Grünes Licht

Unter Anderem übe ich in der Therapie, schmerzhafte Emotionen zu … hmhmhmen … anstatt zu dissoziieren.

Anfangen mag ich der Einfachheit halber damit, was Dissoziation (an dieses Thema habe ich mich hier schon einmal herangepirscht) eigentlich ist:
Dissoziation fängt zum Beispiel da an, wo die Worte meines Gegenübers mir zum einen Ohr rein und zum anderen gleich wieder raus gehen. Wo ich einen Text lese, den Inhalt aber nicht aufnehme.
„Danke, wir nehmen nichts!“-Momente des eigenen Gehirnes sozusagen.
Die kennen wir alle und sie sind eigentlich nichts Schlimmes: Eine Art Filter, der uns vor zu vielen Informationen schützt.

Am eindrücklichsten erinnere ich solche Momente aus der Schule:
Ich war entsetzlich schlecht in Mathe und Chemie. Dennoch schien mir jeder Beginn eines neuen Kapitels, besser noch: eines neuen Schulhalbjahres eine Chance zu sein!
Jedes mal auf’s Neue war ich gänzlich erfüllt von gutem Willen, habe meine komplette Aufmerksamkeit auf Lehrkörper und Tafel gerichtet, bereit, alles und jedes zu notieren …
… um eine unbekannte Anzahl von Minuten später festzustellen, dass ich augenscheinlich irgendwo ganz anders gewesen war. Beim Unterricht ganz sicher nicht! Und auch sonst nirgends – jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern könnte.
Aber nein: Ich möchte damit nicht sagen, dass der Mathematik-Unterricht in der Mittelstufe des Gymnasiums mich traumatisiert hat („gemacht“ hat diese Erfahrung schon etwas mit mir, keine Frage … aber das ist ein ganz anderes Kapitel)!
Ich bin mir lediglich sicher, dass viele Menschen sich in diesem Beispiel wiedererkennen: Die Erkenntnis, definitiv anwesend gewesen zu sein, bei völligem Fehlen einer Erinnerung daran, was tatsächlich passiert ist …
So in etwa fühlt sich Dissoziation an. Für den Alltagsgebrauch sozusagen …

Bei Menschen, die Traumata tragen, ist all das sehr viel stärker ausgeprägt: Dissoziation kann Erinnerungen, aber auch damit verknüpfte Emotionen „fernhalten“.
So kommt es zum Beispiel, dass Menschen sich zwar an einen schweren Unfall erinnern, nicht jedoch an die Todesangst, die sie in diesem Moment verspürt haben.

Dissoziation kommt nicht nur in Form von Konzentrationsschwierigkeiten, Absencen, „Schusseligkeit“ oder Gedächtnislücken daher, sondern manifestiert sich auch im Körper.
Wie sich das anfühlt?
Stellt Euch vor, Ihr seid mit einer anderen Person unterwegs, und diese legt plötzlich ein Verhalten an den Tag, das Euch enorm peinlich ist. Dann tretet Ihr vielleicht einen Schritt zur Seite, um zu dokumentieren „damit habe ich nichts zu tun, die kenne ich nicht!“.
Wenn Ihr beides seid: Diese peinliche Person und Ihr selbst gleichzeitig, dann steht Ihr neben Euch!
So fühlt sich das für mich oft an: Ich mache einen Schritt / rücke auf meinem Stuhl ein Stück zur Seite, aber mein Körper kommt nicht mit.
Wenn es sehr heftig ist, fühlt es sich an, als würdet Ihr Auto fahren und auf der Autobahn plötzlich von einer heftigen Windbö erfasst werden. Oder als würde Euch jemand vom Stuhl zu schubsen versuchen.
Bis Euch das klar wird, glaubt Ihr vielleicht, Ihr hättet einfach Kreislaufprobleme, oder irgendwas Neurologisches.

Fun Fact: Bei mir führt das hin und wieder dazu, dass ich buchstäblich über meine eigenen Füße falle. Das passiert zum Beispiel immer dann, wenn ein Teil von mir ganz dringend zur Psychotherapie möchte, ein anderer das aber für eine unheimlich blöde Idee hält. Dann laufe ich mit dem linken Fuß geradeaus, während der rechte überholt und schnibbelt, um zurück nach Hause zu gehen.
Der Rest ist Slapstick

Dissoziation schafft Distanz.

Das Gegenteil von Dissoziation ist Assoziation, Verbundenheit, „in Verbindung gehen“.
Das eingangs erwähnte „Hmhmhm“!
Beim „Hmhmhm“ ist häufig die Rede davon, eine Emotion, einen Zustand zu halten – also nicht aushalten im Sinne von Ertragen, sondern halten wie „Halt geben“. Den Halt nicht verlieren.
Das habe ich auch sehr abstrakt gefunden bis es mir gelungen ist, ein inneres Bild dafür zu kreieren.

Und womöglich ist genau das der Punkt: Dass wir lernen müssen, innere Bilder zu finden!
Thich Nath Hanh* vergleicht unser Geistbewusstsein (aktive Bewusstheit, aktives Gewahrsein, oder schlicht Bewusstsein) mit einem Wohnzimmer; unser Speicher- oder auch Unterbewusstsein dagegen mit einem Keller, in welchem unsere vergangenen Erfahrungen, Regungen und Emotionen wie Samen gelagert sind. Entsprechende Umstände vorausgesetzt, können diese Samen aufsteigen und sich in unserem Wohnzimmer manifestieren. Tom Holmes** übernimmt dieses Bild in seinem Buch über die systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen.
Ich für mein Teil denke bei „Wohnzimmer“ an Wohnzimmer: Sitzgarnitur (wieso um alles in der Welt eigentlich „ …-garnitur“?), Schrankwand, Teppich, Zimmer-Araukarie …
Stopp! So kann ich nicht arbeiten …“!

Mein „Wohnzimmer“ ist einfach eine imaginäre Höhle in meinem Brust- und Bauchraum, eine Art überdimensionale Gebärmutter, weich und geschützt. Den nötigen Platz schaffe ich, indem ich mich sitzend entspannt mit dem Rücken anlehne während meine Füße fest auf dem Boden stehen und die Hände auf den Oberschenkeln ruhen. Ich lehne mich sozusagen in mein Selbst zurück, stehe stabil und geerdet und gebe Raum.
Diesen Raum können Anteile, Erinnerungen oder Emotionen einnehmen. Auf diese Weise überfluten sie mich nicht, sondern ich kann sie betrachten und in Verbindung gehen.
Gut möglich, dass ich dabei zu weinen beginne. Manchmal lächele ich auch, oder neige den Kopf, weil ich jemandem zuhöre. Hin und wieder spreche ich auch mit mir.

Das muss merkwürdig klingen!
Dass es eine solche Erleichterung ist, eben nicht eine in der Form gegossene Persönlichkeit zu sein, die – zugegeben – ordentlich Probleme mit sich selber hat, sondern ein Konglomerat aus mir selbst, meinen eigenen Anteilen, solchen, die ich geerbt habe (wäre ich ein Haus, es würde in mir spuken), abgespaltenen Emotionen und vagabundierenden Erinnerungen!
Aber genau so ist das. Erst seit ich das verstanden habe, kann ich Gastgeberin in meinem eigenen Haus sein. Kann mich in meinem Selbst verorten und alles andere / alle anderen einladen, sich zu zeigen. Ohne dabei aus der Kurve zu fliegen.
Ich erinnere mich, dass ich früher hin und wieder gesagt habe „In mir ist so viel Weinen – wenn ich damit erst einmal anfange, kann ich nie wieder aufhören!“.
Deswegen habe ich mir das immer zu verkneifen versucht.
In dem Raum, den ich öffne, kann und darf geweint werden!
Und hier stellt sich in aller Regel nach erstaunlich kurzer Zeit Erleichterung ein.

Sind die Emotionen sehr heftig, kann ich den Raum „größer ziehen“ – so, wie das in Sience Fiction Filmen zu sehen ist, wenn virtuelle Darstellungen mit einem Wischen der Hand vergrößert werden. Dann ist der Raum in mir plötzlich wesentlich größer, als ich selbst.
Das hat zu Anfang nicht immer geklappt: Manchmal habe ich auch einen Tunnelblick bekommen, zu meinen Seiten wurde es schwarz, der Tinnitus hat gekreischt wie verrückt, und wenn es richtig dicke kam, habe ich mich nur noch an der Stimme der weisen Hebamme festhalten können: „Sie sind hier bei mir! Sie sitzen im Sessel und ihre Füße stehen fest auf dem Boden! Sie sind in Sicherheit!“ …

Neulich nun habe ich eine Emotion eingeladen, von der ich wusste, dass sie vermutlich überwältigend sein würde.
Ich habe den Raum in mir so groß „gezogen“, wie es nur irgend möglich war. Er war nicht groß genug …
Und dann ist etwas ganz wundersames geschehen:
Der Raum hat sich mit einer Kindheitserinnerung gefüllt!

Ich war mit meinen Eltern und der Familie in einem Restaurant – oft ist das nicht vorgekommen, es muss eine ganz besondere Gelegenheit gewesen sein.
Der Gang zu den Toiletten verlief außerhalb des Hauses, war jedoch mit einer Wand aus gewelltem Kunststoff abgeschirmt. Transparentem, grünem Kunststoff. Wenn die Sonne schien, war dieser Gang erfüllt von hellgrünem Licht! Als Kind hat mich das vollkommen fasziniert.
Schlagartig war ich in meine Kindheit zurückversetzt: „Grünes Licht! Wow!“ …
Und irgendwo oben auch „rot“ wie von einer Sonne …

Ich erkläre mir das so:
Die Emotion, die sich hätte zeigen wollen, war zu heftig, als dass ich sie hätte halten können.
Sie hätte mich vom Stuhl gehauen.
Stattdessen hat mein Unbewusstes mir die grüne Brille aufgesetzt.
Eine andere Form der Dissoziation, wenn man so will. Eine ganz andere: Nichts daran war unangenehm oder gar beängstigend!
Noch sehe fühle ich nicht klar, aber ich habe keinen Grund, mich zu fürchten.
Ich werde lernen, diese Emotion zu halten:
Schließlich hat mein Unbewusstes mir buchstäblich „grünes Licht“ gegeben!

* Thich Nhat Hanh „Versöhnung mit dem inneren Kind“
** Tom Holmes „Reisen in die Innenwelt“

Gnufti

Mindestens eines der Kinder vermisst Oskar. So schmerzlich, dass es nicht sprechen, sondern nur bitterlich weinen kann.
Ich frage mich, was ich tun kann, um diesen Schmerz zu lindern …
Hin und wieder gesellt er sich in der Meditation von sich aus zu uns – aber ist es ethisch vertretbar, einen Hund, der schon seit Jahren die ewigen Jagdgründe durchstreift, zurückzurufen?
Eine liebe Freundin, die ich um ihren Rat bitte, schlägt vor, ich könne ihn doch einfach fragen
Das erscheint mir sinnvoll und in der nächsten Hypnose lade ich ihn ein, Zeit mit uns zu verbringen.
Es klappt nicht. Ich kann ihn visualisieren, aber er selbst erscheint nicht. Offensichtlich ist eine hypnotische Trance keine Séance.
Also erkläre ich den Kindern, dass ich Oskar nicht wieder lebendig machen kann, wir ihm aber vielleicht eines Tages wieder begegnen werden. Und frage, ob wir uns bis dahin vielleicht gemeinsam einen Fantasie-Hund ausdenken wollen …
„Nein.“
Ein Stoffhund vielleicht?
„Nein.“
Die Idee, selbst etwas aus alten T-Shirts zu häkeln, findet dagegen Anklang. Das Ergebnis wird Gnufti getauft und schläft seitdem mit mir im Bett.

Ansonsten haben wir uns allmählich eingegrooved – die weise Hebamme, die Crew und ich.
Meine Psychotherapeutin aka die weise Hebamme und ich haben anfangs viel Zeit damit verbracht, uns zu versichern, dass wir beide wirklich das selbe meinen: Wir sprechen Englisch miteinander, nutzen also beide nicht unsere Muttersprache. Gelegentlich, wenn sie sich möglichst präzise ausdrücken möchte, spricht sie (langsam und deutlich!) Französisch mit mir – das funktioniert durchaus, ist aber sehr anstrengend. Umgekehrt ist das nicht möglich und es frustriert mich zuweilen, wenn ich einen Gedanken im Englischen nicht ausdrücken kann.

Nach wie vor geben wir einander regelmäßig Feedback, wer von uns gerade was verstanden hat, setzen zur Not Hände und Füße ein … aber mit der Zeit haben wir begonnen, einander auch intuitiv zu verstehen und es liegt nun eine gewisse Leichtigkeit darin.

Dass einige Crewmembers (vor allem die Kinder) gerne den sicheren Raum der Hypnose nutzen, um sich zu zeigen, habe ich neulich bereits erzählt.
Ganz allmählich lerne ich auch, zu unterscheiden, wann meine Gedanken wirklich meine eigenen sind, und wann eher nicht. Und ja: Ich fange an, Gespräche mit den Stimmen in meinem Kopf zu führen!
Neulich erst habe ich einen Podcast* angehört: „8 Anzeichen, an denen du erkennen kannst, ob du von deinem Trauma heilst“.
Stimme bei Anzeichen 2: „Ich werde NIEMALS heilen!“
Stimme bei Anzeichen 4: „Wovon redet die überhaupt?“
Und diesmal hab ich nicht den Mut verloren. Ich habe auch nicht entschieden, dass der Podcast blöd ist.
Ich habe erwidert, dass ich die Worte gehört habe. Und: dass ich anderer Meinung bin.
Ein penetrantes, leises Nörgeln, dass ich mir nicht alle acht Punkte gemerkt habe, das aber sowieso egal ist, weil ich sie ja sowieso nie erfüllen werde, kann ich immer noch hören.
Aber ich darf mich dafür feiern, begriffen zu haben, dass ich nicht alles, was ich denke, deswegen auch glauben muss.

Mein Unbewusstes seinerseits korrespondiert über meine Träume mit der weisen Hebamme: Die Ergebnisse unserer Gespräche finden Eingang in meine Träume und werden dort weitergesponnen.
Das entstandene Gespinst kann ich anschließend zu ihr zurück tragen.

Eines der Crewmembers hat einen ganz eigenen Weg gewählt, sich zu zeigen.
In der Nacht vor meinem Termin mit der weisen Hebamme habe ich geträumt, ich sei bereits dort.
Allerdings nicht allein.
Es war noch eine weitere Frau anwesend, die berichten wollte, was sie gesehen hat.
Sie muss Grauenvolles erlebt haben, aber sie hat es überlebt. Was ihr dabei geholfen hat, möchte sie zu meinem Schutz an mich weitergeben. Sie wacht über mich.
Dass dieser Schutz in meinem Leben gar nicht zwingend benötigt wird, kann sie nicht wissen, weil sie ein für allemal in der Zeit eingefroren ist.
Ich denke, dass sie deswegen den Kontakt auf dem sichersten Weg aufgenommen hat, der ihr zur Verfügung steht: Sie will mich auf gar keinen Fall alleine lassen.
Das muss sie auch nicht. Sie wird bleiben und mit mir zusammen heilen.

* Es handelt sich um den Podcast von Verena König: https://verenakoenig.de/blog-und-podcast

Tauchen in fremden Gewässern

Mittlerweile gibt es schon über 100 Taucherinnen-Texte!
Zeit für einen Rückblick und ein weiteres Update.

2015 habe ich begonnen, davon zu erzählen, wie es eigentlich ist, an einer psychischen Erkrankung (damals Depression und Angststörung) zu leiden, was ich schon alles dagegen zu unternehmen ausprobiert hatte und wie ich nun versuchen wollte, nicht mehr mich selbst, sondern mein Leben so zu verändern, dass dieser Schatten von mir genommen werden möge.
Das hat – auch wenn es nicht ganz einfach war – funktioniert: Ich habe Tage, an denen ich mich deprimiert fühle, aber keine Depressionen mehr.

Stattdessen habe ich begonnen, an chronischen Schmerzen und diversen, sehr seltsamen neurologischen Symptomen zu leiden. Im Laufe eines mehrjährigen Diagnose-Marathons, während dessen ich gelernt habe, dass es die exotischen Erkrankungen, über die bei Dr. House diskutiert wird, tatsächlich gibt, ich aber keine davon habe, sondern körperlich eigentlich erfreulich gesund bin, wurde ich zunächst mit Borreliose, letztendlich aber mit Fibromyalgie diagnostiziert.
Fibro ist, platt gesagt, das, was übrig bleibt, wenn’s alles andere nicht ist.

Fibromyalgie gilt allerdings auch als typische Folge von Traumata.
Das passt: Ich bin sowohl Kriegsenkelin, als auch Verschickungskind und habe vermutlich selbst traumatische Erfahrungen gemacht, die allerdings bis jetzt einer Amnesie unterliegen.
Auf eine rein medikamentöse Behandlung mochte ich mich nicht einlassen, will sagen: Ich nehme die notwendigsten Medikamente, verzichte aber nach Möglichkeit auf solche, die erhebliche Nebenwirkungen, oder aber Suchtpotential haben. Stattdessen versuche ich es mit Psycho-, Physio- sowie Hypnosetherapie.
Medikamente vermögen die ärgsten Symptome zu lindern – ich möchte heilen!

Dabei hat sich gezeigt, dass ich dissoziative Fähigkeiten entwickelt habe.
Das ist insofern völlig normal, als Menschen, die traumatische Situationen erleiden, die unerträglichen Emotionen, die damit einhergehen, immer „abspalten“ – sie verschwinden einfach aus ihrem Bewusstsein.
Für mich bedeutet das, dass ich Erinnerungen habe, die sich völlig „neutral“ anfühlen, ich kann keinerlei Emotion damit in Verbindung bringen. Ich kann mir zwar vorstellen, wie ein Mensch in dieser Lage sich fühlen muss, aber ich selbst empfinde nichts.

So, wie es aussieht – oder sich für mich anfühlt – habe ich nicht nur Emotionen „abgespalten“, sondern auch Teile meiner Persönlichkeit.
Auch das ist eigentlich völlig normal: Wir alle haben verschiedene Persönlichkeitsanteile.
„Das innere Kind“ oder „der innere Kritiker“ zählen zu den Klassikern. Wir alle agieren im Beruf anders, als wir das als Freund:in, Partner:in, Mutter oder Vater tun würden. Und manchmal merken wir, dass es nach einem harten Arbeitstag schwierig ist, in eine der „privaten“ Rollen zu schlüpfen.
Bei traumatisierten Menschen, kann diese Aufteilung in verschiedene Anteile sehr viel ausgeprägter sein, bis hin zu dem, was früher „multiple Persönlichkeit“ genannt wurde: Eine Gruppe voneinander komplett unabhängiger Persönlichkeiten, die einen Körper bewohnen.

Ich selbst bin – soweit ich sagen kann – grundsätzlich „zu Hause“, bekomme also mit, was vor sich geht, bin aber nicht immer Hauptakteurin. Mit Hilfe von Psychotherapie, Hypnose, Meditation und Yoga versuche ich, zu meinen Anteilen in Kontakt zu treten – ins Gespräch zu kommen sozusagen – und gemeinsam zu heilen. Dazu gehört unter anderem, meine Erinnerungen wieder mit den dazugehörigen Emotionen zu verknüpfen. Das schmerzt herzzerreißend. Und es macht Angst, weswegen ich in letzter Zeit wieder häufiger von Panikattacken heimgesucht werde.
Und nach der Psychotherapie regelmäßig mit Schmerzschüben auf der Nase liege.
Traumata finden sich nicht einfach nur im Gehirn wieder, sondern in jeder Zelle des Körpers – der Körper hat sozusagen sein ganz eigenes Gedächtnis. Nur so sind transgenerationale Traumata zu erklären und deswegen zieht jede Form der Trauma-Heilung auch den Körper in Mitleidenschaft.

Wenn es richtig gut läuft, wir in der Therapie also große Fortschritte machen, bin ich anschließend zwei bis drei Tage lang krank: Erschöpft, als hätte ich mit einem Bären gerungen, Schmerzen, als hätte ein Elefant auf mir herumgetrampelt, die Aufmerksamkeitsspanne eines Kolibris.

Egal.
Das ist es mir wert!

Buchtips zum Thema

Bessel van der Kolk „verkörperter Schrecken“
Tom Holmes „Reisen in die Innenwelt“
Thich Nhat Hanh „Versöhnung mit dem inneren Kind“
David Emerson, Elisabeth Hopper „Trauma-Yoga
Matt Ruff „Ich und die anderen

Mein Freund der Baum

Als die weise Meditierende bei unserem vorerst letzten Treffen zur gemeinsamen Achtsamkeitspraxis ein Experiment vorschlägt, spüre ich, dass einige Angst bekommen, lasse mich aber darauf ein, weil ich andererseits auch neugierig bin und nichts verpassen möchte.
Aglaia ist sofort bei mir – sie wirkt alarmiert.

Aber es beginnt ganz harmlos: Wir sind eingeladen, uns einen Baum vorzustellen. Es kann ein Baum sein, den wir kennen, oder einer, den wir in unserer Phantasie erstehen lassen. Ich muss spontan an die große Steineiche denken, den schönsten Baum des Hofes. Andererseits sind dort die Hunde begraben … ob das eine gute Idee ist? Birken mag ich auch! Vielleicht lieber eine Birke?

Das Bild der Steineiche schiebt sich immer wieder in den Vordergrund. Nun denn … immerhin kann ich diesen Baum deutlich vor mir sehen.

Es ist eine kontemplative Übung, eine Betrachtung.
Wir beginnen damit, die Wurzeln des Baumes zu betrachten, die ihm Halt und Sicherheit geben, aus denen er seine Kraft zieht, und stellen uns die Frage, was unsere eigenen Wurzeln sind.
Unsere Familie vielleicht, oder die Kultur, in der wir aufgewachsen sind.
Über meine familiären Wurzeln möchte ich lieber nicht nachdenken, so viel ist sicher!
Kultur? Seit ich im Ausland lebe, weiß ich, dass ich sehr viel deutscher bin, als ich immer dachte – aber grad ist das auch keine Hilfe.
Steineichen wurzeln tief, denn der Boden, in welchem sie gedeihen, ist karg und trocken. Sonderlich nährend kommt mir das jetzt auch nicht vor.
Mir wird bewusst, dass Traumata den Betroffenen all das nehmen: Das Gefühl, verwurzelt zu sein und Halt zu finden. In Sicherheit zu sein. Kein Wunder, dass ich mit dem Bild nicht klarkomme!
Die Erkenntnis tut weh und Aglaia macht sich bemerkbar: Dunkelheit breitet sich aus und ich bekomme Schmerzen. Ich versichere ihr, dass ich vorsichtig sein werde.
Wenn ich keine Wurzeln habe, dann will ich mich jetzt und hier in diesem Boden verwurzeln, mich mit dem Stück Land verbinden, auf welchem ich im Laufe der letzten Jahre Halt und Sicherheit gefunden habe!

Der Stamm steht für unsere Fähigkeiten, unsere Ressourcen.
Schreiben! Schreiben, gar keine Frage, ist eine meiner wichtigsten Ressourcen! Kreativität überhaupt. Und ich habe Humor. Der hilft – auch wenn er zur Not schwarz ist.
Nun hat so eine alte Steineiche einen ziemlich mächtigen Stamm … vielleicht hätte ich mir lieber einen Schößling ausdenken sollen.

Die Äste sind unsere Visionen und Wünsche.
Die Blätter Menschen, die uns etwas bedeuten, oder bedeutet haben. Die wir, oder die uns geliebt haben.
Und die Früchte Geschenke, die wir erhalten oder gemacht haben.
Ach herrje … was das betrifft hätte ich ein Gewächs vom Format einer Wünschelrute gerade so eben bewältigt.
Dieser prachtvollen Baumkrone mit den silbrig schimmernden Blättern, die im Wind rauschen, aus der es Unmengen von Eicheln regnet, werde ich nicht im Ansatz gerecht.
Mein selbstgewähltes Eremitinnendasein kommt mir plötzlich verarmt und traurig vor.

Die Schmerzen werden immer heftiger und ich erwäge, die Übung abzubrechen.
Andererseits weiß ich aus der Yoga-Praxis, dass solche Abbrüche sehr irritierend wirken können – es ist sinnvoll, sich sowohl für den Ein- als auch für den Ausstieg Zeit zu nehmen.
Also beschließe ich, der Baum zu sein!
Meine Füße sind fest in diesem kargen Boden verwurzelt, meine Wurzeln erstrecken sich durch das ganze Gelände! Mein Stamm ist stark, meine Arme sind erhoben und meine Hände berühren den Himmel! Die Hunde schlafen zu meinen Füßen und ich umspanne den Hof und alle, die ihn bewohnen!

Dieser Kraftakt erschöpft mich ganz und gar und ich warte verzweifelt auf das Ende der Meditation.
Es kommt in Form der Metta-Sätze.
„Echt jetzt? Das AUCH noch?“
Das klingt nach „T“ und ihren despektierlichen Bemerkungen, aber ausnahmsweise verstehe ich sie. Ich kann nicht mehr!
Wir einigen uns darauf, mit halbem Ohr zuzuhören und uns einfach dem Ende der Veranstaltung entgegentreiben zu lassen.

Ich bin zutiefst dankbar für diese Erfahrung: Für die Erfahrung, dass es in der Achtsamkeitspraxis möglich ist, schmerzhafte und verstörende Empfindungen wahrzunehmen und anschließend weiterzugehen.
Wie erschöpft ich bin, merke ich, als ich kurz darauf versuche, eine Treppe hochzusteigen: Mir zittern die Knie.

Traumfrau

Die weise Hebamme aka Psychotherapeutin im Nachbarort hat mir vorgeschlagen, über meine Träume zu sprechen.
Zwar glaube ich durchaus, dass manche unserer Träume uns etwas sagen wollen, und ich schreibe sie schon seit vielen Jahren auf, aber jetzt bin ich skeptisch.
Traumdeutung? Ich weiß ja nicht …
Andererseits: Warum nicht? Ein Versuch kann ja nicht schaden!

Ich übersetze einen meiner Träume, der mir interessant erscheint, ins Französische und drucke den Text aus. Um meinen Traum zu erzählen, müsste ich nicht nur die neuen Vokabeln pauken, sondern mir auch diverse grammatische Verwicklungen merken. Ich müsste den Text quasi auswendig lernen.
So geht es schneller.

Das Gespräch führen wir nach wie vor hauptsächlich auf Englisch. Das ist mühsam, weil wir dann beide nicht unsere Muttersprache nutzen und immer wieder durch Rückfragen klären müssen, ob wir einander richtig verstanden haben. Aber ich bin schon froh, dass wir überhaupt eine gemeinsame Sprache sprechen!

Der weitere Verlauf ist völlig anders, als ich mir das vorgestellt hatte.
Ich hatte irgendetwas in Richtung „Wenn Sie von einem weißen Pferd träumen, dann bedeutet das, dass sie ein problematisches Verhältnis zu ihrem Vater haben!“ erwartet; in etwa das, was in Zeitschriften gleich links von den Horoskopen zu lesen ist.
Unterdessen beschämt mich mein mangelndes Zutrauen in ihre Fähigkeiten.

Wir gehen den Traum ganz langsam, Schritt für Schritt durch und sie stellt mir Fragen dazu:
Erkenne ich Personen oder Orte wieder? Kann ich sie beschreiben? Habe ich eine solche Situation schon einmal erlebt? Was fällt mir ein, wenn ich an ein bestimmtes Detail denke?
Es ist sozusagen freies Assoziieren entlang des roten Fadens meines Traumes und ich bin überrascht, wie viele Erinnerungen dabei auftauchen.

Je intensiver ich mich mit meinen Träumen beschäftige, desto detaillierter wird meine Erinnerung daran. Dass ich sich wiederholende Träume habe, weiß ich schon lange, aber erst jetzt fällt mir auf, wie viele Details immer wieder auftauchen. Gleichzeitig beobachte ich, dass die regelmäßig wiederkehrenden Träume jetzt andere Verläufe nehmen – ganz so, als würde mein Handlungsspielraum sich vergrößern.

Unsere Gespräche über diesen Traum, die sich über mehrere Sitzungen hinziehen, sind eher unterhaltsam, als schmerzlich. Oft muss ich selbst im Englischen Hände und Füße zur Hilfe nehmen, um mich verständlich zu machen. Wir lachen viel.
Ich mag die weise Hebamme gut leiden und fühle mich sicher bei ihr.
Dennoch bekomme ich mit der Zeit mehr und mehr Angst vor unseren Treffen.

Bei einem der letzten Termine schaffe ich es gerade so eben, Contenance zu wahren, solange ich im Wartebereich sitze. Kaum schließt sich die Tür hinter mir, bekomme ich eine der heftigsten Panikattacken meines Lebens.
Sie rät mir, loszulassen, der Attacke ihren Lauf zu lassen.
Und ich antworte „Wenn ich das tue, bricht alles auseinander. Dann werde ich verschwinden.“

Nach meinen Treffen mit der weisen Hebamme suche ich stets einen weisen Mann auf: Es ist der Physiotherapeut, dessen Behandlungsräume gleich neben ihrem liegen.
Ich kenne ihn schon seit einigen Jahren. Er spricht ausschließlich Französisch, ist aber in der Lage, meine Beschwerden mit seinen Händen zu orten, selbst wenn ich sie nicht beschreiben, sondern nur mit dem Finger dahin deuten kann, wo es wehtut.
Er ist „eingeweiht“: Er weiß, dass ich gerade aus der Psychotherapie komme und unter Umständen in schlechter Verfassung bin.

Manchmal „berührt“ er das Trauma in meinem Körper, dann bekomme ich Angst, mir wird übel, oder ich beginne zu dissoziieren. Die weise Hebamme hat ihm erklärt, dass das passieren kann.
In solchen Momenten rede ich mir selbst gut zu: Dass wir diesen Mann schon lange kennen. Dass er weiß, was er tut, und wir ihm vertrauen können. Das hilft.

An diesem Tag bitte ich ihn, einfach irgendetwas zu tun, damit ich ruhiger werde.
Er hilft mir, entspannt und tief zu atmen.
An besseren Tagen übt er während der Behandlung Französisch mit mir.

Überflüssig zu erwähnen, dass ich nicht mehr selbst Auto fahre: Ich muss mich fahren lassen.

Über die Zeit lässt die Angst vor den Therapiesitzungen nach und ich sehe meinem nächsten Termin geradewegs gelassen entgegen.
Abgesehen davon allerdings, dass es mir gelingt, mich so geschickt im der genauen Uhrzeit zu irren, dass es mir um ein Haar gelungen wäre, nur zur Physiotherapie zu müssen.

Eine halbe Stunde immerhin haben wir noch!
Die weise Hebamme beginnt, mir ihre Interpretation meines Traumes zu schildern.
Dann geht alles ganz schnell: Tränenausbruch, Schnappatmung, der Tinnitus kreischt in meinen Ohren, so dass ich sie kaum noch hören kann. Ich bekomme einen Tunnelblick, an den Seiten wird es schwarz. Und ich spüre, wie ich neben meinen Körper trete. Ungefähr so, als sei ich mein eigenes Lenorgewissen, allerdings habe ich Sorge, dabei vom Stuhl zu fallen.

„Loslassen“ kann ich das nicht, aber ich bemühe mich, nicht die Luft anzuhalten, sondern wenigstens in Bruchstücken rauszuquetschen, was mir passiert.

Mir kommen in diesem Moment keine Erinnerungen ins Bewusstsein, es überwältigen mich keine Emotionen … ich bin nur Körper. Und – als die Attacke abklingt – absolut ratlos.
Ich begreife überhaupt nicht, was mir da passiert ist!

Traumata vererben sich über mehrere Generationen.
An vieles habe ich keine Erinnerung, aber sie steckt in meinem Körper.
Insofern scheint es mir folgerichtig, dass die „Aufarbeitung“ ebenfalls in meinem Körper vonstatten geht.
Danach fühle ich mich sehr ruhig. Und ich bin unglaublich müde.
So müde, dass ich auf der Liege des Physiotherapeuten beinahe einschlafe.

Das, was wir bis zu diesem Moment besprochen haben, war übrigens lediglich der Beginn eines langen, detailreichen Traumes.
Der Beginn einer Mischung aus Geister- und Achterbahnfahrt.