Das Yoga Projekt IV

… mit unverhofften Nebenwirkungen …

Ich mag torsions, solche Übungen, bei denen man quasi den Körper verdreht, indem man zum Beispiel auf dem Rücken liegend die angezogenen Beine vorsichtig zur einen Seite Richtung Boden sinken lässt, während man in die entgegengesetzte Richtung schaut. Das zieht zwar manchmal ganz ordentlich, aber ich finde es sehr entspannend und habe das Gefühl, dass es auch meinem Rücken gut tut. Und ich komme mir nicht so schlapp vor, wie bei den Übungen, für die es Kraft braucht.
Heute machen wir eine, die ich noch nicht kenne und ich denke „Wow! Das ist jetzt aber mal richtig angenehm!“. Obwohl ich rücklings auf meiner Matte liege, fühlt die Haltung sich tänzerisch an, offen, dem Himmel zugewandt. Anfangs habe ich ein bisschen Angst, dass es zwicken könnte in den Schultern, aber tatsächlich werde ich mit jedem Atemzug weicher. Ich merke, wie ich zu lächeln beginne.
Am Ende einer solchen torsion wickelt man sich sozusagen Schritt für Schritt wieder auseinander, kehrt in die schlichte Rückenlage zurück und fühlt in sich hinein. Oft habe ich dann das Gefühl, dass ich auf der gedehnten Körperseite größer oder schwerer bin.
Heute fühle ich dort eine Art dicken Strang, der vom Kopf bis in den Fuß reicht. Und sofern ein Gefühl farbig sein kann, ist er pottschwarz. „Schräg!“ denke ich und beschließe, die Erfahrung zuzulassen. Sekunden später laufen die Tränen und ich schnappe nach Luft: Panikattacke!
Keine allzu heftige glücklicherweise, ich bin in erster Linie verdattert, weil ich damit nun überhaupt nicht gerechnet habe. Nathalie nennt mir zwei Atemübungen, die ich machen soll und obwohl ich immer gedacht habe, wenn ich beim Yoga mal aus der Kurve fliege, dann wegen der Atemübungen, komme ich recht schnell wieder zur Ruhe.
Eine Idee, warum mir das passiert ist, habe ich nicht.

img_16215-q-webNathalie hat mir geraten, die Übung, die ich nach der ersten Hälfte abgebrochen habe, zu Hause noch zu beenden. Dazu komme ich am Abend nicht mehr, weswegen ich am Folgetag den kompletten Ablauf wiederhole.
Obwohl ich ein bisschen Muskelkater habe, empfinde ich den ersten Teil, in dem die rechte Körperseite gedehnt wird, erneut als sehr angenehm, es gelingt mir sogar noch besser als gestern, mich zu entspannen.
Aber als ich anschließend in mich hineinfühle, ist der schwarze Strang wieder da und ich breche in Tränen aus. Immerhin bleibt die Panik aus, wenn ich auch keine Ahnung habe, warum ich eigentlich weine.
Links, stelle ich verblüfft fest, bin ich sehr viel unbeweglicher. Dass nicht beide Körperhälften gleich geschmeidig sind, ist zwar normal, aber hier ist der Unterschied extrem und ich bin sehr vorsichtig, damit ich mir nicht womöglich weh tue.
Anschließend fühlt es sich an, als sei ich links in die Länge gezogen worden (wurde ich ja auch!), aber auch hier kann ich den Strang fühlen. Doch er ist hell! Und er beschreibt einen Bogen, der sich über die rechte Seite wölbt. Diese wird aufs Neue schwarz, fühlt sich ganz kompakt an und bildet dann ebenfalls einen Bogen. Am Ende berühren die beiden Bögen sich an den Spitzen. Das scheint mir richtig zu sein und ich beende die Übung voller Staunen über die eigenartige Erfahrung, aber gelassen.

Nathalie erklärt mir, dass wir während der Asanas, der Haltungen oder postures, zuweilen an alte Erinnerungen rühren, die ontogenetischer (die Entwicklung eines Lebewesens von der Keimzelle bis zu seinem Tod) und sogar phylogenetischer (die stammesgeschichtliche Entwicklung der Gesamtheit aller Lebewesen betreffend) Natur sein können.
Deswegen heißen, so sagt sie, die Asanas „Fötus“ oder „Kind“, aber auch „Kobra“, „Frosch“ oder „Schlange“.
Berühren wir eine solche Erinnerung, werden die dazugehörigen Emotionen offenbart und freigesetzt.
Augenscheinlich sei gerade diese Haltung interessant für mich (den Eindruck habe ich allerdings auch!) und wenn es mir möglich sei, solle ich die Tränen nicht zurückhalten, sondern sie ebenso willkommen heißen, wie alles andere, das ich empfinde, mit Aufmerksamkeit und Empathie.
Und dann loslassen …

Richtige Depressionen. Nicht so wie Du.

Es war ausgerechnet ein Familienmitglied, das mir eines Tages erklärt hat: „Ein Kumpel von mir hat auch Depressionen. Aber richtige Depressionen. Nicht so wie Du.“
Richtige Depressionen. Nicht so wie ich …
Überflüssig zu erwähnen, dass diese Bemerkung bis heute nachhallt und schmerzt, oder?

Mit Aussprüchen à la „wenn es mir so geht, nehme ich ein schönes Schaumbad bei Kerzenlicht“, „da hilft Ausdauersport / Johanniskraut / Lichttherapie / Vitamin Schlagmichtot“ oder meinethalben auch „da muss man sich halt mal zusammenreißen!“ komme ich halbwegs entspannt klar.
„Ich kenne mich aus und Du bist gar nicht richtig depressiv“ dagegen hat mich umgehauen.

Vermutlich war das nicht einmal böse gemeint …
Ich meine, ich hätte mich ja auch darüber freuen können, bedeutete es doch, daß ich halbwegs stabil war, im Allgemeinen nicht suizidgefährdet, zufriedenstellend auf meine vergleichsweise harmlosen Medikamente eingestellt und an guten Tagen tatsächlich in der Lage, an Familienfeiern teilzunehmen.
Dann hätte man aber auch sagen können „Schön, daß Du einigermaßen klarkommst ohne starke Medikamente zu nehmen. Schön, daß Du es heute hergeschafft hast!“.
Stattdessen: „Du bist gar nicht richtig krank“ …
Wie bitteschön ist man denn richtig depressiv?
Gibt es eine Skala, einen Depr-O-Mat, auf dem man eine gewisse Punktzahl erreichen muss?
Und wer entscheidet darüber? Die Leute mit den richtig depressiven Kumpels?

Warum das auch nach Jahren immer noch wehtut?
Weil es eben nicht nur bedeutet, nicht ernst genommen zu werden.
Stellt Euch mal vor, Ihr wäret über Wochen und Monate arbeitsunfähig geschrieben weil Ihr zum Beispiel unerträgliche Schmerzen habt. Halt nur keinen Knochenbruch, den man auf Röntgenbildern sehen könnte, nichts, was sich via Ultraschall, CT oder was auch immer beweisen ließe …
Und dann käme jemand daher und nennt Euch Simulant … Drückeberger … Betrüger …
denn nichts anderes steht hinter der Aussage „Du bist ja gar nicht richtig depressiv“ …
Wenn das die Reaktion der eigenen Familienmitglieder ist, der Menschen also, auf deren Wohlwollen man sich vor allen anderen verlassen können sollte, haut es allerdings noch mal extra rein, finde ich.

Das ist jetzt Jahre her und es tut trotzdem immer noch weh.
Szenen wie diese vergällen mir die Rückschau auf mein Leben.
Gerade, wenn ich versuche, dann doch eine versöhnliche Bilanz zu ziehen, drängeln sie sich in den Vordergrund und verpesten alles andere.
Typisch Depri, natürlich, das Augenmerk stets in erster Linie auf alles Negative zu richten …

Der durchaus wohlmeinende Rat „Vergiss das doch einfach! Zieh dir den Schuh nicht an, so ein Ausspruch sagt doch mehr über dein Gegenüber, als über dich!“ hilft mir ungefähr so viel weiter, wie das besagte Schaumbad bei Kerzenschein.
Wenn es darum ginge, jemand anderem zu raten, ich wäre wohl eine der ersten, die „Jaja sagen und A****loch denken!“ empfiehlt, oder aber auf die deutsche Eiche und die Sau verweist.
Ich selber kann es nicht.
Noch nach Jahrzehnten können mir solche Begebenheiten ganz taufrisch vor Augen stehen bzw. in den Ohren klingen. Und ich bin immer wieder gleich fassungslos, gleich verletzt.
Die Betreffenden mögen das längst vergessen haben – ich erlebe es immer wieder auf’s Neue.
In solchen Momenten bleibt mir nur, mich sozusagen selber zur Ordnung zu rufen: „Themenwechsel! Tu das weg! Konzentrier‘ dich auf etwas anderes!“!
Das funktioniert, aber es braucht tatsächlich Konzentration. Und es kostet mich eine Menge Kraft. Gerade in ganz entspannten Situationen, beim Dösen und Einschlafen zum Beispiel, wenn die Wachsamkeit nachlässt, poppt dann doch wieder irgendwas hoch. Und je müder ich bin, desto schwieriger ist es, mich zur Wehr zu setzen. Das ist der Grund, warum ich oft Angst vor dem Schlafengehen habe.

Darüber zu schreiben, mir diese Erinnerungen von der Seele zu schreiben, würde womöglich helfen, hab ich gehofft. Wirklich zuversichtlich bin ich da allerdings nicht…
Aber mir gefällt die Idee, sie hier ein für allemal auf Tauchgang zu schicken: Sie zu schildern, ihnen die Füße (sofern Begebenheiten Füße haben) in Beton zu gießen und sie dann im Meer zu versenken. Da, wo es schön tief ist.

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Gerade muss ich an den Ort denken, den inneren Ort, an den man sich zurückziehen können sollte, um Sicherheit, Ruhe und Entspannung zu finden.
Vielleicht gucke ich wirklich zu viele schlechte Filme, aber soeben ersteht vor meinem inneren Auge eine Hafenszenerie. Nächtlich, versteht sich. Ein hölzerner Steg. Wir hören die Wellen leise schlurpsen. Und eine Betonmischmaschine, die ganz ähnliche Geräusche macht. Kunststoffwannen stehen bereit. Und ein Liegestuhl.
Der ist für mich.