Shaolin

Als ich ein Kind war, wurde am Samstagnachmittag, wenn nicht „Daktari“ oder „Tarzan“, „Kung Fu“ geguckt – und am Sonntag waren wir dann alle Caine, der tapfere Shaolin-Mönch …
Ich vermute, das Einhorn hat dann auch vor dem Fernseher gesessen – zu meinem Text vom Atmen und vom Weinen bemerkt es jedenfalls folgendes:
„Ich behaupte, das Problem liegt darin, daß wir das Kind immer nur innen lassen sollen. Als Kind hätte ich mir pragmatisch im Wald einen ordentlichen Knüppel gesucht und Shaolin-Mönchsmäßig auf irgendwelche Bäume eingeprügelt. Was ich tatsächlich getan habe als Kind. Das Kind mal nicht innen lassen. Wie immer es heißen mag.“
Ich habe nie auf Bäume eingeprügelt. Caine übrigens auch nicht. Der hat, wenn es gar nicht anders ging (aber es ging nie anders!), die Bösen verdroschen und dem Guten zum Sieg verholfen.
Aber ich verstehe den Gedanken: Es ist sicher besser, Wut, Enttäuschung, Frustration rauszulassen, als mit der Zeit daran zu ersticken. Und wenn dabei nur ein paar Stöcke zu Bruch gehen und Rindenstücke durch die Gegend fliegen, dann scheint mir das grundsätzlich kein schlechter Weg zu sein.
Ich selbst kann mich überhaupt nicht erinnern, als Kind Wutanfälle gehabt zu haben.
Sehr wohl aber daran, dass es meinen Eltern (vor allem meinem Vater, glaube ich) außerordentlich wichtig war, Konflikte ruhig und sachlich zu klären. Im Gespräch. Für kindliches Schreien, mit dem Fuß aufstampfen, oder eben mit Stöcken auf Bäume einprügeln war da vielleicht einfach kein Platz.
Und heute würde es nicht mehr reichen. Wenn mich heute eine Wut überrollt, die womöglich seit Kindertagen darauf gewartet hat, endlich auf etwas einschlagen zu dürfen, dann sind Stöcke und Bäume (sorry!) Kinderkram. Dann will etwas in mir will ich, dass Dinge kaputtgehen, dass es weh tut. Das ist sinnlos und destruktiv und soll (will) es auch sein!

Deswegen hilft zum Beispiel „Holz hacken“ überhaupt nicht (oder mit der Spitzhacke arbeiten): Die körperliche Anstregung tut gut und ja, es macht Spaß, etwas kurz und klein zu schlagen. Ich hacke ausgesprochen gerne Holz! Aber es ist einfach zu konstruktiv, kommt doch etwas Brauchbares, ja Notwendiges dabei heraus …
Und natürlich sollte man seine Finger von der Axt lassen, wenn man nicht gelassen und konzentriert mit ihr zu arbeiten in der Lage ist: Bei aller Zerstörungswut will ich das Ding nicht in meinem Schienbein stecken haben!

In der für mich beeindruckendsten Folge von „Kung Fu“ (jedenfalls ist es die einzige, an die ich mich tatsächlich erinnere) ging es übrigens nicht um Kampfkunst, sondern um den Umgang mit der eigenen Angst: Caine soll in seinem Kloster auf einem schmalen Balken über ein Becken balancieren, das mit Säure gefüllt ist. Auf dessen Boden sieht man die Skelette derer, denen dies mißlungen ist. An sich ist die Aufgabe nicht schwer: Es sind nur wenige Schritte und der Balken bietet genug Platz. Dennoch stürzt er prompt. Und stellt fest, dass es sich bei der vermeintlichen Säure um klares Wasser handelt und die Skelette lediglich Bilder sind, mit weißer Farbe auf schwarze Tücher gemalt, die sein Meister nun milde lächelnd aus dem Wasser zieht. Es war einzig und allein seine Angst, die ihn hat stürzen lassen; die Angst vor einer Gefahr, die lediglich in seiner Vorstellung existierte.
Möglicherweise war ich zu jung, um hieraus eine Erkenntnis zu destillieren, die mich durch mein weiteres Leben zu leiten vermocht hätte. Oder aber die Weisheit der Mönche läßt sich via Fernsehserie dann doch nicht so richtig einprägsam vermitteln. Vielleicht ist genau das aber auch typisch für Angsterkrankungen: Da können noch so viele Mönche bemalte Laken aus klarem Wasser ziehen – für mich bleibt das Säure und ich gerate immer wieder aus dem Gleichgewicht.

Alice Wunder greift den Gedanken des Einhorns auf und fragt
„Warum nicht den Shaolinweg gehen und bewußt die Auseinandersetzung suchen? Die friedvolle, entspannende Meditation scheint ja da an Grenzen zu stoßen, wo die überflutenden dunklen Gedanken als Störung und Fehler wahrgenommen werden. Also warum nicht direkt Kampfkunst, wo die vermutete Angstquelle, das böse, von Beginn an Teil des Systems ist. Da heißt es dann: Selbstverständlich ist die dunkle Gasse bedrohlich und du hast allen Grund mit verkrampften Schultern und krummem Rücken rumzulaufen. Aber wenn du übst, deine Muskeln zu entspannen, kann der gelockerte Körper allem, was da kommen mag, einfach schneller auf die Nase hauen. Und Entspanntheit ist Mittel, damit man die Gefahren besser wahrnimmt. Je nach Vorliebe reichen da die möglichkeiten von engumschlungenem Ringen bis zu freistehenden Schwertübungen ohne jeden Körperkontakt.“

two-on-a-phacelie-q-webEin „Selbstverteidigungskurs!“ hat, als ich noch eine junge Frau war, immer ganz weit oben auf meiner to-do-Liste gestanden – nur gemacht habe ich ihn nie. Dennoch habe ich gelernt, mich zu schützen. Mich nicht wie ein Opfer zu bewegen, zum Beispiel: Mich eben nicht gekrümmt an der Hauswand entlangzudrücken, sondern aufrecht mitten auf dem Bürgersteig zu schreiten. Wenn es mir wirklich unheimlich war, habe ich meinen Schlüsselbund in die Faust genommen, so dass zwischen zwei Fingern jeweils ein Schlüssel hervorstak. Ich kann mich an eine Situation erinnern, wo – bis ich mit dem Arrangieren meiner Schlüssel denn mal fertig war – der entgegenkommende Mann, der mich beunruhigt hatte, die Straßenseite gewechselt hatte …
Statistisch sind, sofern man nicht in einer ganz üblen Gegend unterwegs ist, die dunklen Gassen eh viel weniger gefährlich, als sie erscheinen mögen, dennoch ist die Angst, überfallen zu werden, eine rationale.
Das Nervige an Angsterkrankungen ist eher, dass die Ängste nicht nur irrational sind, sondern man das zu allem Überfluss auch noch weiß … es nützt nur nichts … Selbstverständlich habe ich keine Angst davor, dass ab einer Anzahl von x Menschen in einem geschlossenen Raum diese plötzlich über mich herfallen werden. Ich empfinde in solchen Momenten überhaupt keine Angst. Ich verspüre Paniksymptome und wenn sie zu heftig werden, muss ich raus. Schnell. Deswegen wäre das Bewußtsein, mich im Fall der Fälle wehren zu können, zumindest für mich auch keine Hilfe.
Eher kann ich mir vorstellen, dass das sehr bewusste und konzentrierte körperliche Agieren sich positiv auf die seelische Verfassung auswirkt. In diesem Punkt allerdings ist mir persönlich Yoga lieber, weil es ohne Gegner auskommt.
Aber vielleicht liest jemand mit, der das mal ausprobiert hat und davon berichten mag …?

Hin und wieder habe ich die Auseinandersetzung durchaus gesucht.
Als mir vor einigen Jahren eher zufällig ein Flugblatt in die Hände fiel, das Kletterkurse unter anderem mit dem Argument bewarb, diese würden gegen Höhenangst helfen, habe ich mich kurzerhand zu einem solchen Kurs angemeldet. Und hab schon Schnappatmung bekommen, als mir im Vorgespräch klarwurde, dass geplant war, eine 25 Meter hohe Wand zu erklettern – ich hatte mir so 5 Meter vorgestellt …
Des weiteren hatte ich nicht bedacht, dass es sich bei besagter Wand nicht etwa um glatten Indoor-Beton mit bunten Kunststoff-Nuppies handelte, sondern um einen veritablen Felsen im Westerwald. Für den Fall eines Sturzes ins Seil hab ich mein Kinn schon auf jedem einzelnen Felsklümpchen aufschlagen sehen, das da aus der Wand ragen mochte …
Gemacht hab ich’s trotzdem. Ich hab mich 25 Meter Felswand hochgerauft und bei der Gelegenheit gelernt, dass der Fachmann es „Nähmaschine“ nennt, wenn die Unterschenkel vor Überanstrengung zu zittern beginnen. Hab mir die Knie grün und blau geschlagen, weil ich sie benutzt habe, um mich voller Erleicherung auf die nächste Felsstufe zu rollen anstatt ordentlich zu klettern. Aber ich bin oben angekommen!
Für die Abseilübungen musste ich am Händchen zum Startpunkt geführt werden. Dort habe ich mich mit fest geschlossenen Augen an den Felsen geklammert bis ich eingesichert war. Jetzt nach hinten fallen lassen? Kein Problem: Alles, was mich wieder nach unten brachte, war okay für mich! Nachdem ich mich im ersten Anlauf noch am Seil festgehalten hatte (was a. nichts bringt, denn, wenn der Mensch der einen sichern soll, loslässt, fällt man mitsamt dem Seil, und mir b. den schlimmsten Muskelkater meines Lebens eingetragen hat), habe ich Vertrauen gefaßt und mich freihändig abseilen lassen. Anfangs „geht“ man dabei die Wand hinunter. Später, wenn man den Bogen raushat, stößt man sich davon ab wie die SEKs im Krimi, wenn sie ein Gebäude stürmen. Es war toll!
Der Knoten ist dennoch nicht geplatzt: Höhenangst hatte ich hinterher immer noch.
Mit dem Leiter des Kurses bin ich später auf einen Viertausender gestiegen. Er meinte, ich könne das schaffen und ich hab mich so geehrt gefühlt, dass ich das Wagnis eingegangen bin. Als Teil einer Seilschaft, meinen Eispickel in der Faust, habe ich einen Gletscher überquert und bin über Gletscherspalten gesprungen. Ganz schmale nur, aber wenn man so davorsteht … All das trotz, nein, mit meiner Angst! Und ich glaube nicht, dass ich die einzige war, die auf dem Gipfel heulen musste – nicht vor Erleichterung, sondern schlicht überwältigt.
Damals war ich schon richtig krank (im Sinne von „monatelang krankgeschrieben“), das macht die Erinnerung, einen Berg „bezwungen“ zu haben, für mich zu etwas sehr Besonderem. Auf keinen Fall würde ich diese Tour missen wollen! Aber gesund gemacht hat sie mich nicht.

Bei besagter schwieriger Situation nun, die ich mittels Meditation zu bewältigen versucht habe, ging es nicht um Angst. Vermutlich auch nicht um Wut, sondern eher um Hilflosigkeit, Verletztheit. Um ein Gefühl, das ich vorher nicht einmal hätte benennen können.
Menschen mit einer sehr lebhaften Fantasie, habe ich einmal gelesen, die in der Lage seien, eine verhasste Person in ihrer Vorstellung zum Beispiel umzubringen, zu zerhacken und im Wald zu vergraben, würden im realen Leben nicht zu Gewalttaten neigen. Ich selber morde lieber indirekt: In Fällen echt mörderischer Laune gucke ich gerne Horrorfilme. „From dusk till dawn“ zum Beispiel habe ich zum ersten Mal nach einem echt üblen Tag im Büro gesehen – und bin anschließend sehr heiter und entspannt aus dem Kino gekommen. Wenn ich also wahlweise ein Dutzend Teenager geschlachtet, Aliens und Zombies losgelassen, oder aber die Hölle geöffnet habe, fühle ich mich gleich besser. Kurzfristig jedenfalls.

Ich las andererseits, dass die Energie der Aufmerksamkeit folgt. „Worauf Du Deine Aufmerksamkeit richtest, da geht auch Deine Energie hin!“
Sollte das zutreffen, tue ich mir keinen Gefallen, wenn ich in meiner Fantasie Hindernisse bewältige, Auseinandersetzungen für mich entscheide, Feinde in die Flucht schlage. Oder eben besonders mißliebige Zeitgenossen mit der Axt zu Wildschweinködern verarbeite. Weil ein und dieselben dunklen Gedanken ja immer wieder kommen. Schlag ihnen den Kopf ab und es wachsen zwei neue nach …

Das Achtsamkeitstraining, mit dem ich mich seit einigen Wochen beschäftige, beschreitet einen anderen Weg: Die dunklen, schmerzhaften Gedanken sind Gedanken wie alle anderen auch. Sie kommen und gehen. Sie gehen, sofern man sie nicht festhält. Vor allem aber sind sie Gedanken, keine Tatsachen.
Es geht, auch bei den schwierigen und schmerzhaften Gedanken / Erinnerungen / Situationen, nicht darum, diese zu bekämpfen, sondern mit ihnen zu leben. Mit dem normalen Jucken der Realität, wenn man so will.

Da ich erst kurze Zeit und vor allem fast* ohne Anleitung vor mich hin dilettiere, bin ich guter Dinge, dass bei meinen Meditationsversuchen das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist!
Das Ergebnis meiner Bemühungen ist zwar nicht immer so ganz das erhoffte, aber immerhin gibt es Ergebnisse! Und: Das Gefühl benennen zu können, anstatt einfach nur von ihm überrannt und gebeutelt zu werden, war für mich ein großer Durchbruch, das sieht die Schieferliebe ganz richtig. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es nicht jetzt entstanden ist (in diesem Fall würde es wohl eher helfen, auf Bäume einzuschlagen, oder – besser noch – mit der berühmten Faust auf den Tisch zu hauen), sondern schon lange darauf wartet, endlich beachtet zu werden.
Mag sein, dass da noch ein langer Weg vor mir liegt, bis ich mal so friedvoll und gelassen draufkomme, wie man sich das vom Meditieren erhofft …

Als eine liebe Freundin von mir mit ihrer Psychoanalyse begann (wenn ich mich recht erinnere mit drei Terminen pro Woche, immer vor der Arbeit), hab ich sie gefragt, ob da nicht ein bißchen sehr viel Zeit bei draufginge. „Ich war 20 Jahre lang depressiv“, hat sie mir geantwortet „da habe ich Zeit verloren!“.

* MBCT (Mindfulness-Based-Cognitive-Therapy) ist eine Form des Achtsamkeitstrainings, die speziell auf Menschen zugeschnitten ist, die unter Ängsten und Depressionen leiden. Da ich nicht die Möglichkeit habe, an dem dazugehörigen 8-wöchigen Trainingsprogramm teilzunehmen, habe ich mir das entsprechende Buch sowie die CD besorgt.

Vom Atmen und vom Weinen

Eine Weile schleiche ich schon um sie herum … die angeleitete Meditation zum Umgang mit schwierigen Gedanken oder Situationen. Die hat sich quasi eingeschlichen … verborgen auf der CD, die mir lediglich helfen sollte, den Bodyscan richtig zu praktizieren …
Genau das, was ich brauche, eigentlich. Vielleicht traue ich mich deswegen nicht heran …

Einen altbekannten, schmerzhaften Gedanken zum Üben hernehmen?
Nicht doch! Ich werd doch keine schlafenden Hunde wecken!
Da warte ich lieber, bis sich eine schwierige Situation von selbst ergibt und meditiere dann ganz authentisch!

Wen soll ich jetzt zuerst zitieren? Meine Therapeutin, oder gleich mich selbst als Hundetrainerin?
„Wir trainieren immer vom Einfachen zum Schwierigen! Deswegen beginnen wir auch nicht in solchen Situationen, in denen der Hund die Fassung verliert, sondern in den vielen anderen, in denen er eine Chance hat, alles richtig zu machen!“.
Notiz an mich selber: Diesbezügliche Gespräche mit der kleinen Inderin noch einmal rekapitulieren und sich endlich daran halten!

Gleichwohl: Ich bin jetzt verärgert und verletzt! Gucken wir also, was die CD so kann …

Gewahr zu werden, dass ich jetzt hier sitze, mich also ins Hier und Jetzt zu bringen, fühlt sich so oder so hilfreich an. Und das Bemühen, auf meinen Atem zu achten, bremst das Rasen meiner Gedanken. Es lässt mich allerdings auch umso deutlicher spüren, dass ich Schwierigkeiten habe, Luft zu bekommen.
Nun soll ich mir den schwierigen Gedanken / die unangenehme Situation vergegenwärtigen. Kein Problem: Ich stecke mittendrin!
Nein … anders … ich stecke in meinem Körper. Der sitzt und atmet und zumindest ersteres funktioniert ohne größere Beanstandungen. Was ich mir zu vergegenwärtigen versuche, passiert nur in meinen Gedanken.
Nur noch elfundneunzig Stunden der Übung, Meditation und Kontemplation und ich hab das völlig klar!

Für’s Erste vergegenwärtige ich mit äußerster Vorsicht und soll nun erspüren, wo in meinem Körper ich die Schwierigkeit fühlen kann.
Faszinierende Sache das: Bilder wie „im Nacken sitzen“, „auf dem Magen liegen“, „Bauchschmerzen machen“ etc. sind uns sowas von vertraut und natürlich kenne ich meine Stellen. Aber ich bin nie auf die Idee gekommen, mein Augenmerk darauf zu richten – ich habe mich im Gegenteil stets bemüht, solche Symptome zu ignorieren.

Im konkreten Fall ist die Frage schnell beantwortet: Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Auf meinem Brustkorb scheint ein Stein zu liegen. Ich kann nicht sprechen. Ich kann einatmen, aber die Luft geht nicht wieder raus!
An diesem Punkt läßt meine liebe Meditations-CD mich hilflos zurück: Ich soll in jenen Ort meines Körpers hineinatmen, an dem ich die Schwierigkeit spüren kann. Und wieder hinaus.
Was man tun kann, wenn die Schwierigkeit sich genau an dem einen Ort manifestiert, in den (mit dem!) man nicht nur bildlich, sondern tatsächlich atmen kann und muss, verrät sie mir nicht.

Ich entscheide mich für den pragmatischen Ansatz und konzentriere mich darauf, überhaupt zu atmen. Dabei fällt mir auf, dass der obere Brustkorb auch beim Bodyscan eine Region ist, die ich nicht erreichen kann. Andere Körperteile „melden“ Druck, Ziehen, Kribbeln … hier fühle ich immer nur eine Art „Platte“.
Sowie das Atmen in Schluchzen übergehen will, halte ich die Luft an.
Das war auch während meiner Therapie schon ein Thema, erinnere ich mich. Seitdem achte ich darauf, in Gesprächen die Schultern zu entspannen und möglichst gleichmäßig zu atmen. Wie vehement ich immer noch den Atem anhalte, wenn ich eigentlich weinen möchte, war mir nicht bewußt.
„Solange Sie atmen, ist mit Ihnen mehr richtig als falsch!“, habe ich gelesen.
Ich halte alles an, wenn die Verzweiflung zu groß wird …

img_12930-q-webWenn ich die Luft nicht anhalte, schreie ich. Da bricht sich kein erlösendes Weinen Bahn: Ich schreie. Sacke in mich zusammen, stürze zu Boden. Und schreie.
Und ja: Es hilft. Ich beruhige mich sehr viel schneller. Vielleicht, weil ich jegliche Energie verpulvert habe. Vielleicht aber auch, weil ich nicht mehr all meine Kraft in Kontrolle investiere, sondern beginne, den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Falls jetzt jemand das Bedürfnis verspüren sollte, zu sagen, das sei gut so, ich möge mal los- und meine Gefühle rauslassen: Darüber sprechen wir nochmal, nachdem DU Dich aus augenscheinlich geringfügigem Grund auf den Boden geschmissen und wie blöd losgeschrien hast, ja?
Mag sein, dass da eine Menge Wut und Verzweiflung darauf warten (gewartet haben) sich endlich einmal Bahn zu brechen, aber wir reden hier nicht von einem heilsamen Ausbruch innerhalb eines therapeutischen Prozesses, sondern von meinem Alltag. Von an sich nichtigen Ärgernissen oder Auseinandersetzungen, die mir komplett den Boden unter den Füßen wegziehen, weil mir plötzlich alles eins zu sein scheint: Es gibt keine alten Wunden und neuen Kratzer – es gibt nur eine einzige tiefe Verletzung.

Die Unangemessenheit meiner Reaktion beschämt mich.
Ich muss dabei an Szenen wie jene denken, in der sich Hinterbliebene in das offene Grab des verstorbenen Menschen zu stürzen versuchen. Da sind sicher große Gefühle im Spiel. Und dennoch wendet man sich peinlich berührt ab …

Ich nehme mir trotzdem vor, zukünftig die Luft nicht mehr anzuhalten.

Inzwischen habe ich mich einigermaßen beruhigt, atme und frage mich, ob es die sowieso geringe Tiefe meiner Meditation wohl arg beeinträchtigt, wenn ich mir zwischendrin die Nase schnäuze.

Nun soll ich das schwierige Gefühl benennen.
Ich bin wütend. Verletzt. Nein, eigentlich fühle ich mich ungerecht behandelt. Es ist ungerecht. Ich möchte wie ein Kind mit dem Fuß auf den Boden stampfen, so ungerecht ist das!
„Das Kind muß schließlich einen Namen haben!“ … „Was ist mit Ihrem inneren Kind?“
Ich hab Fragen nach meinem inneren Kind immer eher quälend gefunden, konnte nicht viel damit anfangen.
Aber vielleicht hat es sich hier ganz unverhofft einmal zu Wort gemeldet: „Das ist einfach ungerecht!“ …
Ruhe kehrt ein.

Ich lasse mir die Worte auf der Zunge zergehen. Ja, das paßt. „Ungerecht“ paßt. Das macht mich sprachlos, nimmt mir den Atem.
Ich richte meine Aufmerksamkeit zurück auf meinen ganzen Körper und beende die Meditation.

Ob das jetzt so im Sinne des Erfinders war? Ich habe keine Ahnung …
Wohl aber eine Idee, wo das hinführen könnte.

To be continued …

3 Jahre ohne

Es ist jetzt gut drei Jahre her, dass ich mir die Frage gestellt habe, ob es nicht vielleicht doch möglich sein müsse, ein Leben ohne Psychopharmaka zu führen.
Bis zu diesem Moment hatte ich etliche Jahre lang ununterbrochen Antidepressiva genommen.
Zu Beginn meiner „Depri-Karriere“ hab ich sie noch abgesetzt, sobald ich Grund zu der Hoffnung hatte, es werde mir nun dauerhaft besser gehen. Aber jedes Mal, wenn diese Hoffnung wieder trog, hat es auch wieder 6 Wochen gedauert, bis das Medikament Wirkung zeigte. Und jedes Mal wieder habe ich mich mit den anfänglichen Nebenwirkungen herumgeschlagen: Die Mundtrockenheit ist leicht zu handeln, man geht einfach nie wieder ohne eine Flasche Wasser aus dem Haus und tröstet sich damit, dass es ja wichtig ist, viel zu trinken. Das unkontrollierte Muskelzucken kann man mit einem Scherz überspielen und es stört eigentlich kaum, wenn man nicht gerade Auto fährt. Und am Straßenverkehr sollte man ja sowieso nicht teilnehmen, wenn einem ständig schwindelig ist. Die bleierne Müdigkeit nervt zwar, unterscheidet sich aber nicht allzu sehr von der depressiven Bleischwere …
img_20289-q-webNach drei, vier Versuchen fand ich es sehr viel komfortabler, auch in guten Phasen eine minimale Dosis meiner Medikamente zu nehmen. So konnte ich beim nächsten Tief schnell und ohne große Nebenwirkungen gegensteuern. Ich habe über die Zeit tatsächlich ein recht gutes Gefühl dafür entwickelt, wieviel ich brauchte, bin also nicht ständig unter maximaler Dröhnung unterwegs gewesen. Aber eben auch nicht ohne.

Bis ich – eher zufällig – einen Schritt aus meinem bisherigen Leben hinaus getan habe. Zufällig und nur für einen Besuch – aber plötzlich schien alles möglich.
Ich habe voller Zuversicht meine Medikamente abgesetzt, bin in mein altes Leben zurückgekehrt … und fürchterlich auf die Fresse gefallen. In diesem Leben ging es nicht, soviel war sehr schnell klar.
Gar nichts ging mehr. Zu meinen demütigendsten Erinnerungen aus dieser Zeit gehört eine Radfahrt zum Freibad: Ich hatte versäumt, frühzeitig zu sagen, dass ich keinesfalls die Hauptstraße entlang fahren könne (zu viel Verkehr, zu nah, zu laut), sondern den Umweg über die kleinen Seitenstraßen nehmen müsse. Bin durch mein verängstigtes Zögern zurückgefallen, wollte aber auch nicht allein eine andere Strecke nehmen und anschließend die anderen im Freibad suchen müssen. Also bin ich ihnen zitternd und weinend hinterhergestrampelt. Ich bin tatsächlich angekommen und ja, ich bin auch geschwommen. Aber stellt Euch eine erwachsene, eine alte Frau vor, die, Badelaken und -anzug auf dem Gepäckträger, tränenblind quer durch die Stadt radelt. Klingt das irgendwie erstrebenswert?

Da es vorkommt, dass es psychisch Kranken an Einsicht fehlt und ich nach all den Jahren großes Vertrauen zu meiner Psychiaterin hatte, habe ich sie vorsichtshalber gefragt, ob ich ihrer Ansicht nach denn überhaupt in der Lage sei, selbst über meinen Medikamentenkonsum zu entscheiden …
Man hört und liest immer wieder von ÄrztInnen, die leichtfertig, ja fahrlässig ihre PatientInnen mit Psychopharmaka abspeisen – die meine hat das Gegenteil getan.
Sie hat mich von meinen Zweifeln und Sorgen erzählen lassen und mich dann gefragt „Möchten Sie Antidepressiva nehmen?“ Um mir dann zurückzugeben, meine verbale Antwort, vor allem aber meine Körpersprache sei ein klares und eindeutiges „Nein!“. Ich dürfe mich ruhig trauen, auf meine innere Stimme zu hören. Offenbar hätte ich einen Weg für mich gefunden, dem dürfe ich dann auch folgen.
Für mich hieß das: Meine Finger von Psychopharmaka lassen und die Brocken hinschmeißen.

Und da bin ich nun. Mit hingeschmissenen Brocken, einem neuen Leben … und einer Vorratspackung Antidepris für alle Fälle.
Ich könnte, sollte es nötig werden …
Aber es sind gar nicht die Tiefs, nicht die bleiernen Tage, die mich in Versuchung führen.
Ganz allmählich habe ich ein bißchen Vertrauen darein entwickelt, dass sie lange vor eventuellen Nebenwirkungen oder gar Wirkungen enden werden.

In Versuchung gerate ich, wenn ich einen dieser Wutanfälle habe, bei denen ich mich mit aller Macht zusammenreißen muss, um nicht alles kurz und klein zu schlagen, oder mit dem Kopf vor die Wand zu rennen.
Oder einen dieser Zusammenbrüche, wenn ich mir wieder einmal sicher bin, dass ich selbst hier niemals klarkommen werde. Wenn ich weinend auf dem Boden zusammensacke und nach meiner Mutter schreien möchte. Wenn ich nur noch nach Hause will – wissend, dass es in Deutschland kein Zuhause mehr für mich gibt.
Dann möchte ich tot sein, bis es mir wieder besser geht. Oder wenigstens im Koma liegen.
Eine Tageshöchstdosis meines gewohnten Medikamentes, von jetzt auf gleich verabreicht, würde das vermutlich leisten.

Bisher ist die Packung jedoch unangetastet und wenn es nach mir geht, bleibt sie das auch.

Jetzt ist jetzt!

Es fällt mir generell schwer, negative Gefühle loszulassen: Hat mich etwas oder jemand verärgert, kann ich stunden-, ja tagelang darauf herumkauen und innere Dialoge führen. Und mir damit ganz wunderbar den Tag versauen.
Neulich, als es wieder einmal „soweit“ war, ist mir immerhin selber aufgefallen, daß es eigentlich ein sonniger Vormittag war und ich bis dahin ganz zufrieden in der Küche gesessen und Paprika geschnibbelt hatte. Für ein kulinarisches Experiment mal wieder, also etwas, das mir eigentlich Freude macht.
Daher habe ich beschlossen, mein Augenmerk einfach ganz konzentriert auf das zu richten, was bis dahin erfreulich gewesen war: Sonne, Küche, Paprika. Genauer: Sonne, in der man es draußen schon jetzt kaum noch aushält, eine erfreulich kühle Küche, ein Steinboden, der sich angenehm unter meinen nackten Füßen anfühlt, gartenfrischer, knackiger Paprika, der Duft von Knoblauch und Tomaten …
Und tatsächlich ist in meinem Kopf Ruhe eingekehrt. Es hat wieder Spaß gemacht.

Ich frage mich, ob es das ist, was mit Achtsamkeit gemeint ist und erinnere mich in diesem Moment daran, daß eine Bloggerkollegin mich schon vor Monaten gefragt hat, ob Achtsamkeitsübungen mir nicht vielleicht weiterhelfen könnten. Aber manchmal muss man das Rad einfach selbst (er)finden und sei es ein noch so kleines Rädchen …

Ich beginne also, (zugegeben: nicht wirklich planvoll) zu recherchieren.
So ganz ohne Misstrauen bin ich nicht – ich halte durchaus für möglich, dass Achtsamkeitsübungen die Chiasamen der Befindlichkeit sind … Superfood für die Psyche, das über kurz oder lang vom nächsten Wundermittel dovongehypet wird.
Aber sei’s drum: Versuch macht kluch!
Achtsamkeit, so lerne ich, ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die sich auf den Moment bezieht, ohne jedoch zu werten.
Auf den Moment, nicht auf Vergangenheit oder Zukunft – das klingt schonmal brauchbar. Achtsamkeit soll uns lehren, im Hier und Jetzt zu leben, gelassener zu werden. Perfekt! Nehm ich!

Was für mich zunächst einfach wie eine erstrebenswerte (Lebens)Haltung klingt, geht allerdings mit Meditationseinheiten oder mindestens Übungen einher. Idealerweise unter Anleitung.
Was ich durchaus verstehe: Bis heute erinnere ich mich an die Stimme unseres Betreuers in der Tagesklinik, der die progressive Muskelentspannung nach Jacobson angeleitet hat. Er hat immer gesagt, seine Anleitung spiele gar keine Rolle, wir müssten lernen, das allein und für uns selbst zu tun. Ich hab mir dann auch alle Mühe gegeben, aber sonderlich weit bin ich damit nicht gekommen.
Ich denke auch dankbar an Frau „locker und gelö*t“ zurück, bei der ich autogenes Training kennen lernen durfte.
Jahaha, der Spitzname ist ganz sicher despektierlich, aber ich hatte während des Trainings recht schnell den Eindruck, dass sie selbst scharfe und schneidende Laute zu vermeiden versucht hat: Deswegen haben wir uns am Ende des Trainings nie gelöst gefühlt, sondern – ehrlich, so klang das! – stets gelö*t …
Und ich hatte jedes Mal wieder Schwierigkeiten, ein Kichern zu unterdrücken …
Davon abgesehen war sie eine höchst einfühlsame Trainerin, deren Arbeit oft weit über die schiere Vermittlung von Techniken hinausging. Ich erinnere mich an eine „Sitzung“, bei der ich schlicht nicht in der Lage war, entspannt auf dem Rücken zu liegen, sondern bäuchlings Rotz und Wasser geheult habe, weil meine Mutter im Sterben lag. Es gab nicht viele Situationen, in denen ich mir das „gegönnt“ habe und die Selbstverständlichkeit, mit der sie mein Weinen hingenommen hat, hat mir damals sehr geholfen. Mit einschlägiger Literatur oder gegoogelten Anweisungen, wäre ich nicht halb – ach Quatsch! – nicht einen Bruchteil soweit gekommen.
Nun aber wird es ohne Anleitung gehen müssen.
Nicht, dass es nicht selbst hier auf dem Land das eine oder andere Coaching Angebot geben würde: Aber auch wenn ich absurd lange Anfahrten in Kauf nähme – ich verstehe nach wie vor die Sprache nicht gut genug.
Ich muss allein klarkommen, was – wenn man so will – letztlich ja sowieso Sinn der Übung ist …

Ein paar Dinge weiß ich schon: So kriege ich es zum Beispiel schlicht nicht auf die Reihe, mir regelmäßig x Minuten am Tag für mein wie auch immer geartetes Training freizuschaufeln. Selbst wenn ich den Rest des Tages grenzkomatös herumliegen sollte: Das kriege ich nicht hin. Und falls doch, gibt es ganz sicher irgendeine Störung. Mir das vorzunehmen, generiert also eher Stress.

Ich weiß ganz sicher, dass es Momente gibt, in denen ich mich mal besser nicht auf meine Atmung konzentrieren sollte. Wie man „in den Bauch hinein atmet“, habe ich zwar schon im Schulsport gelernt und meist genieße ich das Gefühl – aber angesichts einer tsunaminös heranrollenden Panikattacke zu erfühlen, ob ich womöglich gar hyperventiliere, bringt genau gar nix, versprochen.
Übungen, bei denen man den Atem einhält sind eher auch nicht meins: Da ich sowieso aufpassen muss, in angespannten Situationen nicht die Luft anzuhalten, fühle ich mich sehr unwohl dabei.
Mich mit der Frage zu befassen, was ich soeben empfinde, ist auch nicht so ganz ohne: Wenn mein Selbstwertgefühl sich gerade mal wieder schmerzerfüllt krümmt, weil sich die Erkenntnis aufdrängt, dass ich nichts, aber auch gar nichts wert bin, tue ich mir damit keinen Gefallen. Und Gefühlen wie Wut und Verletztheit widme ich sowieso schon viel mehr Aufmerksamkeit, als gut für mich ist.

Der Hinweis, dass Achtsamkeitsübungen für Menschen mit Depressionen nur bedingt zu empfehlen sind, kommt insofern nicht überraschend.

Dennoch scheint mir der Weg in die richtige Richtung zu führen und ich beginne, mir meine eigenen Achtsamkeitsübungen zu „basteln“ …
Es gibt keine Zeiten, während derer ich mich zurückziehe, um „achtsam“ zu sein – es geht mir ja auch viel mehr darum, im Leben zu bleiben.
Meine Aufmerksamkeit ist durchaus selektiv: Was ich nicht wahrnehmen kann, ohne es als unangenehm oder schmerzhaft zu werten, bleibt erstmal außen vor.
Stattdessen bemühe ich mich, offen für alle anderen Eindrücke zu sein.

IMG_16418-q-webDer Hof macht es mir leicht.
So gibt es zum Beispiel viele Gelegenheiten, in den Garten zu gehen – irgendetwas muss dort immer erledigt werden.
Das hohe Gras rauscht bei jedem Schritt, ich kann die Stellen, an denen es noch taufeucht ist, an meinen Füßen fühlen. Ich spüre Sonne und Wind und immer mal wieder Brombeerranken, die mir die Haut ritzen. Alle paar Meter kann ich andere Pflanzen riechen. Insekten summen, Eidechsen und vereinzelt Schlangen lassen das Laub rascheln. Meine Arme schlenkern beim Gehen. Die Kante der Kastanienkiste, die ich mitgenommenen habe, schneidet mir in die Handfläche. Nach einigen Metern kann ich fühlen, wie meine Mundwinkel sich entspannen.
Ich kann fühlen, wie ich mich entspanne.

Natürlich drängeln sich ab und zu Gedanken in den Vordergrund: Idealerweise Ideen für’s Abendessen oder für Blogtexte, aber – wie sollte es anders sein – auch mein Ärger.
Das menschliche Bewusstsein sei, hab ich gelernt, wie der Ozean, es schwappe halt ständig hin und her. Ein schönes Bild, fand ich. Weiter unten, in der Tiefe, sei es ruhig … aber so weit bin ich hier noch lange nicht. „Jetzt ist jetzt“ sage ich mir dann. Der Auslöser meines Ärgers ist Vergangenheit, ob er sich beheben lässt, merke ich in der Zukunft, aber jetzt geh‘ ich in den Garten!

Sollten angesichts dessen die Achtsamkeitscoaches dieser Welt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, erkläre ich hiermit meinen Weg in den Garten zur traditionellen cevenolen Schlendermeditation. Mir tut die gut.

To be continued …

warum?

Ob ich wohl eines schönen Tages damit werde aufhören können, mir über das „warum“ den Kopf zu zerbrechen?
Ich habe Tiefs, wenn ich überfordert bin und nicht schnell genug einen Ausweg finde. Oder wenn meine Grenzen längerfristig (also geringfügig länger als ganz kurzfristig) übertreten werden.
Das ist nicht schön und ich sollte bitte! dringend! endlich mal! einen Weg finden, besser auf mich acht zu geben.
Ich habe Tiefs, wenn etwas Trauriges passiert ist. Wenn ich einen Wutanfall hatte. Oder nach einem Streit.
Alles nicht schön. Aber immerhin erklärlich.

IMG_10784-q-webBleiben die Tage, an denen ich morgens wach(?) werde und mir nicht erklären kann, was ich verbrochen habe, dass ich mich so fühle …
In einem meiner Vorleben eine größere Stadt angezündet und auf der Leier dazu gespielt?
Nicht, daß ich wüßte … und nein, ich glaube nicht an Reinkarnation …
Ja, es liegt womöglich in der Familie. Und ja, ich bin Kind eines Kriegs(traumatisierten)kindes, auch da kann man irgendwann sicherlich mal ein Äugelein drauf werfen.
Hin und wieder riskiere ich tatsächlich einen Blick …

Aber für’s Erste wüßte ich manchmal einfach gern „warum?“!
Also: „warum“ heute?
Jahreszeiten sind ja durchaus verdächtig, Depressionen auszulösen oder zu verstärken … also habe ich geguckt, ob auch das Wetter eine Rolle spielt.
Nun ja, ich bin bei Sonnenschein tendenziell besser drauf als bei Starkregen, vermute aber, dass ich dabei schlicht dem Bevölkerungsdurchschnitt entspreche …
Ich hab nach meinem Zyklus geguckt und nach den Mondphasen …
Nickes …

Warum mir das wichtig ist?
Weil ich mir Berechenbarkeit wünsche! Vorhersehbarkeit!
Ich hab mir mit dem Hammer auf den Daumen gehauen: Er ist blau und tut weh. Ich hab zu viel getrunken: Ich hab Kopfweh und mir ist schlecht. Es ist Vollmond: Ich kann nicht schlafen. Der Feuermann tanzt über die Felder …
Aber nicht dieses wach(?) werden und mich fragen, was ich jetzt wieder verbrochen habe.
Und Endlichkeit: Blaue Flecken heilen, Kater lassen nach, der Mond nimmt ab und Dürre vergeht. Danach ist Ruhe. Erst einmal.

Vielleicht ist das genau der Gefallen, den ich mir noch tun muss: einfach akzeptieren, dass diese Tage kommen. Einfach so, ohne Grund. Dass der nächste Tag wieder besser ist. Oder der übernächste. Oder einer in der Woche drauf. Und das dann ein paar gute Tage kommen. Mal mehr, mal weniger.

Aber eigentlich finde ich, daß ich in den letzten 10, 15 Jahren genug akzeptiert, genug losgelassen habe!
Ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben und allmählich fände ich es einfach fair, wenn ich diese Drecksdepressionen endlich los wäre!

Gift

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Gerade eben erst bin ich gefragt worden, ob es mir hilft, die Texte anderer BloggerInnen mit … sagen wir … psychischen Besonderheiten zu lesen …
Doch! Ja! Tut es!
Es tut allein schon gut, zu sehen, wie viele wir sind.
Manchmal macht es mich hadern, zugegeben: Bei meiner vergleichsweise unauffälligen Vorgeschichte und Familienkonstellation hätte ich doch bitteschön auch ganz normal werden können!
Manchmal schäme ich mich auch ein wenig: Wenn ich lese, was man sonst noch so kriegen kann, sollte ich mich mit meiner Standardnormaldepresse vielleicht einfach nicht so anstellen …
Meistens aber gibt es mir Kraft, von Menschen zu lesen, die entschlossen sind, nicht nur trotz ihrer Besonderheiten klarzukommen, sondern auch mit ihnen.
Mich zum Beispiel haben sie gelehrt, nicht immer nur „Erkrankung“, sondern tatsächlich „Besonderheit“ zu denken: Ich habe PTBSler, Borderliner, Hochsensible, Asperger und etliche andere „kennen gelernt“ und die wollen sich einfach nicht unter dem Stichwort „krank“ zusammenfassen lassen. „Anders“, „schräg“, „besonders“, „vom zweiten Planeten links“, wie auch immer, aber nicht einfach nur alle „krank“. Wenn ich nun aber die nicht als krank ansehe, dann gelingt mir vielleicht auch ein etwas liebevollerer Blick auf mich selbst …
Ansonsten finde ich hochspannend, wie viele Gemeinsamkeiten wir trotz allem haben!
Dass Hochsensible und Asperger überhaupt Gemeinsamkeiten haben, sollte ein Widerspruch in sich und deswegen lustig sein – ist aber nicht der Fall, da bin ich mir ganz sicher! Wir haben viele Stränge, an denen wir gemeinsam ziehen können.

Und manchmal ist jemand bei einem ganz bestimmten Thema einfach schon einen Schritt weiter, als man selbst …
Ich erinnere mich, dass meine Therapeutin mich einmal darauf hingewiesen hat, ich möge im Gespräch doch bitte nicht ständig die Luft anhalten und auch nicht die ganze Zeit meine Schultern hochziehen. Sie hat mich auch gefragt, wer in mir das ist, der jetzt weint – oder weinen würde, wenn ich nicht krampfhaft die Luft anhielte …
Wut, rasende, brüllende, kreischende Wut war in all den Jahren nie Gegenstand der Therapie. Wie auch? Die meiste Zeit habe ich Psychopharmaka genommen und gar nicht bemerkt, dass unter dieser künstlichen Gelassenheit und Friedfertigkeit noch ein „Thema“ lauerte, das zu besprechen gewesen wäre …

Ich merke es jetzt. Den entsprechenden Auslöser vorausgesetzt, möchte ich mir nicht nur den Kopf blutig schlagen, sondern gleich den ganzen Hof in Schutt und Asche legen.
Und das ist der Grund, warum der Text meiner Bloggerkollegin Nintschgo mich so sehr berührt hat:
„ … ich bin weit entfernt von all dem Schreien und Brüllen und Kreischen, das ich aufholen muss.“
„Ich wünsche mir fast, dass mich jemand provoziert, bis ich anfange, zu kreischen und zu schreien und zu brüllen bis die letzte dieser Erinnerungen ihren Schrecken verliert. Ich wünsche mir auch, dass dieser jemand mich festhält, wenn die Tränen dann kommen.“