der ersten Tasse Tee werden die Tabletten runtergespült. Das scheint mir eine mehr als deutliche Nachricht zu sein: Ich schleich das Zeug wieder aus!

Mit den Schmerzen kommt auch mein Appetit wieder, die Lust, zu schreiben, ein ganz und gar unbegründeter Schub guter Laune und ein wunderbares Gefühl der Klarheit im Kopf. Der Bocksgestank verfliegt.

Montagsmodell V: Immerhin

Der Tag – jeder Tag! – beginnt mit einem Systemcheck:
Was tut alles weh? Wie sehr? Was ist lediglich taub? Vibrationen? Zittern? Kribbeln? Druck?
Kann ich Arme und Beine bewegen? Gelingt es mir, mich von einer Seite auf die andere zu drehen? Wie lange dauert das?
Schaffe ich es, die Teetasse zum Mund zu führen? Ist die Tasse leer, bevor der Tee kalt ist?
Und die Kardinalfrage: Kann ich mich aufsetzen?
Wenn ich das schaffe, bin ich so gut wie aufgestanden!
An guten Tagen dauert das etwa eine Stunde. An schlechten bis zum Mittagessen.

Das ist, auch wenn es ähnlich klingen mag, anders als bei Depressionen. Ich kann dabei durchaus guter Dinge und voller Tatendrang sein. An guten schlechten Tagen, vermag so ein extrem mühsamer Start mir nicht die Laune zu verderben: Es ist halt, wie es ist. An schlechten schlechten Tagen bin ich verzweifelt.

Sei’s drum: Bisher hab ich es noch immer irgendwann geschafft, mich aus dem Bett zu erheben.
Was dann passiert, fühlt sich im ersten Moment gar nicht mal so unangenehm vertraut an. Ich kenne das von den Tagen nach einer Bergtour, bei der man sich ordentlich übernommen hat: Man steht nichts Böses ahnend auf, will den ersten Schritt machen und wird von einer Art Ganzkörper-Muskelkater in die Knie gezwungen. Jault auf, hinkt die ersten Meter und findet dann allmählich zum aufrechten Gang. Bei mir ist jeder Tag post-Bergtour. Deswegen entfällt auch das überraschte Aufjaulen. Und ich brauche ein paar mehr Meter, bis ich halbwegs normal gehen kann – bis dahin sehe ich aus wie eine Mischung aus dem Glöckner von Notre Dame und Laufente Lisbeth.
Das Entenwatscheln begleitet mich zuweilen durch den ganzen Tag: Es gibt mir ein Gefühl von Stabilität, wenn meine Beine unter mir eiern und wackeln. Auf Treppen lehne ich mich gern zur Wand hin: Cevenole Treppen haben keine Geländer …
Immer häufiger erwische ich mich dabei, wie ich eine solche Treppe erst einmal in Augenschein nehme und mich sammle, bevor ich mich an den Auf-/Abstieg mache: Da ich hin und wieder einfach mal das Gleichgewicht verliere und zur Seite kippe, will eine solche Unternehmung gut überlegt sein.

Wobei das mit dem „gut überlegen“ so eine Sache ist: Ich habe enorme Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren und mir Dinge zu merken. Internet-Recherchen zum Beispiel sind ja eigentlich eine höchst komfortable Sache, werden aber ungeheuer mühselig, wenn man innerhalb weniger Minuten vergisst, was man soeben herausgefunden hatte. Ich gehe zum Vorratsraum und habe, dort angekommen, vergessen, was ich da eigentlich wollte. Soweit ist das normal, das passiert jedem! Aber nicht jeder vergisst auf dem Weg, was er überhaupt kochen wollte … Ich bemühe mich, mir hierüber keine zu großen Sorgen zu machen: Immerhin weiß ich noch, dass ich die bin, die hier kocht.
Das hab ich mir aus einer Dokumentation über Demenz gemerkt: „Es ist nicht schlimm, wenn Sie das Essen auf dem Herd vergessen. Wenn Sie vergessen, dass Sie es waren, die das Essen aufgesetzt hat, dann ist es schlimm!“.

IMG_14997-webAllerdings kostet all das eine Menge Zeit: dieses ganze in die Gänge kommen, watscheln, sich sammeln, überlegen … ganz egal, wie emsig ich beschäftigt bin, es kommt äußerst wenig dabei heraus.

Auch das Sprechen fällt merklich schwerer. Manchmal liegt das nur daran, dass eine Gesichtshälfte taub wird und die Lippen sich nicht mehr richtig bewegen lassen. Aber oft fehlen mir einfach einzelne Worte. Und es ist schwierig, einen Satz zu beenden, wenn man mittendrin vergisst, wie er eigentlich begonnen hat. Den größten Unterhaltungswert hat es noch, wenn ich Buchstaben vertausche, obwohl ich einräumen muss, dass mir ein Knaller wie „gefickt eingeschädelt“ bisher nicht geglückt ist.

Noch einmal: Mir ist klar, dass so etwas jedem mal passiert. Aber doch nicht alles davon und ständig!
Ich versuche auch hier, gelassen zu bleiben: Langsam und konzentriert sprechen, Wörter gegebenenfalls wiederholen, Fehlendes umschreiben.

Was mich wirklich frustriert, ist, dass hiervon auch das Schreiben in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich schreibe seit meiner Kindheit, aus Leidenschaft und aus Notwendigkeit. Um mich der und mir die Welt zu erklären. Wenn mich etwas drängt, dann haue ich in einer halben Nacht drei, vier DIN-A-4 Seiten raus, die keiner nennenswerten Überarbeitung mehr bedürfen. Nun liege ich bei 3 bis 4 Sätzen am Abend und davon quäle ich mir jeden einzelnen ab. Einen hohen Prozentsatz an „Drehern“ produziere ich auch hier: Es sind zwar alle zum Wort gehörigen Buchstaben da, aber ihre Reihenfolge ist komplett durcheinandergewirbelt. Wörter mit drei Buchstaben tausche ich mitunter völlig sinnfrei gegeneinander aus. Immerhin bemerke ich meine Fehler noch.
Schreiben ist, neben Kochen, eines meiner größten Talente. Es ist mir wichtig! Kochen geht noch ganz gut …

Ob das alles von der Borreliose kommt?
Man. weiß. es. nicht.
Es gibt einen ganzen Rattenschwanz von Erkrankungen, die die selben Symptome hervorrufen können und deswegen ausgeschlossen werden müssen, damit man nicht womöglich in die falsche Richtung behandelt. Wobei die Meinungen, ob und wie man Borreliose – falls die nun tatsächlich die Ursache sein sollte – überhaupt behandeln kann, auseinander gehen. Weit. Aber bislang ist das noch nicht mein Problem.
Es ist Sinn und Zweck einer Ausschlussdiagnose, dass der Großteil der Untersuchungen ohne Befund ist. Deswegen macht man das ja! Aber es ist auch außerordentlich frustrierend. Als ich kommen sehe, dass gleich der dritte Facharzt sagen wird, aus seiner Sicht sei alles in Ordnung, steigen mir die Tränen in die Augen. Ich habe Schwierigkeiten, nicht vom Stuhl zu fallen, aber sonst ist alles in Ordnung!
Alle um mich herum scheinen eine Menge Zeit zu haben: Dann warten wir mal auf die nächste Untersuchung, den nächsten Bluttest, das nächste bildgebende Verfahren. Und dann auf den nächsten Termin, um die neuen Erkenntnisse (oder deren Fehlen) zu besprechen. Währenddessen vergeht im Entengang mein Leben. Ich fühle mich nicht ernst genommen.
Niemand behauptet, ich sei nicht krank, das nicht. Und nee, ich lieg nicht im Sterben. Aber das ist mein Leben, das da an mir vorüberzieht und ich kann nicht mitmachen. Außer mir scheint das niemand für ein Problem zu halten. Ich fühle mich allein.
Immerhin weiß ich jetzt, dass eines meiner Gelenke eine Anomalie aufweist. Der dicke Zeh am linken Fuß, um genau zu sein …
Das hätte ich sonst womöglich nie erfahren!

Es ist nicht so, dass die ÄrztInnen mir nicht helfen wollen. Im Gegenteil: alle bemühen sich, etwas vorzuschlagen, was man mal probieren könnte. Ein anderes Schmerzmittel zum Beispiel – macht Sinn: das bisherige sollte man keinesfalls über längere Zeit einnehmen. Bei dem neuen gibt es das Medikament gegen die Nebenwirkungen gleich dazu. Mein Magen meldet zurück, Schlaganfall- und Infarktrisiken seien ihm völlig wumpe, er jedenfalls könne – Säureblocker hin oder her – das nicht ab!
Ich beschließe, dass es fortan ohne Schmerzmittel gehen muss.
Stattdessen könnte ich, so ein weiterer Vorschlag, ein Antidepressivum nehmen, das mittlerweile nur noch DiabetikerInnen verschrieben wird, weil es diesen gegen Neuropathien hilft. Gegen Depressionen gibt es Mittel mit deutlich weniger Nebenwirkungen. Prima Idee! Und falls es doch nicht gegen die Schmerzen helfen sollte, werde ich diesen Umstand zumindest seeeehr gelassen sehen! Notiz an mich selber: Nicht aufregen! Die können nicht wissen, dass ich mein Leben komplett umgekrempelt habe, um ohne Psychopharmaka zurechtzukommen. Trotzdem werde ich das doofe Gefühl nicht los, alle denken „nimm das doch einfach, das bist du doch gewohnt!“ …
Physiotherapie schlägt auch jemand vor. Und dass ich Yoga mache, sei gut. Immerhin.
(„Immerhin“ hat gute Chancen, zu meinem persönlichen Wort des Jahres zu werden …)

Nicht wenig meiner Zeit geht für Recherchen drauf. … Das Problem mit dem Gedächtnis hatte ich erwähnt?
Ich möchte wissen, was das für eine Krankheit sein soll, die als nächstes ausgeschlossen werden muss. Mit welchen Untersuchungen ich zu rechnen habe. Und ich habe schnell begriffen, dass es – wenn mehrere ÄrztInnen Medikamente verschreiben – an mir ist, zu überprüfen, ob es überhaupt angeraten ist, die alle in dieser Kombination einzunehmen. Außerdem habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass von der Schulmedizin nur wenig Hilfe zu erwarten ist und schaue deswegen, was ich selbst für mich tun kann.
Hier ist – allein was Borreliose betrifft – die Anzahl der Heilversprechungen Legion! Es gibt ichzich, Behandlungen, Diäten und Präparate, die mich wieder gesund machen können! Man wundert sich, dass überhaupt noch Menschen zum Arzt gehen … Ich mache mich also auf die Suche nach Informationen darüber, um was es sich bei dem jeweils angepriesenen Mittel überhaupt handelt, wer behauptet, dass es wirksam ist, wie genau es wirken soll und – last not least – ob die Wirksamkeit in irgendeiner Art und Weise nachgewiesen werden kann. Wobei mir klar ist, dass die Nachweisbarkeit so eine Sache ist: Wenn es nicht eine Studie bezüglich der Wirkung eines Präparates gibt, kann das daran liegen, dass eine solche Studie bisher nicht erstellt wurde (seriöse Studien sind ja auch aufwendig und teuer!), aber es ist natürlich ebenfalls möglich, dass es da schlicht keine Wirkung nachzuweisen gibt.
„Ich habe mich selbst erfolgreich mit ………. (alles von Aprikosenkern bis Zistrose) von ………. (beliebige Erkrankung) geheilt!“ ist spätestens seit der Entdeckung des Placebo-Effektes kein schlagendes Argument mehr, und auch Berichte von Quellen, die das entsprechende Mittel wie zufällig gleich selbst vertreiben, vermögen nicht wirklich zu überzeugen. Die Methode „wurde mir im Traum offenbart!“ oder aber „von Gott eingegeben!“ und dergleichen, sind ebenfalls Anpreisungen, die ich zu bezweifeln geneigt bin. Außerdem beäuge ich solche Heiler, die an der Krankheit, die sie zu besiegen versprachen, unterdessen selbst verstorben sind, mit einem gewissen Misstrauen.
Um solche Mittel, bei denen tatsächlich eine Wirkung nachzuweisen ist, entsteht schnell ein Hype, der dazu führt, dass ihnen weitere Eigenschaften zugeschrieben werden, die vermutlich nur noch durch das „Prinzip Hoffnung“ zu erklären sind.
Man kann auch einfach mal was ausprobieren und gucken, wie es einem damit geht, keine Frage! Aber selbst dann muss man ja entscheiden, mit welcher der zahllosen Möglichkeiten man beginnen möchte. Und ich merke schnell, wie schwierig es ist, zweifelsfrei festzustellen, was hilft, und was eher nicht. Gelenkschmerzen kommen und gehen zum Beispiel auch mit kaltem Wetter, Regenwetter kann auf’s Gemüt schlagen und so bewirken, dass Schmerzen stärker empfunden werden. Und natürlich möchte ich auch jedes Mal wieder feststellen, dass ich mich jetzt endlich besser fühle!

Es wäre auch nicht förderlich, denke ich, wenn ich die Hoffnung aufgäbe, dass die nächste Untersuchung zu Erkenntnissen führen, die nächste Behandlung helfen möge.
Im Großen und Ganzen sehe ich mich als Optimistin, die sich bemüht, den Dingen einen positiven Aspekt abzugewinnen (ich werd nie kapieren, warum ausgerechnet ich Depressionen habe!) – und sei es nur Galgenhumor. Ich fand immer, wenn ich über meine Lage mal keine flachen Witze mehr zu reißen in der Lage bin, brauch ich nen guten Freund, der mich erschießt.
Mir ist sehr daran gelegen, nicht jammerig zu klingen. Womöglich, damit mich nicht jemand aus Versehen erschießt. Und die gute Nachricht ist ja tatsächlich, dass ich – soweit man bis heute sagen kann – nichts Lebensbedrohliches habe. Und was nicht unmittelbar zum Tode führt, härtet ab, oder?
Aber wenn ich mir vorstelle, dass mein Leben einfach so weitergeht, wie es jetzt ist, dann scheint mir das eine sehr lange Zeit für einen ziemlich elenden Zustand zu sein. Dann werde ich sehr klein und jämmerlich. Und die Witze gehen mir aus.

Montagsmodell IV: Nix Neues. Oder?

„Warum schreibst du darüber, als wäre es etwas ganz Neues für dich? Du bist doch schon seit Jahren chronisch krank …“
Hätte ich meinen Text zu Papier gebracht, wäre das jetzt der Moment, mit einer Hand die Blätter zusammenzuknüllen … Stimmt! Warum eigentlich?
Seit fast 20 Jahren lebe ich mit einer rezidivierenden (sprich: chronischen) Depression, da sollte man annehmen, ich sei (sofern das überhaupt möglich ist) daran gewöhnt. Und tatsächlich habe ich im ersten Moment selber gedacht, das, was ich jetzt erlebe, sei einfach eine Variante dessen, was ich bereits kenne und ich könne es problemlos in die Ablage „chronische Erkrankungen – Komma – akzeptierte“ verräumen. „Kenn‘ ich!“, hab ich gedacht und damit nichts anderes getan, als all die Menschen, die hin und wieder traurig und niedergeschlagen sind und deswegen glauben, sich gut vorstellen zu können, wie es ist, an Depressionen zu leiden.
Meine Vorstellung vom Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers war dann auch ungefähr so realistisch, als würde ich über das Sterben nachdenken und dabei Winnetou, Mr. Spock und Dr. Schiwago vor Augen haben.
Zum Beispiel hatte ich ganz selbstverständlich angenommen, dass am Anfang eine Diagnose steht (und mich selbst mit der Feststellung, dass ich mich irgendwann einmal mit Borreliose infiziert habe, fälschlicherweise bereits am Ziel gewähnt). Dass es Menschen gibt, die eine ganze Odyssee hinter sich bringen müssen, bis es soweit ist, hatte ich zwar schon gehört, aber das war etwas, das anderen passiert. Für mich selbst habe ich das nie in Betracht gezogen. Diagnose also und dann Behandlung.
An der Stelle muss ich einräumen, dass ich, was meine psychische Erkrankung betraf, zu den Glückskindern gezählt habe, denen man mit einem milden Antidepressivum wieder auf die Beine helfen konnte. Und ich hatte eine Therapeutin, die mir über Jahre hinweg geholfen hat, mit meiner Erkrankung, wenn sie schon nicht zu überwinden war, doch wenigstens zurechtzukommen.
Eigentlich hätte ich jetzt sehr gerne meine Therapeutin zurück, damit sie mir hilft, damit klarzukommen, dass es bislang keine abschließende Diagnose gibt. Und deswegen auch nur „Versuche“, was die Behandlung betrifft.
Gleich darauf schäme ich mich, weil es ja Menschen gibt, bei denen jahrelang niemand weiß, was sie leiden macht. Und ich heul schon nach ein paar Monaten rum …

IMG_14069-webDarüber, dass Depressionen wenigstens nicht weh tun, hab ich ja schon mehr als einmal herumgeblödelt – jetzt stelle ich fest, wie zermürbend anhaltende Schmerzen wirken, auch wenn sie gar nicht einmal besonders heftig sind. Ich finde keinen Weg, für mich zu sorgen.
In ganz schlimmen depressiven Phasen, habe ich mit Müh und Not den Weg vom Bett bis zum Sofa geschafft. Da lag ich dann und habe ferngesehen. Ich wusste sehr genau, wann auf welchem Sender welche Zoosendung läuft, Lücken ließen sich zur Not mit „Unsere kleine Farm“ überbrücken, dann gab es Vorabendserien und in der Nacht Pathologenkrimis. Die halbe Zeit habe ich sowieso gedöst, oder bin in einem „Zeitloch“ versunken: Man sitzt oder liegt einfach da, denkt und tut nichts und plötzlich ist der Tag vorbei. Depression ist dumpf. Man kann zwar nichts tun, leidet darunter aber nicht allzu sehr, weil man sowieso nichts tun will. Es fällt einem gar nicht erst etwas ein, was man wollen könnte.
Gegen Ängste lassen sich Strategien finden: Vor dem Kino warten zum Beispiel, während jemand anders die Karten besorgt. Sich einen Platz gleich am Gang freihalten lassen, damit man wieder nach draußen kann, falls man es doch nicht aushält. Und dann reingehen, wenn das Gedränge vorbei ist. Und wenn trotzdem alles zuviel ist, lässt man es halt! Das ist dann doof. Enttäuschend. Frustrierend. Aber die Angst ist weg.
Jetzt hilft kein Rückzug, kein Vermeiden. Wenn ich mich im Bett verkrieche und mir die Decke über den Kopf ziehe, tut es trotzdem weh. Der Tag vergeht in normaler Geschwindigkeit. Und ich will ja was! Ich hab Ideen, was ich tun möchte und dann kann ich nicht.

Was sehr vertraut ist, die Lage aber keineswegs verbessert, ist die Angst, nicht ernst genommen zu werden. Mich selbst doch wieder zu fragen, ob es wohl sein könne, dass ich mich anstelle.

Neulich hab ich es tatsächlich noch einmal getan. Als ich zum Yoga wollte, von dem ich ja weiß, dass es zu den wenigen Dingen gehört, die helfen, und feststellen musste, dass ich den Weg vom Haus zum Auto nicht schaffe. Erst hab ich vor Verzweiflung Rotz und Wasser geheult, dann bin ich auf die Suche nach Trost gegangen. Es gibt zwar keinen Fernseher mehr, vor dem ich liegen könnte, aber in der Mediathek findet man Zoosendungen …