Mein Freund der Baum

Als die weise Meditierende bei unserem vorerst letzten Treffen zur gemeinsamen Achtsamkeitspraxis ein Experiment vorschlägt, spüre ich, dass einige Angst bekommen, lasse mich aber darauf ein, weil ich andererseits auch neugierig bin und nichts verpassen möchte.
Aglaia ist sofort bei mir – sie wirkt alarmiert.

Aber es beginnt ganz harmlos: Wir sind eingeladen, uns einen Baum vorzustellen. Es kann ein Baum sein, den wir kennen, oder einer, den wir in unserer Phantasie erstehen lassen. Ich muss spontan an die große Steineiche denken, den schönsten Baum des Hofes. Andererseits sind dort die Hunde begraben … ob das eine gute Idee ist? Birken mag ich auch! Vielleicht lieber eine Birke?

Das Bild der Steineiche schiebt sich immer wieder in den Vordergrund. Nun denn … immerhin kann ich diesen Baum deutlich vor mir sehen.

Es ist eine kontemplative Übung, eine Betrachtung.
Wir beginnen damit, die Wurzeln des Baumes zu betrachten, die ihm Halt und Sicherheit geben, aus denen er seine Kraft zieht, und stellen uns die Frage, was unsere eigenen Wurzeln sind.
Unsere Familie vielleicht, oder die Kultur, in der wir aufgewachsen sind.
Über meine familiären Wurzeln möchte ich lieber nicht nachdenken, so viel ist sicher!
Kultur? Seit ich im Ausland lebe, weiß ich, dass ich sehr viel deutscher bin, als ich immer dachte – aber grad ist das auch keine Hilfe.
Steineichen wurzeln tief, denn der Boden, in welchem sie gedeihen, ist karg und trocken. Sonderlich nährend kommt mir das jetzt auch nicht vor.
Mir wird bewusst, dass Traumata den Betroffenen all das nehmen: Das Gefühl, verwurzelt zu sein und Halt zu finden. In Sicherheit zu sein. Kein Wunder, dass ich mit dem Bild nicht klarkomme!
Die Erkenntnis tut weh und Aglaia macht sich bemerkbar: Dunkelheit breitet sich aus und ich bekomme Schmerzen. Ich versichere ihr, dass ich vorsichtig sein werde.
Wenn ich keine Wurzeln habe, dann will ich mich jetzt und hier in diesem Boden verwurzeln, mich mit dem Stück Land verbinden, auf welchem ich im Laufe der letzten Jahre Halt und Sicherheit gefunden habe!

Der Stamm steht für unsere Fähigkeiten, unsere Ressourcen.
Schreiben! Schreiben, gar keine Frage, ist eine meiner wichtigsten Ressourcen! Kreativität überhaupt. Und ich habe Humor. Der hilft – auch wenn er zur Not schwarz ist.
Nun hat so eine alte Steineiche einen ziemlich mächtigen Stamm … vielleicht hätte ich mir lieber einen Schößling ausdenken sollen.

Die Äste sind unsere Visionen und Wünsche.
Die Blätter Menschen, die uns etwas bedeuten, oder bedeutet haben. Die wir, oder die uns geliebt haben.
Und die Früchte Geschenke, die wir erhalten oder gemacht haben.
Ach herrje … was das betrifft hätte ich ein Gewächs vom Format einer Wünschelrute gerade so eben bewältigt.
Dieser prachtvollen Baumkrone mit den silbrig schimmernden Blättern, die im Wind rauschen, aus der es Unmengen von Eicheln regnet, werde ich nicht im Ansatz gerecht.
Mein selbstgewähltes Eremitinnendasein kommt mir plötzlich verarmt und traurig vor.

Die Schmerzen werden immer heftiger und ich erwäge, die Übung abzubrechen.
Andererseits weiß ich aus der Yoga-Praxis, dass solche Abbrüche sehr irritierend wirken können – es ist sinnvoll, sich sowohl für den Ein- als auch für den Ausstieg Zeit zu nehmen.
Also beschließe ich, der Baum zu sein!
Meine Füße sind fest in diesem kargen Boden verwurzelt, meine Wurzeln erstrecken sich durch das ganze Gelände! Mein Stamm ist stark, meine Arme sind erhoben und meine Hände berühren den Himmel! Die Hunde schlafen zu meinen Füßen und ich umspanne den Hof und alle, die ihn bewohnen!

Dieser Kraftakt erschöpft mich ganz und gar und ich warte verzweifelt auf das Ende der Meditation.
Es kommt in Form der Metta-Sätze.
„Echt jetzt? Das AUCH noch?“
Das klingt nach „T“ und ihren despektierlichen Bemerkungen, aber ausnahmsweise verstehe ich sie. Ich kann nicht mehr!
Wir einigen uns darauf, mit halbem Ohr zuzuhören und uns einfach dem Ende der Veranstaltung entgegentreiben zu lassen.

Ich bin zutiefst dankbar für diese Erfahrung: Für die Erfahrung, dass es in der Achtsamkeitspraxis möglich ist, schmerzhafte und verstörende Empfindungen wahrzunehmen und anschließend weiterzugehen.
Wie erschöpft ich bin, merke ich, als ich kurz darauf versuche, eine Treppe hochzusteigen: Mir zittern die Knie.

Traumfrau

Die weise Hebamme aka Psychotherapeutin im Nachbarort hat mir vorgeschlagen, über meine Träume zu sprechen.
Zwar glaube ich durchaus, dass manche unserer Träume uns etwas sagen wollen, und ich schreibe sie schon seit vielen Jahren auf, aber jetzt bin ich skeptisch.
Traumdeutung? Ich weiß ja nicht …
Andererseits: Warum nicht? Ein Versuch kann ja nicht schaden!

Ich übersetze einen meiner Träume, der mir interessant erscheint, ins Französische und drucke den Text aus. Um meinen Traum zu erzählen, müsste ich nicht nur die neuen Vokabeln pauken, sondern mir auch diverse grammatische Verwicklungen merken. Ich müsste den Text quasi auswendig lernen.
So geht es schneller.

Das Gespräch führen wir nach wie vor hauptsächlich auf Englisch. Das ist mühsam, weil wir dann beide nicht unsere Muttersprache nutzen und immer wieder durch Rückfragen klären müssen, ob wir einander richtig verstanden haben. Aber ich bin schon froh, dass wir überhaupt eine gemeinsame Sprache sprechen!

Der weitere Verlauf ist völlig anders, als ich mir das vorgestellt hatte.
Ich hatte irgendetwas in Richtung „Wenn Sie von einem weißen Pferd träumen, dann bedeutet das, dass sie ein problematisches Verhältnis zu ihrem Vater haben!“ erwartet; in etwa das, was in Zeitschriften gleich links von den Horoskopen zu lesen ist.
Unterdessen beschämt mich mein mangelndes Zutrauen in ihre Fähigkeiten.

Wir gehen den Traum ganz langsam, Schritt für Schritt durch und sie stellt mir Fragen dazu:
Erkenne ich Personen oder Orte wieder? Kann ich sie beschreiben? Habe ich eine solche Situation schon einmal erlebt? Was fällt mir ein, wenn ich an ein bestimmtes Detail denke?
Es ist sozusagen freies Assoziieren entlang des roten Fadens meines Traumes und ich bin überrascht, wie viele Erinnerungen dabei auftauchen.

Je intensiver ich mich mit meinen Träumen beschäftige, desto detaillierter wird meine Erinnerung daran. Dass ich sich wiederholende Träume habe, weiß ich schon lange, aber erst jetzt fällt mir auf, wie viele Details immer wieder auftauchen. Gleichzeitig beobachte ich, dass die regelmäßig wiederkehrenden Träume jetzt andere Verläufe nehmen – ganz so, als würde mein Handlungsspielraum sich vergrößern.

Unsere Gespräche über diesen Traum, die sich über mehrere Sitzungen hinziehen, sind eher unterhaltsam, als schmerzlich. Oft muss ich selbst im Englischen Hände und Füße zur Hilfe nehmen, um mich verständlich zu machen. Wir lachen viel.
Ich mag die weise Hebamme gut leiden und fühle mich sicher bei ihr.
Dennoch bekomme ich mit der Zeit mehr und mehr Angst vor unseren Treffen.

Bei einem der letzten Termine schaffe ich es gerade so eben, Contenance zu wahren, solange ich im Wartebereich sitze. Kaum schließt sich die Tür hinter mir, bekomme ich eine der heftigsten Panikattacken meines Lebens.
Sie rät mir, loszulassen, der Attacke ihren Lauf zu lassen.
Und ich antworte „Wenn ich das tue, bricht alles auseinander. Dann werde ich verschwinden.“

Nach meinen Treffen mit der weisen Hebamme suche ich stets einen weisen Mann auf: Es ist der Physiotherapeut, dessen Behandlungsräume gleich neben ihrem liegen.
Ich kenne ihn schon seit einigen Jahren. Er spricht ausschließlich Französisch, ist aber in der Lage, meine Beschwerden mit seinen Händen zu orten, selbst wenn ich sie nicht beschreiben, sondern nur mit dem Finger dahin deuten kann, wo es wehtut.
Er ist „eingeweiht“: Er weiß, dass ich gerade aus der Psychotherapie komme und unter Umständen in schlechter Verfassung bin.

Manchmal „berührt“ er das Trauma in meinem Körper, dann bekomme ich Angst, mir wird übel, oder ich beginne zu dissoziieren. Die weise Hebamme hat ihm erklärt, dass das passieren kann.
In solchen Momenten rede ich mir selbst gut zu: Dass wir diesen Mann schon lange kennen. Dass er weiß, was er tut, und wir ihm vertrauen können. Das hilft.

An diesem Tag bitte ich ihn, einfach irgendetwas zu tun, damit ich ruhiger werde.
Er hilft mir, entspannt und tief zu atmen.
An besseren Tagen übt er während der Behandlung Französisch mit mir.

Überflüssig zu erwähnen, dass ich nicht mehr selbst Auto fahre: Ich muss mich fahren lassen.

Über die Zeit lässt die Angst vor den Therapiesitzungen nach und ich sehe meinem nächsten Termin geradewegs gelassen entgegen.
Abgesehen davon allerdings, dass es mir gelingt, mich so geschickt im der genauen Uhrzeit zu irren, dass es mir um ein Haar gelungen wäre, nur zur Physiotherapie zu müssen.

Eine halbe Stunde immerhin haben wir noch!
Die weise Hebamme beginnt, mir ihre Interpretation meines Traumes zu schildern.
Dann geht alles ganz schnell: Tränenausbruch, Schnappatmung, der Tinnitus kreischt in meinen Ohren, so dass ich sie kaum noch hören kann. Ich bekomme einen Tunnelblick, an den Seiten wird es schwarz. Und ich spüre, wie ich neben meinen Körper trete. Ungefähr so, als sei ich mein eigenes Lenorgewissen, allerdings habe ich Sorge, dabei vom Stuhl zu fallen.

„Loslassen“ kann ich das nicht, aber ich bemühe mich, nicht die Luft anzuhalten, sondern wenigstens in Bruchstücken rauszuquetschen, was mir passiert.

Mir kommen in diesem Moment keine Erinnerungen ins Bewusstsein, es überwältigen mich keine Emotionen … ich bin nur Körper. Und – als die Attacke abklingt – absolut ratlos.
Ich begreife überhaupt nicht, was mir da passiert ist!

Traumata vererben sich über mehrere Generationen.
An vieles habe ich keine Erinnerung, aber sie steckt in meinem Körper.
Insofern scheint es mir folgerichtig, dass die „Aufarbeitung“ ebenfalls in meinem Körper vonstatten geht.
Danach fühle ich mich sehr ruhig. Und ich bin unglaublich müde.
So müde, dass ich auf der Liege des Physiotherapeuten beinahe einschlafe.

Das, was wir bis zu diesem Moment besprochen haben, war übrigens lediglich der Beginn eines langen, detailreichen Traumes.
Der Beginn einer Mischung aus Geister- und Achterbahnfahrt.