Warum Victim Blaming mich ungeheuer wütend macht

Ich war (und bin) im Verlauf der Diskussion um die Vorfälle bei Rammstein-Konzerten zunächst irritiert und dann angepisst bis zum Brechreiz von all den Frauen, die sich unverhohlen an Victim Blaming und Täter-Opfer-Umkehr beteiligen.
Bei Männern kotzt mich das auch an, aber es überrascht mich nicht (an dieser Stelle ein großes SORRY an meine Freunde, die ich da ganz anders erlebe!), bei Frauen macht es mich fassungslos.
Sollten wir einander nicht eigentlich unterstützen?

Thanks to Kayla Shyx habe ich jetzt immerhin eine Theorie, wie es dazu kommen kann.
Sie beschreibt in ihrem Video sehr eindrücklich, dass die Erfahrung sexualisierter Gewalt mit erheblichem Kontrollverlust einhergeht. Deswegen überhaupt ist sie ja traumatisch: Weil Frauen dem, was ihnen passiert, in diesem Moment hilflos ausgesetzt sind.
Und nee … Sich erfolgreich gewehrt zu haben, macht die Sache nicht zwingend besser: Häufig geht die Gewalt ja von Menschen aus, denen wir vertraut haben. Auch das hinterlässt Wunden.
Sich das einzugestehen, ist hart. Selbst Frauen, denen ES passiert ist, fällt das schwer: Lieber spielen sie das Ereignis herunter, oder suchen die Schuld bei sich selbst.

Wenn ich nun einmal annehme, mir selbst sei noch nichts dergleichen zugestoßen, dann ist es natürlich eine feine Sache, mir diesen Umstand damit zu erklären, dass ICH eben nichts falsch gemacht habe!
Die ANDEREN waren naiv, sind mitgegangen, hätten wissen müssen, „dass“, hatten das Falsche an, haben das Falsche getrunken, haben die falschen Signale gesendet.
MIR unterlaufen solche Fehler nicht und also bin ICH sicher!
Den Opfern sexualisierter Gewalt die Schuld in die Schuhe zu schieben, mich von ihnen abzugrenzen, ist eine 1-A-Möglichkeit, mir einzureden, dass ICH jederzeit die Kontrolle habe!
Und Mädels: Ich würd’s Euch ja gönnen! Ich wünsche Euch so sehr, dass Ihr diese Sorte Kontrollverlust niemals erleben müsst!
Aber glaubt mir bitte: Die Statistik arbeitet gegen Euch!
Es sind nicht die Naiven unter uns, die in den kurzen Röcken, die in den dunklen Straßen, nicht die Wilden und nicht die Zugedröhnten, nicht einmal die jungen.
Sexualisierte Gewalt kann jede von uns treffen!

Mich persönlich rühren die Diskussion und das Video von Kayla Shyx sehr an, weil ich in dieser Frage bis heute keinen Zugang zu meinen eigenen Gefühlen habe. Ich habe ungute Erinnerungen, ich weiß, dass mir Sachen passiert sind, die nicht okay waren, aber die dazugehörigen Emotionen sind verloren gegangen (der Fachbegriff dafür ist Dissoziation). Deswegen will ich bis heute „Ach, was mir passiert ist, war nicht so schlimm!“ sagen, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt.
Ich bin fast 60 Jahre alt und chronisch krank an Körper und Psyche. Und ich fange JETZT an, all das in einer Therapie aufzuarbeiten!

Wenn Ihr also mal wieder an Eurer Illusion von Sicherheit und Kontrolle arbeitet, indem Ihr Opfer von Gewalttaten die Schuld zuschreibt, oder womöglich gleich behauptet, sie würden lügen oder wollten sich nur wichtig machen, dann macht Euch bitte klar, dass Menschen wie ich Euch hören.
Ihr glaubt MIR nicht. Ihr sagt MIR, da sei ich wohl zu vertrauensselig gewesen (by the way …was zur Hölle ist falsch daran, anderen Menschen zu vertrauen?), hätte die falschen Klamotten angehabt, falsche Signale gesendet, hätte doch wissen müssen, was mir blüht.
Nein, verdammt! War ich nicht und habe ich nicht!

Aber nicht nur, dass Ihr diese Illusion auf dem Rücken von Frauen wie mir konstruiert, Ihr sorgt außerdem dafür, dass das Bild von der Frau die „selbst schuld ist“ immer weiter existiert. Ihr sorgt mit dafür, dass Frauen sich schämen, statt sich zur Wehr zu setzen. Ihr tragt dazu bei, dass sexualisierte Gewalt für die Täter weiterhin kaum bis gar keine Konsequenzen hat.

Ihr solltet Euch schämen!

Volare

Ein Ort in meinem Körper, an dem mich mich meistens wohlfühle, ist meine Schädeldecke. Schmerzen empfinde ich hier nur dann, wenn ich wieder einmal die Höhe eines cévenolen Kellereinganges falsch eingeschätzt habe: Dann allerdings schmerzt es enorm! Und eine Beule bildet sich auch.
Ansonsten fühle ich meinen Scheitel. Es ist kühl, angenehm und prickelt ein bisschen.

Der Mann im weißen Kittel möchte wissen, wie genau diese Stelle sich anfühlt.
Nun … rund und flach … wir reden schließlich von meiner Schädeldecke.
Hart … weich … was weiß denn ich?
Aber wenn er schon unbedingt wissen will, welche Farbe dieser Ort hat, dann ist das Ding grün!

Ich bin genervt. Die Führung durch die Hypnose stört mich mehr, als sie hilft: Schon bevor ich mit Hypnose angefangen habe, habe ich einen fächerförmigen Bodyscan vom Kopf beginnend geübt – er dagegen scheucht mich von den Füßen zum Kopf hin. Und er redet mir zu viel. Wie um alles in der Welt soll ich mich dabei konzentrieren?

Den „Wohlfühlort“ oben auf dem Kopf zu verorten, ist praktisch: Von da aus kann ich das Gefühl einfach „am Körper herab fließen lassen“. Wasser allerdings fließt zu schnell, besser sind zähflüssige Dinge wie Honig oder Sirup.
Da passt nun aber die Farbe nicht: Schließlich hab ich mich ja auf „grün“ festgelegt …
Als ich ein Kind war, gab es „Slime“: Einen giftgrünen, ekligen Glibber, dessen einziger Nutzen darin bestand, giftgrün und eklig zu sein, und zu tun, was Glibber so zu tun pflegt – der Schwerkraft folgend herumzuglibbern.
Ich kippe mir also beherzt einen Becher „Slime“ über den Kopf. Autosuggestion ist alles: Was da an mir herabrinnt, ist kühl. erinnert an Meerwasser und prickelt angenehm auf der Haut!
Das klappt recht gut bis der Mann im weißen Kittel die Anweisung gibt, einer meiner Arme – rechts oder links – möge leichter werden.

Dabei ist der Schleim gerade mal an meinen Schultern angekommen!

Nun gut … eigentlich ist meine linke Körperhälfte diejenige, die gut „ansprechbar“ ist.
Ich „steuere“ also meinen linken Arm an und frage nach „Leichtigkeit“. Die Antwort – in ihrer höflichsten Übersetzung – lautet „Geh weg!“ …
So wird das nichts. Ich disponiere um und ersetze herunter rinnenden Schleim durch aufsteigendes Wasser.
Das funktioniert!
Ich stelle mir vor, wie der Wasserspiegel steigt,meine Arme allmählich anhebt und schließlich meinen ganzen Körper trägt. Ich schwimme unheimlich gern und natürlich kann ich mit dem „toten Mann“ etwas anfangen!

Er seinerseits blättert in seinen Unterlagen. Ist dem langweilig???
Ich versuche, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten, ruhig zu atmen und die Erfahrung unter „Hypnose unter erschwerten Bedingungen“ zu verbuchen.

Als ich gerade Wellenbewegungen „zuschalte“ und beginne, mich so richtig wohlzufühlen, bringt der Mann im weißen Kittel die Paraglider ins Rennen …
Die habe ich selbst als Symbol für „Leichtigkeit“ ausgewählt.
Allerdings liege ich gerade auf dem Rücken … das tun Paraglider nicht.
Ich wälze also das Bild meiner selbst mit der gebotenen Vorsicht herum und gleite nunmehr durch die Luft. Das klappt insofern ziemlich gut, als ich den Aussichtspunkt, von dem aus die Paraglider in der Realität starten, sehr gut kenne. Der Blick nach unten ist mir vertraut, auch wenn ich nie selbst geflogen bin.

Jetzt ist er um den Schreibtisch herum gegangen und tippt auf seiner Tastatur. Was denkt der sich eigentlich??? Gut, dass ich die Augen geschlossen habe – so sieht man nicht, wenn ich sie rolle.
Erstaunlich, dass ich trotz meiner Erbitterung immer noch schwebe!

Aber es ist doof, ein Gleitschirm zu sein! Auch wenn er grün ist …
Ich lade Aglaia ein, mitzufliegen.
Ihr Symbol ist der Rabe. Ganz sicher vermag das Schwarz ihrer Federn in Grün zu changieren!
Sie breitet ihre Schwingen aus und ich kann den Luftzug darunter spüren.
Ich kreise über dem Gipfel, dann steuere ich solche an, die schneebedeckt sind. Ich genieße die eisige Kälte!
Dann jedoch lasse ich mich zu Tal tragen, falte meine Schwingen.
Als der Mann im weißen Kittel mich ins „Hier und Jetzt“ zurückführt, bin ich längst dort angekommen.
Besser ist das: Mitten im Flug meine Füße auf dem Boden zu spüren, hätte mich vermutlich in Schwierigkeiten gebracht.

Erst auf dem Heimweg wird mir klar, dass ich diesmal keine Angst bekommen habe. Nicht einmal dann, als ich so tief in Trance war, dass ich meine Arme sanft davon abhalten musste, sich tatsächlich auszubreiten: Durch das Geraschel und Getippsel wusste ich die ganze Zeit, wo der Mann im Raum! ist und was er gerade tut.

Sonnenfinsternis

Bei unserer nächsten Begegnung führt der Mann im weißen Kittel mich erneut in meinen safe room und leitet dort einen Bodyscan an. Ich selbst nehme mir gewöhnlich mehr Zeit dafür, aber ich habe geübt: Mittlerweile produziere ich vermutlich schon Alphawellen, sowie ich mich aus der tatsächlichen Welt verabschiede.

Nun soll ich in mich hinein fühlen: Wo in meinem Körper fühle ich mich besonders wohl?
Das geht dich einen Sch****dreck an!“
Hoppla! Gut, dass ich das nicht laut gesagt habe …

Ich einige mich mit mir darauf, dass er von der Sonne in meinem Bauch, die ich während der Meditation dort verortet habe, wissen darf.
Ja, ich weiß, welche Form sie hat.
Und ja, auch, welche Farbe!
Als ich sie berühren soll, muss ich kurz nachdenken: Sonnen sind sehr sehr heiß!
Aber es ist meine Sonne – ich werde mich nicht verbrennen.

Alles weitere erinnert sehr an die Anleitungen der weisen Meditierenden: Ich lasse das Licht meiner Sonne den ganzen Körper durchströmen.
In einem sicheren Raum funktioniert das ungleich besser: Mein Körper entspannt sich, während er sich gleichzeitig aufrichtet. Ich beginne zu lächeln.

Bist du irre? Der Typ sitzt direkt neben dir und du bist völlig weggetreten!“
Laut teile ich mit, dass ich Angst bekomme.
Der Versuch, mich in meinen sicheren Raum zurückzuführen scheitert: Ich bin angespannt wie eine Bogensehne und bitte, die Hypnose zu beenden.
So viel self care immerhin ist mir möglich.

Der Mann im weißen Kittel erklärt mir, dass er da ist, um meine Sicherheit während der Hypnose zu gewährleisten.
Ich meinerseits versuche zu erklären, dass ich das im Kopf völlig klar habe, dass aber jemand durchaus anderer Meinung ist.
Keine Ahnung, ob er das nachvollziehen kann …
Auf mich wirkt er eher, als nehme er das persönlich.

Egal. Normalerweise übe ich ja allein.
Und zunächst klappt das sehr gut! Dann jedoch beginnt die Sonne in meinem Bauch sich zu verändern. Sie wird schwarz und es gelingt mir nicht, sie wieder leuchten zu lassen.
Zunächst fühle ich mich an eine Sonnenfinsternis erinnert und ich versuche, zumindest den Strahlenkranz leuchten zu lassen. Später allerdings kommt meine Sonne mir eher wie ein schwarzes Loch vor. Beides scheinen mir mächtige Symbole zu sein.

Ein schwarzes Loch saugt alle Energie in sich hinein … und Energie ist genau das, was mir fehlt!
Ob ich sie wohl entfesseln kann?
Ich beschließe, offen zu sein, zu experimentieren … kann ich anstelle von Licht auch Kraft durch meinen Körper strömen lassen?
Ich kann! Aber das Ergebnis ist nicht angenehm. Ich fühle mich unwohl und habe einige Mühe, in meinen safe room und von da aus in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Ich bitte eine liebe Freundin um ihren Rat. Wir kennen einander aus meiner ersten Therapie – also sozusagen schon ewig – sie ist heute Psychologin und setzt ebenfalls Hypnose ein.

Sie rät mir, meinen sicheren Raum noch weiter abzusichern. Das hatte ich intuitiv schon recht gut gelöst, die Details aber „geschlabbert“ als mit der Suche nach einem „Wohlfühl-Bereich“ und dessen Ausdehnung eine weitere Aufgabe hinzukam.

Die Details eines solchen sicheren Raumes faszinieren mich sehr.
Die ursprüngliche Anleitung lautete „was ist rechts von mir, was geradeaus und was links?“, „was kann ich hören, was riechen?“.
Da mein sicherer Raum tatsächlich existiert und mir sehr vertraut ist, kann ich ihn ganz detailliert vor meinem inneren Auge erstehen lassen, aber nicht jedes Detail ist gleich wichtig und es kommen – so wie im Falle des zartgelben Kissens – auch solche hinzu, die eine wichtige Rolle spielen, ohne tatsächlich existent zu sein. Andere – wie ein Kruzifix in der Zimmerecke – sind zwar da, haben aber eine ungute Wirkung, weswegen ich sie lieber nicht anschaue.
Bunte Perlen in der Nähe des Fensters, die das Sonnenlicht einfangen, kann ich nutzen, um Licht in die Dunkelheit zu bringen, eine Patchwork-Decke hilft mir, meinen Körper zu fühlen. Von anderen Details weiß ich noch nicht, wie sie mir helfen können.

Klingt wie eine Mischung aus „Monkey island“ und „Der Herr der Ringe“.
Scheint aber zu funktionieren.

Patricia

… und der Versuch, etwas über meine Erkrankung zu erfahren

Wenn es um die Frage geht, ob ich meine Anliegen medizinischer Natur vertrauensvoll zu ÄrztInnen trage, oder mich doch lieber auf mich selbst und diverse Internet-Recherchen verlasse, bin ich ein ums andere Mal vollkommen hin und hergerissen.

Früher, als noch alles gut und sowieso mehr Lametta war, wäre es mir gar nicht in den Sinn gekommen, meine eigenen Symptome zu recherchieren – auch dann nicht, als das Googeln schon erfunden war. Ich fand, damit mache man sich erstens bestenfalls selbst verrückt, und zweitens sei Medizin ja nicht ohne Grund ein Hochschulstudium.

Und eigentlich finde ich das immer noch. Ich möchte das finden: Ich wünsche mir eine Medizin, die nicht nur auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse arbeitet, sondern außerdem Fach-oder gar Nischen-Expertise mit einem ganzheitlichen Ansatz vereint. Für die interdisziplinäre Arbeit eine Selbstverständlichkeit ist. Die bei aller Wissenschaftlichkeit den Menschen nicht aus dem Auge verliert.
Kurz: Die eierlegende Wollmilchsau.

Solange ich an solchen Beschwerden und Erkrankungen gelitten habe, die unkompliziert zu diagnostizieren und zu behandeln waren, hat mein Bedauern über das offensichtliche Fehlen eines solchen Wundertieres sich in Grenzen gehalten – es handelte sich um ein sogenanntes PAL („Problem anderer Leute“ – Näheres hierzu ist in Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“ nachzulesen). Wenn ich auch einräumen muss, dass die Endometriose, der Glomustumor und die Makuladegeneration geringfügig flotter hätten diagnostiziert werden können (siehe: Blindfisch) …

Sei’s drum … so richtig blöd ist es erst geworden, als die Symptome so gar nicht mehr greifbar waren, als alle Zeichen auf „psychosomatisch!“ zu stehen schienen.
In dieser Phase war schon der „Zwischenstop“ bei Borreliose eine ungeheure Erleichterung: Endlich gab es eine Diagnose, die sich ohne Wenn und Aber an den Blutwerten ablesen ließ!
Und es gab eine Therapie!
Nur: Die Symptome blieben …

Borreliose ist in Frankreich nicht als chronische Erkrankung anerkannt – ob dieses Krankheitsbild überhaupt existiert, ist meines Wissens auch in Deutschland umstritten.
Also war ich, was die heißersehnte Diagnose betraf, einerseits austherapiert, und nahm andererseits wieder an der „Verlosung“ teil.

An diesem Punkt habe ich entschieden, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Ich habe recherchiert, gegoogelt, mich Gruppen und Foren angeschlossen … immer auf der Suche nach Möglichkeiten, mir selbst zu helfen (mehr dazu hier).
Darein habe ich eine Menge Zeit und durchaus auch Geld investiert – leider ohne dass allzu viel dabei herausgekommen wäre.

Es ist, wenn man so will, dem französischen Gesundheitssystem zu verdanken, dass meine Bemühungen, mir selbst zu helfen, nicht ganz und gar ungebremst in Richtung Borreliose davongaloppierten: Die Suche ging ja weiter.
Und führte ins noch unerschlossene Land der Fibromyalgie …

Remember? Fibromyalgie war der erste Treffer meiner ersten Google-Suche bezüglich meiner Symptome …
Weil es sich aber um eine Ausschlussdiagnose handelt, habe ich mich nicht im Detail damit beschäftigt. Ich glaube immer noch, dass die Gefahr, Symptome bei sich selbst zu entdecken, umso höher ist, je mehr man sich mit einzelnen Krankheitsbildern befasst …

Aber hier war sie nun, die Diagnose. Und so war ich ganz entzückt, just in diesem Moment über einen kostenlosen Online-Kongress zum Thema Fibromyalgie zu stolpern!
Kongress klang gut! Wissenschaftlich irgendwie … und seriös … geballte Information aus verschiedenen Fachgebieten. Tolle Sache!
Sogleich habe ich mich dafür angemeldet.
Kaum war das erledigt, erreichte mich auch schon eine Mail, die sich versichern wollte, dass ich mein „Geschenk“ (irgendeine pdf) tatsächlich erhalten hätte.
Jo, hatte ich, also habe ich den Erhalt bestätigt.
Und habe damit sozusagen die Büchse des Kongresses geöffnet.

Umgehend wurde ich von meiner Ansprechpartnerin für den Kongress … nennen wir sie Patricia … überschwänglich begrüßt. Sie ließ mich außerdem wissen, dass ich die Kongressinhalte gerne gegen Entgelt erwerben könne. Was ich … nun ja … ein wenig übereilt fand, hatte der Kongress doch noch gar nicht begonnen. Aber offenbar ist Patricia ein außerordentlich zugewandter und fürsorglicher Mensch: Seitdem vergeht kein Tag mehr ohne sie und ihre Mails.

Mit Beginn des Kongresses entpuppte sich Patricia dann auch als dessen Moderatorin, die die Interviews mit den SpezialistInnen führte. Sie ist selbst Ärztin uuuuuuuund: Betroffene!
Honi soit, wer jetzt an gewisse eierlegende Säugetiere denken muss.

Die Aufnahmen von ihr wirkten, als säße sie an ihrem Schreibtisch, halte ihr Smartphone entspannt in den Händen und plaudere hinein … auf charmante Weise unprofessionell. Und vermutlich ganz professionell genau so gewollt: Denn auch wenn Patricia beständig den Eindruck zu vermitteln bemüht ist, sie habe diesen Kongress ganz allein aus dem Boden gestampft, weil das Thema ihr so sehr am Herzen liegt – dahinter steht ein ganzes Unternehmen.
Wie auch immer … vermutlich lag es an der verzerrten Perspektive, dass ihr breites Dauerlächeln wirkte, als habe sie mindestens 20 Zähne mehr, als andere Menschen. Dazu beseelt strahlende Augen und eine liebevoll-heitere Stimme. Verzückung pur.
„Es ist einfach wundervoll, mit unseren SpezialistInnen für Fibromyalgie sprechen zu dürfen!“ trällerte, ach was, jubilierte dies Gesamtkunstwerk unermüdlich, „sie haben wundervolle Erkenntnisse und noch wundervollere Behandlungsvorschläge!“.
Ich gebe zu: an diesem Punkt bin ich innerlich ausgestiegen.

Ich verstehe die Intention: Menschen, die, ebenso wie ich selbst, eine ganze Odyssee an Arztterminen hinter sich haben, die womöglich als HypochonderInnen belächelt und in die Psycho-Ecke gestellt wurden, die schon gar keine Lust mehr haben, sich noch ein weiteres Mal zu erklären, und die Hoffnung auf Linderung ihrer Symptome schon so gut wie verloren haben … solchen Menschen ist es Balsam auf ihre Seelen, endlich einmal liebevoll und voller Optimismus empfangen zu werden.
Wenn ich es mir so recht überlege, möchte ich das auch. Aber nicht von einem Online-Gesamtkunstwerk.

Zu Beginn des Kongresses habe ich mir einzelne Vorträge herausgepickt, die mir interessant erschienen, aber – sorry, Patricia! – bei den meisten bin ich über die Anmoderation nicht herausgekommen. Kaum begannen Deine Augen vor Begeisterung zu rollen, hab ich schaudernd vorspulen müssen und wusste den folgenden Vortrag gleich nicht mehr so recht zu würdigen.
Dein Hinweis in einem der Videos, der nun folgende Experte betreibe eine eigene Fachklinik, in der man sich (eine private Krankenversicherung vorausgesetzt) auch selbst behandeln lassen könne – Du habest es schon ausprobiert und es sei SO wundervoll gewesen! – hat es ehrlich gesagt auch nicht besser gemacht.
Überhaupt befremdet es mich, wenn der eingeladene Experte das Heilmittel, über welches er referiert, auch gleich selbst vertreibt. Im konkreten Fall hab ich das mir noch unbekannte Produkt aus schierer Neugierde gegoogelt: Ein Mittel gegen Husten – oder war’s Halsweh? – welches ganz hervorragend gegen Fibromyalgie wirkt, wenn diese Wirkung auch – leiderleider – bislang nicht nachzuweisen war.
Und so weiter und so fort …
Dass ich einen Teil der angepriesenen Präparate und Nahrungsergänzungsmittel (ulkig, was nicht alles gegen Fibromyalgie und Borreliose hilft!) gleich auf der Kongress-Website hätte bestellen können, hab ich noch zur Kenntnis genommen – ernsthaft beschäftigt hab ich mich nicht mehr damit.

Unterdessen sandte Patricia mir unverdrossen täglich eine Mail. Mindestens eine.
Stets mit dem Hinweis, ich könne das Kongresspaket käuflich erwerben – jetzt noch für NUR X Euro, danach dann für Y! Jeden Tag auf’s Neue. Falls mir das von gestern auf heute entfallen sein sollte …

Zwar hab ich nicht ein einziges Mal versucht, mir die für jeweils 24 Stunden freigeschalteten Videos alle anzuschauen, aber ich vermute, ein Mensch, der noch in der Lage ist, zu arbeiten, hat so viel Zeit nicht zur Verfügung, wer arbeitsunfähig krank ist, bringt die nötige Konzentration womöglich nicht auf.
Wer alle Videos sehen möchte, kommt also nicht umhin, diese zu kaufen.

Nach Ende des Kongresses, nahm ich an, werde die E-Mail-Flut abnehmen … aber weit gefehlt!
Ein Bonus-Tag jagte den anderen, stets mit dem Hinweis, ich könne das Kongress-Paket jetzt noch zum Preise von …
Mich hat das an den Fischverkauf auf Wochenmärkten erinnert, wenn der Marktschreier gegen Ende des Marktes immer noch und noch einen Fisch drauflegt …
Und es nahm kein Ende!

Patricia hat nämlich – Ihr glaubt es nicht! – ein E-Book zum Thema veröffentlicht!
Mein absolutes Highlight war diejenige ihrer Mails, in welcher ich klipp und klar gefragt wurde, was mich eigentlich noch hindert, dieses ver****** E-Book zu bestellen …
Und es hört nicht auf: Ich kriege immer noch Mails.
Klar, ich könnte die abbestellen. Aber ich wollte mal gucken, wie lange diese virtuelle Kaffeefahrt, die die Verzweiflung chronisch kranker Menschen für ihre Zwecke ausnützt, wohl noch andauert.


Sowohl Fibromyalgie als auch chronische Borreliose zählen zu den sogenannten unsichtbaren Erkrankungen, denen Menschen, die nicht betroffen sind, oft mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüberstehen („Wie, du bist krank? Du siehst total gesund aus! Reiß dich mal zusammen!“). Nach wie vor gibt es auch MedizinerInnen, die ihre Existenz schlichtweg bestreiten. Die Symptome sind vielfältig und schränken die Lebensqualität der Erkrankten extrem ein. Beide sind nicht heilbar und die Symptome lassen sich nur bedingt behandeln. Immerhin verlaufen sie nicht tödlich, was möglicherweise eine Erklärung dafür ist, dass Medizin und Forschung nicht alles unternehmen, um ein Heilmittel dafür zu finden. Medizinische Forschung ist teuer und augenscheinlich gibt es Erkrankungen, deren Erforschung lohnender erscheint. Das hat eine gewisse Logik, ist aber schwer einzusehen, wenn man selbst darunter leidet.

An diesem Punkt – wenn die böse Schulmedizin die Menschen „mal wieder“ im Stich lässt – tritt die gute Alternativmedizin zu deren Rettung an.
Mal abgesehen davon, dass der Begriff „Schulmedizin“ aus dem Nationalsozialismus stammt … wenn ich einmal annehme, dass die Pharmaindustrie ausschließlich an Gewinnen interessiert ist, an Fibromyalgie-Erkrankten jedoch nichts verdient, weil die Krankheit als nicht heilbar gilt, es aber HeilpraktikerInnen gibt, die sie dennoch zumindest zu lindern vermögen, indem sie solche Präparate verkaufen, die die selbe geschmähte Pharmaindustrie produziert … halt nur nicht auf Rezept … merkt Ihr selber, gelle!
All die gepriesenen Diäten, Behandlungen und Präparate haben eines gemeinsam: Ihre Wirksamkeit ist nicht nachgewiesen.
Mit ein paar Ausnahmen: Bleichmittel, Terpentin und Wurmkuren haben natürlich nachgewiesenermaßen eine Wirkung. Hier halt nur nicht die erhoffte.

Bin ich also eine gläubige Jüngerin der Schulmedizin?
Ich würde sagen: Nein.
Eher würde ich mich als Rundum-Agnostikerin bezeichnen.

Soll ich Euch mal ein Geheim verraten?
Wisst Ihr, was prima gegen Insektenstiche und die Quaddeln von Brennnesseln hilft?
Draufpinkeln! Ich schwör!
Das wüsste ich nicht, wenn ich nicht bereit gewesen wäre, es mal auszuprobieren.
Nicht alles, was hilft, muss unbedingt aus einem Medikamentenschächtelchen kommen!
Aber ich lasse mir nicht gerne mit windigen Versprechungen das Geld aus der Tasche ziehen. Schon gar nicht mit einer solchen Penetranz.

Das Schweigen der Taucherin

Wenn eine Bloggerin, die von ihrem Leben mit Depressionen berichtet, ganz und gar verstummt, kann das ein Grund zur Besorgnis sein – oder eine gute Nachricht!
Bei mir ist letzteres der Fall: Es geht mir gut. Wenn ich heute einen wirklich schlechten Tag habe, dann habe ich so ziemlich genau das, was gesunde Menschen meinen, wenn sie (zum Missvergnügen derjenigen, die sich mit einer psychischen Erkrankung herumschlagen) „Das kenn ich, das geht mir manchmal ganz genauso!“ sagen.
Der Plan, mein Leben so zu verändern, dass ich es ohne Angst und Depression leben kann, ist aufgegangen. Darüber gibt es nicht mehr groß was zu erzählen.

Stattdessen sind, zu meiner nicht geringen Überraschung, die Ursachen meiner Erkrankung in den Fokus gerückt, von denen ich bisher immer angenommen hatte, sie seien schlicht nicht ausfindig zu machen.
Mit schwarzer Pädagogik habe ich mich eher zufällig und aus einem ganz anderen Grund zu beschäftigen begonnen, merke aber immer wieder, dass entsprechende Literatur irgendetwas in mir trifft, mich weinen macht und aus der Fassung bringt, so dass ich beim Lesen viele Pausen machen muss. Manches scheine ich schon in der Sekunde wieder zu vergessen, in der ich es wahrgenommen habe, gerade so, als wollte mein Gehirn nichts damit zu tun haben.
Dass ich zu den sogenannten KriegsenkelInnen gehöre, den Kindern der Kinder also, die den zweiten Weltkrieg mit tiefen Traumata überlebt haben, war mir bewusst. Wie umfänglich sich dieses „Erbe“ auf das Leben der Betroffenen auswirkt (und wie typisch meine Lebensgeschichte in vieler Hinsicht ist) erlese ich mir erst jetzt. Auch das mit vielen und langen Pausen.

Bis ich hierüber selbst zu schreiben in der Lage bin, wird noch eine Menge Zeit vergehen, dessen bin ich mir sicher.

***

Über mein Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers zu schreiben, schien mir ebenfalls ein lohnendes Unterfangen zu sein, allerdings konnte ich in diesem Moment nicht ahnen, wie zermürbend die nächsten Monate sein würden.
Irgendwann waren alle Ausschlussuntersuchungen gemacht, aber es gab keine Diagnose, sondern immer nur neue, unerklärliche Symptome.

Der bereits bestens bewährte Entengang erweiterte sich um eine Art Hühnerflügel-Position der Arme, die dabei half, im Zweifel das Gleichgewicht zu halten.
Zuweilen hat es sich angefühlt, als würden meine Beine wahlweise über ein paar Gelenke zu viel, oder aber zu wenig verfügen. Wer schon einmal versucht hat, Pedalo zu fahren (zwei etwa fußgroße Brettchen zwischen drei Räder-Paaren, auf denen balancierend man sich, mit einer Bewegung wie beim Fahrradfahren, vor- und zurückbewegen kann), kann sich das Zuviel an Gelenken vermutlich vage vorstellen. Das Zuwenig betraf häufig die Knie, die plötzlich zu fehlen schienen, was zu einer Art Stelzengang führte.
Je zügiger ich (womöglich bergauf) zu gehen versucht habe, desto unkoordinierter und langsamer wurden meine Bewegungen. Bis an schlechten Tagen gar nichts mehr ging.
Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es eine Frage der Konzentration war: Auf dem Hof, wo ich jeden Weg und Steg gut kenne, bin ich die meiste Zeit relativ gut klargekommen. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt jedoch musste ich achtgeben, wohin ich überhaupt wollte, keine PassantInnen anrempeln, eventuelle Hindernisse vermeiden, nicht über die Bordsteinkante stolpern, auf den Verkehr achten … das war viel zu viel, zum halbwegs normalen Gehen haben die Kapazitäten nicht mehr gereicht. Mit jedem Meter bin ich immer langsamer und immer eieriger vorangekommen und ich hab mir oft sehr gewünscht, wie eine ganz alte Dame am Arm geführt zu werden.

Entsprechende neurologische Untersuchungen waren samt und sonders ohne Befund. Bis eine junge Neurologin auf meinen Einwand hin, die zwei Meter ebenen Linoleumbodens in ihrem Untersuchungszimmer könne ich natürlich ohne Probleme überwinden, auf die Idee kam, mich einmal zügig den Gang der neurologischen Station entlanggehen zu lassen.
Zusammen mit meinen Freundinnen Ente und Huhn habe ich auch das prima hingekriegt und bin nur beim Wenden kurz mal aus dem Gleichgewicht geraten. Dann jedoch trat ganz unverhofft aus einem der Untersuchungsräume jemand in meinen Weg. Zumindest schien mir das so – später habe ich mir erzählen lassen, ich hätte reichlich Platz gehabt und einfach weitergehen können.
Die Vollbremsung, die mir in diesem Moment nötig schien, hat mich um ein Haar von den Füßen gerissen, mein Oberkörper kippte zu einer schwungvollen Verbeugung nach vorn, während beide Arme heftig ruderten um dabei nicht lang hinzuschlagen.
Das immerhin machte Eindruck, hinterließ ansonsten aber nichts als Ratlosigkeit.

Als nächstes waren meine Hände betroffen: Wenn ich nicht sehr konzentriert und vorsichtig zu Werke gehe, lasse ich kleine Dinge fallen, oder schleudere sie von mir. In etwa so, wie wenn man versucht, einen Marmeladen-Toast ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen an den Kanten zu halten und ihn stattdessen in eine Salto-ähnliche Drehung versetzt.
Zunächst habe ich mich gewundert, warum in meiner Gegenwart neuerdings so viele Dinge um- oder irgendwo herunter fallen, bis mir klar wurde, dass auch meine Arme ein Eigenleben führen. Weil sie das auch dann tun, wenn ich zum Beispiel Holz ins Feuer lege, verbrenne ich mich regelmäßig. Da trifft es sich gut, dass auch mit meinem Schmerzempfinden etwas nicht in Ordnung zu sein scheint: Ich kann zwar aus dem Umstand, dass es Brandblasen und zuweilen auch Narben gibt, schließen, dass ich mich ganz ordentlich verbrannt haben muss, aber sonderlich weh tut es nicht.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich mit Messern mittlerweile sehr sehr vorsichtig umgehe.

Im Restaurant zu essen hat sehr an herausfordernden Aspekten gewonnen. Ich habe mir zwar angewöhnt, alles, was ich vom Tisch fegen könnte, unauffällig aus dem Weg zu räumen, aber allein die Außenreize (ein unvertrauter Raum, fremde Menschen, Musik) saugen so viel Aufmerksamkeit ab, dass für die Handhabung von Messer und Gabel nicht genug davon übrigbleibt. Ich hantiere ungeschickt und regelmäßig fällt mir auf dem Weg zum Mund das Essen von der Gabel. Blattsalat ist eine Katastrophe.
Ein Gang zur Toilette will gut überlegt sein. Die Restaurants in Alès sind oft recht eng … Ich stehe also zunächst einmal auf (und hoffe, dass keines meiner Beine ausgerechnet jetzt wegknickt) und peile die Lage: Wo zwischen den Tischen muss ich lang? Wo kann ich mich gegebenenfalls festhalten und wo lieber nicht (die Schultern sitzender Gäste zum Beispiel bieten sich zwar an, sollten aber wirklich nur im Notfall gepackt werden)? Kann mir ein/e KellnerIn in die Quere kommen? Das alles will sorgsam geplant sein, bevor ich mich dann ganz langsam auf den Weg mache.

Die Menschen in Südfrankreich, so scheint es, sind entweder sehr ignorant, oder außerordentlich gelassen: Ich habe bisher nie den Eindruck gehabt, angestarrt zu werden.
Es ist mir auch nicht peinlich, so ungeschickt zu sein – oder jedenfalls nur selten: die Momente, in denen mir das Essen von der Gabel fällt, kann ich überhaupt nicht leiden. Ich glaube, die meiste Zeit fehlt es auch für Schamgefühle an den nötigen Ressourcen – dafür bin ich in diesen Momenten schlicht zu beschäftigt. Allerdings scheine ich auch nicht alles selbst mitzubekommen: Wie lange es dauert, zum Beispiel, bis ich mich, nachdem ich aufgestanden bin, um mich besser orientieren zu können, tatsächlich in Bewegung setze.
Aber es ist anstrengend, weil ich alles, was anderen Menschen ganz nebenbei gelingt, mit Bedacht tun muss.

Ich hätte nie gedacht, dass, obwohl keines meiner Symptome unerträglich ist, das schiere „krank sein“ einen Menschen so sehr beschäftigen, ja geradewegs absorbieren kann. Wie ermüdend das ist!
Und ich habe schnell die Lust verloren, darüber zu reden.

 

Was soll ich denn antworten, auf die Frage, wie es mir geht?
„Als ich aufgewacht bin, war mein linker Arm so taub, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Hand zu bewegen. Hab ich mal erwähnt, dass sie bei der Küchenarbeit häufig verkrampft, so dass die Finger stocksteif in alle Richtungen zeigen? Die muss ich dann mit der anderen Hand wieder zurechtbiegen und wenn es ganz arg ist, setze ich mich drauf – dann ist Ruhe. Aber mit der Arbeit komme ich so natürlich nicht voran. Heute hab ich Hilfe gebraucht, um mich im Bett aufzusetzen, aber immerhin bin ich überhaupt vor Mittag in die Gänge gekommen. Apropos Gänge: Das Gehen fällt ein bisschen schwer heute. Aber die Schmerzen sind ganz gut auszuhalten. Manchmal allerdings durchfahren mich Stiche, die so wehtun, dass ich laut aufschreie. Ich weiß nie, wann das passiert, deswegen hab ich immer ein bisschen Angst. Und ich hoffe sehr, dass mir das nicht irgendwann im Yoga-Kurs passiert. Aber dorthin zu fahren schaffe ich es eh nicht oft – wenn das linke Bein richtig zickt, weiß ich ja nicht, ob ich die Kupplung getreten kriege und meinen Armen traue ich auch nicht so recht. Aber sonst geht’s eigentlich.“

Wer um alles in der Welt soll sich das anhören? Und selbst wenn es solche wohlmeinenden Menschen gibt: Variationen dieses Textes wären an jedem verdammten Tag meines Lebens die Antwort. Schlimm genug, dass ich mich damit beschäftigen muss – ich will das nicht auch noch in Worte fassen.

Darüber zu schreiben will auch keine rechte Freude machen und das nicht nur, weil ich es selbst schon lange nicht mehr hören kann. Ich kann mich auch nicht mehr schreiben hören: Bisher sind die meisten meiner Texte entstanden, während ich eigentlich etwas anderes getan habe – spazieren gehen oder Auto fahren zum Beispiel. Anschließend musste ich sie nur noch abtippen.
Aber abgesehen davon, dass ich zu beidem nur noch selten in der Verfassung bin, scheinen die Worte in der anschließenden Erschöpfung zu verfliegen. Sie verschwinden meist lange bevor sie den Weg über die Tastatur finden.

Und sie stolpern in erschreckendem Ausmaß.
Es ist nicht bei Buchstabendrehern oder gänzlich verwirbelten Kombinationen geblieben, sondern ich habe begonnen, Wörter völlig willkürlich durch andere zu ersetzen. Wörter mit drei Buchstaben zum Beispiel finden ganz und gar beliebig Verwendung. Zuweilen wirkt es, als hätte ich eine eingebaute Spracherkennung mit Gehörschaden – ich schreibe mehr, wenn ich Meer schreiben will, oder nähen statt Mähne, wobei die Groß- und Kleinschreibung witzigerweise stets korrekt ist. Beim Buchstabieren der Worte selbst allerdings hapert es, das mache ich plötzlich so, wie man es spricht: neulich zu meinem Entsetzen unfähr statt unfair.
Für einen Rechtschreib-Freak wie mich, der Postings in Social Media gewohnheitsmäßig Korrektur liest, bevor die Enter-Taste gedrückt wird, ist das die Hölle auf Erden.
Es ist mir peinlich und es macht mir Angst.
Bis jetzt bemerke ich die meisten Fehler schon beim Schreiben und bei den wenigen, die ich tatsächlich übersehe, weiß außer mir ja niemand, dass es nicht die Autokorrektur ist, die da blühenden Unfug produziert, sondern mein Gehirn.
Was aber, wenn mir das nicht mehr gelingt?

Ich hätte mir, wird mir allmählich klar, sehr darin gefallen, darüber zu schreiben, wie ich mit einer chronischen Erkrankung zurechtkomme. Aber ich muss feststellen, ich komme nicht zurecht. Jedenfalls nicht so, dass ich etwas Kluges, Durchdachtes, oder gar Wegweisendes zu diesem Thema zu sagen hätte. Wenn es eine Diagnose gäbe, stelle ich mir vor, wüsste ich, womit ich es zu tun habe und könnte (hoffentlich) irgendwie damit umgehen. Stattdessen trage ich ein Wischiwaschi von Fachärztin zu Facharzt und hoffe jedes Mal auf’s Neue, dass es diesmal nicht mit einem Schulterzucken endet.
Die derzeitige Hoffnung klammert sich an die Abteilung für seltene Erkrankungen einer Universitätsklinik. Und sie wird eine Weile durchhalten müssen, die Hoffnung: Der Termin ist erst im Herbst.

Der Rat des Rabbis

Ein Mann kam zum Rabbi, um diesem sein Leid zu klagen:
„Es ist unerträglich Rabbi, meine Frau, die Kinder und ich leben in einem einzigen Raum und können uns darin kaum bewegen!“
„Hast du auch Tiere?“, fragte der Rabbi.
„Ja, ich besitze einen Ziegenbock.“
„Dann nimm ihn mit ins Haus! Und komm in einer Woche wieder.“

Nach einer Woche war der Mann vollkommen verzweifelt.
„Es ist grauenhaft, Rabbi! Der Bock stinkt fürchterlich!“
„Nun“, sprach der Rabbi, „stell den Bock wieder in den Stall und komm in einer Woche wieder.“.

Eine weitere Woche später spricht der Mann strahlend vor Freude beim Rabbi vor.
„Ich bin ein glücklicher Mann, Rabbi. Ich besitze ein Haus, so dass all meine Lieben ein Dach über dem Kopf haben. Und es riecht so gut darin!“

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Letztendlich entschließe ich mich, das Antidepressivum zu nehmen.
Nicht etwa, weil ich depressiv wäre – im Gegenteil: Für meinen elenden körperlichen Zustand bin ich erstaunlich guter Dinge. Aber es ist zur Zeit die letzte Option, die ich noch nicht probiert habe und es besteht die Hoffnung, dass es die Schmerzen lindert.
Die Ausschlussdiagnosen sind bis auf weiteres abgeschlossen: Augenscheinlich erfreue ich mich bester Gesundheit.

Gegen Depressionen wird das Mittel nicht mehr verschrieben, da es solche mit weniger Nebenwirkungen gibt und tatsächlich ist der Beipackzettel von beeindruckender Länge. Ich beschließe, ihn nicht zu lesen: Ich muss nicht alles wissen.

Nicht alles, was ich nun erlebe, ist unangenehm.
Eines Abends höre ich Musik – ganz leise, wie aus großer Entfernung. Wenn im Dorf ein Fest stattfindet, kommt das hin und wieder vor. Allerdings wundert mich, dass es Blasmusik ist. Und es ist auch ein ganz normaler Wochentag …
Die Musik ist nur in meinem Kopf. Ein hübsches kleines Stück, das ich nun häufiger, aber nicht andauernd hören kann.
Es könnte schlimmer kommen, denke ich. Marschmusik zum Beispiel. Oder Trash Metal …

Ich habe kaum noch Schmerzen und kann unmittelbar nach dem Aufstehen aufrecht gehen. Aber so recht genießen kann ich das nicht: Ich stehe nur für ein paar wenige Stunden am Tag überhaupt auf. Mit Müh und Not gelingt es mir, mit dem Hund kurze Spaziergänge zu machen und mich um das Abendessen zu kümmern. Damit ist mein Tagewerk erledigt. Autofahren kann ich nicht mehr.

Ich beginne, die Tage im Kalender abzuhaken: Medikament einschleichen – Normaldosis nehmen – erhoffte Wirkung abwarten (bei Depressionen dauert es ca. 6 Wochen, bis die Wirkung spürbar ist, vielleicht ist es in meinem Fall ähnlich). Bei dem Antidepressivum, das ich früher genommen habe, sind die Nebenwirkungen mit der Zeit immer weniger geworden bis ich sie gar nicht mehr bemerkt habe – jetzt scheint es eher umgekehrt. Und sowie die minimale Frist verstrichen ist, passiert es: Ich vergesse, meine Tabletten zu nehmen. Mangels Schilddrüse und mit Bluthochdruck ist das eigentlich eine zuverlässige morgendliche Routine: Mit der ersten Tasse Tee werden die Tabletten runtergespült. Das scheint mir eine mehr als deutliche Nachricht zu sein: Ich schleich das Zeug wieder aus!

Mit den Schmerzen kommt auch mein Appetit wieder, die Lust, zu schreiben, ein ganz und gar unbegründeter Schub guter Laune und ein wunderbares Gefühl der Klarheit im Kopf. Der Bocksgestank verfliegt.

Montagsmodell V: Immerhin

Der Tag – jeder Tag! – beginnt mit einem Systemcheck:
Was tut alles weh? Wie sehr? Was ist lediglich taub? Vibrationen? Zittern? Kribbeln? Druck?
Kann ich Arme und Beine bewegen? Gelingt es mir, mich von einer Seite auf die andere zu drehen? Wie lange dauert das?
Schaffe ich es, die Teetasse zum Mund zu führen? Ist die Tasse leer, bevor der Tee kalt ist?
Und die Kardinalfrage: Kann ich mich aufsetzen?
Wenn ich das schaffe, bin ich so gut wie aufgestanden!
An guten Tagen dauert das etwa eine Stunde. An schlechten bis zum Mittagessen.

Das ist, auch wenn es ähnlich klingen mag, anders als bei Depressionen. Ich kann dabei durchaus guter Dinge und voller Tatendrang sein. An guten schlechten Tagen, vermag so ein extrem mühsamer Start mir nicht die Laune zu verderben: Es ist halt, wie es ist. An schlechten schlechten Tagen bin ich verzweifelt.

Sei’s drum: Bisher hab ich es noch immer irgendwann geschafft, mich aus dem Bett zu erheben.
Was dann passiert, fühlt sich im ersten Moment gar nicht mal so unangenehm vertraut an. Ich kenne das von den Tagen nach einer Bergtour, bei der man sich ordentlich übernommen hat: Man steht nichts Böses ahnend auf, will den ersten Schritt machen und wird von einer Art Ganzkörper-Muskelkater in die Knie gezwungen. Jault auf, hinkt die ersten Meter und findet dann allmählich zum aufrechten Gang. Bei mir ist jeder Tag post-Bergtour. Deswegen entfällt auch das überraschte Aufjaulen. Und ich brauche ein paar mehr Meter, bis ich halbwegs normal gehen kann – bis dahin sehe ich aus wie eine Mischung aus dem Glöckner von Notre Dame und Laufente Lisbeth.
Das Entenwatscheln begleitet mich zuweilen durch den ganzen Tag: Es gibt mir ein Gefühl von Stabilität, wenn meine Beine unter mir eiern und wackeln. Auf Treppen lehne ich mich gern zur Wand hin: Cevenole Treppen haben keine Geländer …
Immer häufiger erwische ich mich dabei, wie ich eine solche Treppe erst einmal in Augenschein nehme und mich sammle, bevor ich mich an den Auf-/Abstieg mache: Da ich hin und wieder einfach mal das Gleichgewicht verliere und zur Seite kippe, will eine solche Unternehmung gut überlegt sein.

Wobei das mit dem „gut überlegen“ so eine Sache ist: Ich habe enorme Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren und mir Dinge zu merken. Internet-Recherchen zum Beispiel sind ja eigentlich eine höchst komfortable Sache, werden aber ungeheuer mühselig, wenn man innerhalb weniger Minuten vergisst, was man soeben herausgefunden hatte. Ich gehe zum Vorratsraum und habe, dort angekommen, vergessen, was ich da eigentlich wollte. Soweit ist das normal, das passiert jedem! Aber nicht jeder vergisst auf dem Weg, was er überhaupt kochen wollte … Ich bemühe mich, mir hierüber keine zu großen Sorgen zu machen: Immerhin weiß ich noch, dass ich die bin, die hier kocht.
Das hab ich mir aus einer Dokumentation über Demenz gemerkt: „Es ist nicht schlimm, wenn Sie das Essen auf dem Herd vergessen. Wenn Sie vergessen, dass Sie es waren, die das Essen aufgesetzt hat, dann ist es schlimm!“.

IMG_14997-webAllerdings kostet all das eine Menge Zeit: dieses ganze in die Gänge kommen, watscheln, sich sammeln, überlegen … ganz egal, wie emsig ich beschäftigt bin, es kommt äußerst wenig dabei heraus.

Auch das Sprechen fällt merklich schwerer. Manchmal liegt das nur daran, dass eine Gesichtshälfte taub wird und die Lippen sich nicht mehr richtig bewegen lassen. Aber oft fehlen mir einfach einzelne Worte. Und es ist schwierig, einen Satz zu beenden, wenn man mittendrin vergisst, wie er eigentlich begonnen hat. Den größten Unterhaltungswert hat es noch, wenn ich Buchstaben vertausche, obwohl ich einräumen muss, dass mir ein Knaller wie „gefickt eingeschädelt“ bisher nicht geglückt ist.

Noch einmal: Mir ist klar, dass so etwas jedem mal passiert. Aber doch nicht alles davon und ständig!
Ich versuche auch hier, gelassen zu bleiben: Langsam und konzentriert sprechen, Wörter gegebenenfalls wiederholen, Fehlendes umschreiben.

Was mich wirklich frustriert, ist, dass hiervon auch das Schreiben in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich schreibe seit meiner Kindheit, aus Leidenschaft und aus Notwendigkeit. Um mich der und mir die Welt zu erklären. Wenn mich etwas drängt, dann haue ich in einer halben Nacht drei, vier DIN-A-4 Seiten raus, die keiner nennenswerten Überarbeitung mehr bedürfen. Nun liege ich bei 3 bis 4 Sätzen am Abend und davon quäle ich mir jeden einzelnen ab. Einen hohen Prozentsatz an „Drehern“ produziere ich auch hier: Es sind zwar alle zum Wort gehörigen Buchstaben da, aber ihre Reihenfolge ist komplett durcheinandergewirbelt. Wörter mit drei Buchstaben tausche ich mitunter völlig sinnfrei gegeneinander aus. Immerhin bemerke ich meine Fehler noch.
Schreiben ist, neben Kochen, eines meiner größten Talente. Es ist mir wichtig! Kochen geht noch ganz gut …

Ob das alles von der Borreliose kommt?
Man. weiß. es. nicht.
Es gibt einen ganzen Rattenschwanz von Erkrankungen, die die selben Symptome hervorrufen können und deswegen ausgeschlossen werden müssen, damit man nicht womöglich in die falsche Richtung behandelt. Wobei die Meinungen, ob und wie man Borreliose – falls die nun tatsächlich die Ursache sein sollte – überhaupt behandeln kann, auseinander gehen. Weit. Aber bislang ist das noch nicht mein Problem.
Es ist Sinn und Zweck einer Ausschlussdiagnose, dass der Großteil der Untersuchungen ohne Befund ist. Deswegen macht man das ja! Aber es ist auch außerordentlich frustrierend. Als ich kommen sehe, dass gleich der dritte Facharzt sagen wird, aus seiner Sicht sei alles in Ordnung, steigen mir die Tränen in die Augen. Ich habe Schwierigkeiten, nicht vom Stuhl zu fallen, aber sonst ist alles in Ordnung!
Alle um mich herum scheinen eine Menge Zeit zu haben: Dann warten wir mal auf die nächste Untersuchung, den nächsten Bluttest, das nächste bildgebende Verfahren. Und dann auf den nächsten Termin, um die neuen Erkenntnisse (oder deren Fehlen) zu besprechen. Währenddessen vergeht im Entengang mein Leben. Ich fühle mich nicht ernst genommen.
Niemand behauptet, ich sei nicht krank, das nicht. Und nee, ich lieg nicht im Sterben. Aber das ist mein Leben, das da an mir vorüberzieht und ich kann nicht mitmachen. Außer mir scheint das niemand für ein Problem zu halten. Ich fühle mich allein.
Immerhin weiß ich jetzt, dass eines meiner Gelenke eine Anomalie aufweist. Der dicke Zeh am linken Fuß, um genau zu sein …
Das hätte ich sonst womöglich nie erfahren!

Es ist nicht so, dass die ÄrztInnen mir nicht helfen wollen. Im Gegenteil: alle bemühen sich, etwas vorzuschlagen, was man mal probieren könnte. Ein anderes Schmerzmittel zum Beispiel – macht Sinn: das bisherige sollte man keinesfalls über längere Zeit einnehmen. Bei dem neuen gibt es das Medikament gegen die Nebenwirkungen gleich dazu. Mein Magen meldet zurück, Schlaganfall- und Infarktrisiken seien ihm völlig wumpe, er jedenfalls könne – Säureblocker hin oder her – das nicht ab!
Ich beschließe, dass es fortan ohne Schmerzmittel gehen muss.
Stattdessen könnte ich, so ein weiterer Vorschlag, ein Antidepressivum nehmen, das mittlerweile nur noch DiabetikerInnen verschrieben wird, weil es diesen gegen Neuropathien hilft. Gegen Depressionen gibt es Mittel mit deutlich weniger Nebenwirkungen. Prima Idee! Und falls es doch nicht gegen die Schmerzen helfen sollte, werde ich diesen Umstand zumindest seeeehr gelassen sehen! Notiz an mich selber: Nicht aufregen! Die können nicht wissen, dass ich mein Leben komplett umgekrempelt habe, um ohne Psychopharmaka zurechtzukommen. Trotzdem werde ich das doofe Gefühl nicht los, alle denken „nimm das doch einfach, das bist du doch gewohnt!“ …
Physiotherapie schlägt auch jemand vor. Und dass ich Yoga mache, sei gut. Immerhin.
(„Immerhin“ hat gute Chancen, zu meinem persönlichen Wort des Jahres zu werden …)

Nicht wenig meiner Zeit geht für Recherchen drauf. … Das Problem mit dem Gedächtnis hatte ich erwähnt?
Ich möchte wissen, was das für eine Krankheit sein soll, die als nächstes ausgeschlossen werden muss. Mit welchen Untersuchungen ich zu rechnen habe. Und ich habe schnell begriffen, dass es – wenn mehrere ÄrztInnen Medikamente verschreiben – an mir ist, zu überprüfen, ob es überhaupt angeraten ist, die alle in dieser Kombination einzunehmen. Außerdem habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass von der Schulmedizin nur wenig Hilfe zu erwarten ist und schaue deswegen, was ich selbst für mich tun kann.
Hier ist – allein was Borreliose betrifft – die Anzahl der Heilversprechungen Legion! Es gibt ichzich, Behandlungen, Diäten und Präparate, die mich wieder gesund machen können! Man wundert sich, dass überhaupt noch Menschen zum Arzt gehen … Ich mache mich also auf die Suche nach Informationen darüber, um was es sich bei dem jeweils angepriesenen Mittel überhaupt handelt, wer behauptet, dass es wirksam ist, wie genau es wirken soll und – last not least – ob die Wirksamkeit in irgendeiner Art und Weise nachgewiesen werden kann. Wobei mir klar ist, dass die Nachweisbarkeit so eine Sache ist: Wenn es nicht eine Studie bezüglich der Wirkung eines Präparates gibt, kann das daran liegen, dass eine solche Studie bisher nicht erstellt wurde (seriöse Studien sind ja auch aufwendig und teuer!), aber es ist natürlich ebenfalls möglich, dass es da schlicht keine Wirkung nachzuweisen gibt.
„Ich habe mich selbst erfolgreich mit ………. (alles von Aprikosenkern bis Zistrose) von ………. (beliebige Erkrankung) geheilt!“ ist spätestens seit der Entdeckung des Placebo-Effektes kein schlagendes Argument mehr, und auch Berichte von Quellen, die das entsprechende Mittel wie zufällig gleich selbst vertreiben, vermögen nicht wirklich zu überzeugen. Die Methode „wurde mir im Traum offenbart!“ oder aber „von Gott eingegeben!“ und dergleichen, sind ebenfalls Anpreisungen, die ich zu bezweifeln geneigt bin. Außerdem beäuge ich solche Heiler, die an der Krankheit, die sie zu besiegen versprachen, unterdessen selbst verstorben sind, mit einem gewissen Misstrauen.
Um solche Mittel, bei denen tatsächlich eine Wirkung nachzuweisen ist, entsteht schnell ein Hype, der dazu führt, dass ihnen weitere Eigenschaften zugeschrieben werden, die vermutlich nur noch durch das „Prinzip Hoffnung“ zu erklären sind.
Man kann auch einfach mal was ausprobieren und gucken, wie es einem damit geht, keine Frage! Aber selbst dann muss man ja entscheiden, mit welcher der zahllosen Möglichkeiten man beginnen möchte. Und ich merke schnell, wie schwierig es ist, zweifelsfrei festzustellen, was hilft, und was eher nicht. Gelenkschmerzen kommen und gehen zum Beispiel auch mit kaltem Wetter, Regenwetter kann auf’s Gemüt schlagen und so bewirken, dass Schmerzen stärker empfunden werden. Und natürlich möchte ich auch jedes Mal wieder feststellen, dass ich mich jetzt endlich besser fühle!

Es wäre auch nicht förderlich, denke ich, wenn ich die Hoffnung aufgäbe, dass die nächste Untersuchung zu Erkenntnissen führen, die nächste Behandlung helfen möge.
Im Großen und Ganzen sehe ich mich als Optimistin, die sich bemüht, den Dingen einen positiven Aspekt abzugewinnen (ich werd nie kapieren, warum ausgerechnet ich Depressionen habe!) – und sei es nur Galgenhumor. Ich fand immer, wenn ich über meine Lage mal keine flachen Witze mehr zu reißen in der Lage bin, brauch ich nen guten Freund, der mich erschießt.
Mir ist sehr daran gelegen, nicht jammerig zu klingen. Womöglich, damit mich nicht jemand aus Versehen erschießt. Und die gute Nachricht ist ja tatsächlich, dass ich – soweit man bis heute sagen kann – nichts Lebensbedrohliches habe. Und was nicht unmittelbar zum Tode führt, härtet ab, oder?
Aber wenn ich mir vorstelle, dass mein Leben einfach so weitergeht, wie es jetzt ist, dann scheint mir das eine sehr lange Zeit für einen ziemlich elenden Zustand zu sein. Dann werde ich sehr klein und jämmerlich. Und die Witze gehen mir aus.

Montagsmodell IV: Nix Neues. Oder?

„Warum schreibst du darüber, als wäre es etwas ganz Neues für dich? Du bist doch schon seit Jahren chronisch krank …“
Hätte ich meinen Text zu Papier gebracht, wäre das jetzt der Moment, mit einer Hand die Blätter zusammenzuknüllen … Stimmt! Warum eigentlich?
Seit fast 20 Jahren lebe ich mit einer rezidivierenden (sprich: chronischen) Depression, da sollte man annehmen, ich sei (sofern das überhaupt möglich ist) daran gewöhnt. Und tatsächlich habe ich im ersten Moment selber gedacht, das, was ich jetzt erlebe, sei einfach eine Variante dessen, was ich bereits kenne und ich könne es problemlos in die Ablage „chronische Erkrankungen – Komma – akzeptierte“ verräumen. „Kenn‘ ich!“, hab ich gedacht und damit nichts anderes getan, als all die Menschen, die hin und wieder traurig und niedergeschlagen sind und deswegen glauben, sich gut vorstellen zu können, wie es ist, an Depressionen zu leiden.
Meine Vorstellung vom Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers war dann auch ungefähr so realistisch, als würde ich über das Sterben nachdenken und dabei Winnetou, Mr. Spock und Dr. Schiwago vor Augen haben.
Zum Beispiel hatte ich ganz selbstverständlich angenommen, dass am Anfang eine Diagnose steht (und mich selbst mit der Feststellung, dass ich mich irgendwann einmal mit Borreliose infiziert habe, fälschlicherweise bereits am Ziel gewähnt). Dass es Menschen gibt, die eine ganze Odyssee hinter sich bringen müssen, bis es soweit ist, hatte ich zwar schon gehört, aber das war etwas, das anderen passiert. Für mich selbst habe ich das nie in Betracht gezogen. Diagnose also und dann Behandlung.
An der Stelle muss ich einräumen, dass ich, was meine psychische Erkrankung betraf, zu den Glückskindern gezählt habe, denen man mit einem milden Antidepressivum wieder auf die Beine helfen konnte. Und ich hatte eine Therapeutin, die mir über Jahre hinweg geholfen hat, mit meiner Erkrankung, wenn sie schon nicht zu überwinden war, doch wenigstens zurechtzukommen.
Eigentlich hätte ich jetzt sehr gerne meine Therapeutin zurück, damit sie mir hilft, damit klarzukommen, dass es bislang keine abschließende Diagnose gibt. Und deswegen auch nur „Versuche“, was die Behandlung betrifft.
Gleich darauf schäme ich mich, weil es ja Menschen gibt, bei denen jahrelang niemand weiß, was sie leiden macht. Und ich heul schon nach ein paar Monaten rum …

IMG_14069-webDarüber, dass Depressionen wenigstens nicht weh tun, hab ich ja schon mehr als einmal herumgeblödelt – jetzt stelle ich fest, wie zermürbend anhaltende Schmerzen wirken, auch wenn sie gar nicht einmal besonders heftig sind. Ich finde keinen Weg, für mich zu sorgen.
In ganz schlimmen depressiven Phasen, habe ich mit Müh und Not den Weg vom Bett bis zum Sofa geschafft. Da lag ich dann und habe ferngesehen. Ich wusste sehr genau, wann auf welchem Sender welche Zoosendung läuft, Lücken ließen sich zur Not mit „Unsere kleine Farm“ überbrücken, dann gab es Vorabendserien und in der Nacht Pathologenkrimis. Die halbe Zeit habe ich sowieso gedöst, oder bin in einem „Zeitloch“ versunken: Man sitzt oder liegt einfach da, denkt und tut nichts und plötzlich ist der Tag vorbei. Depression ist dumpf. Man kann zwar nichts tun, leidet darunter aber nicht allzu sehr, weil man sowieso nichts tun will. Es fällt einem gar nicht erst etwas ein, was man wollen könnte.
Gegen Ängste lassen sich Strategien finden: Vor dem Kino warten zum Beispiel, während jemand anders die Karten besorgt. Sich einen Platz gleich am Gang freihalten lassen, damit man wieder nach draußen kann, falls man es doch nicht aushält. Und dann reingehen, wenn das Gedränge vorbei ist. Und wenn trotzdem alles zuviel ist, lässt man es halt! Das ist dann doof. Enttäuschend. Frustrierend. Aber die Angst ist weg.
Jetzt hilft kein Rückzug, kein Vermeiden. Wenn ich mich im Bett verkrieche und mir die Decke über den Kopf ziehe, tut es trotzdem weh. Der Tag vergeht in normaler Geschwindigkeit. Und ich will ja was! Ich hab Ideen, was ich tun möchte und dann kann ich nicht.

Was sehr vertraut ist, die Lage aber keineswegs verbessert, ist die Angst, nicht ernst genommen zu werden. Mich selbst doch wieder zu fragen, ob es wohl sein könne, dass ich mich anstelle.

Neulich hab ich es tatsächlich noch einmal getan. Als ich zum Yoga wollte, von dem ich ja weiß, dass es zu den wenigen Dingen gehört, die helfen, und feststellen musste, dass ich den Weg vom Haus zum Auto nicht schaffe. Erst hab ich vor Verzweiflung Rotz und Wasser geheult, dann bin ich auf die Suche nach Trost gegangen. Es gibt zwar keinen Fernseher mehr, vor dem ich liegen könnte, aber in der Mediathek findet man Zoosendungen …

Drei Jahre Schattentaucherin: Kurswechsel

Fünf Jahre ist es nun her, dass ich – nach über zehn Jahren mit Psychopharmaka und therapeutischer Unterstützung – begonnen habe, mich zu fragen, ob es richtig sein könne, immer weiter mich für das Leben „passend machen“ zu wollen, oder ob es nicht vielmehr an der Zeit sei, mein Leben an mich, meine Bedürfnisse und meine Möglichkeiten anzupassen.
In der Verfassung, tatsächlich aktiv zu werden, mein Leben neu zu gestalten, war ich damals freilich nicht. Ich hatte schlicht Glück: Ohne dass ich danach gesucht hätte, fand sich ein Platz für mich, an dem ich ein anderes Leben ausprobieren konnte. Mir blieb nur, mich auf den Weg zu machen und das fand ich schwierig und schmerzhaft genug.

Seit vier Jahren lebe ich auf einem Bauernhof in den Cevennen, einer nur spärlich besiedelten Gegend im Süden Frankreichs, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Hügelig sind die Cevennen. Und grün. Aber karg, felsig und unwirtlich ebenso. Eine Gegend, in der schon früher Menschen Schutz gesucht haben.
Der Hof ist einsam gelegen, Nachbarn gibt es nicht. Meist ist es so ruhig, dass einem die Stille in den Ohren klingt. Soweit es mir möglich war, hab ich mich an der Hofarbeit beteiligt. Die Strukturen, die das Leben auf dem Land kurzerhand „setzt“, haben mir gutgetan, ebenso wie die Fürsorge für unsere Tiere. Nicht zu vergessen: Die Hofküche! Die ist mir Arbeitsplatz, Ergotherapie und Kreativlabor in einem!
Wer nun aber meint, dass damit, hopp!, mein Leben in Ordnung war, den muss ich enttäuschen. Ich war dieselbe, wie vorher: Immer noch depressiv, immer noch gelegentlich von Panikattacken heimgesucht. Aber immerhin: Eigenständig unterwegs, ohne medikamentöse Unterstützung.

Vor drei Jahren nun, habe ich mich entschieden, mich als Mensch mit einer psychischen Erkrankung zu outen und vom weiteren Verlauf meines Weges zu berichten: Die Schattentaucherin war geboren.

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Während der ersten beiden Jahre auf dem Hof war ich vollauf damit beschäftigt, den Kopf über Wasser zu halten: Am Leben teilzunehmen sofern möglich, Tiefs und Rückschläge durchzustehen, auf baldige Besserung zu hoffen und irgendwann auch zu vertrauen. Bis heute fällt es mir schwer zu unterscheiden, ob es tatsächlich meine Lebenssituation ist, die unerträglich scheint, oder „nur“ die Depression mir wieder einmal einflüstert, dass alles sinnlos sei. „Wenn’s nach zwei, drei Tagen wieder okay ist, war’s nur die Depresse!“, aber das weiß ich dann: An Tag eins möchte ich sterben. Immerhin war irgendwann nur noch von Tagen die Rede – nicht mehr von Wochen und Monaten. Und ganz allmählich hat sich Vertrauen entwickelt: Darauf, dass heute halt mal ein schlechter Tag ist. Mit der Betonung auf „heute“ und „mal“ …

Erst dann war Platz für die Idee, es könne noch „Luft nach oben“ geben und ich aktiv etwas dafür tun, mein Befinden weiter zu stabilisieren. Angefangen habe ich ganz klein: Mit Achtsamkeitsübungen, die ich morgens im Bett absolvieren konnte. Ein Yogakurs, der wundersamerweise just in dem Moment im Dorf angeboten wurde, als ich soeben erfahren hatte, dass Yoga meine Achtsamkeitsbemühungen wirksam unterstützen könne, dagegen, schien mir ein außerordentlich ehrgeiziges Projekt zu sein. Es dennoch in Angriff zu nehmen, hat mich eine Menge Mut und Zähigkeit gekostet – aber es hat sich gelohnt!

Heute denke ich, dass – obwohl auch CBD durchaus hilfreich ist – es vor allem anderen die Yoga-Übungen sind, die mir gut tun. Es hat, zugegeben, eine Weile gedauert – aber es ist ja auch wichtig, auszuprobieren, ob ein Fehler reproduzierbar ist – bis ich eingesehen habe, dass Rückfälle bevorzugt mit dem Ende der Schulferien einhergingen, also immer dann eintraten, wenn das Yoga-Training ein paar Wochen lang ausgefallen war. Seitdem suche ich regelmäßig meine Matte auf.

Im Großen und Ganzen ist meine Stimmung (der Franzose spricht hier drolligerweise von „humeur“) stabil. Wenn ich arg gestresst bin, habe ich hin und wieder immer noch Panikschübe, aber – ganz ehrlich? – das sind Fürze im Orkan. Unangenehm, ja, peinlich auch – aber nicht wirklich ein Problem. Das Weinen bin ich nicht losgeworden: Wenn mich etwas berührt – ganz egal, in welcher Weise – weine ich. Zuweilen weine ich sogar dann, wenn mich etwas zum Lachen bringt. Das finde ich befremdlich und durchaus auch hinderlich. Aber es gibt ganz sicher Schlimmeres.

Viel wichtiger finde ich, dass ich kürzlich ganz allein im großen Supermarkt in der Stadt war!
Okay, es war kein großer Einkauf, aber ich bin da einfach reinmarschiert und hab erst hinterher begriffen, dass da eine Premiere stattgefunden hatte. Das erste Mal seit 5 Jahren und ich hab nicht einmal darüber nachgedacht!

Demnach könnte die Tauchfahrt jetzt und hier enden: Es hat geklappt. Ich habe eine Lebensweise für mich gefunden, bei der es zum Thema Depression nur noch selten etwas zu berichten gibt.
Stattdessen ist ein Schatten ganz anderer Art auf mein Leben gefallen.
Eine chronische Erkrankung des Körpers, das zumindest steht momentan zu befürchten, die mich mindestens ebenso wirksam daran hindert, am Leben teilzunehmen.
Früher habe ich hin und wieder geflachst, ein Vorteil an Depressionen sei, dass sie immerhin nicht weh täten … Das jetzt tut weh. Unter anderem.
Und derzeit scheint es, als hätte ich noch einen langen Weg vor mir: Bislang gibt es keine brauchbare Diagnose, eine Behandlung, die über ein Stochern im Nebel hinausgeht, ist nicht in Sicht. Das ist beängstigend, empörend, frustrierend und – ooops! – deprimierend. Dafür ist mein humeur nach wie vor erfreulich stabil!

Die Taucherin war mir eine gute Begleiterin auf dem Weg aus der Depression. Sie soll mich auch auf dem Weg durch diesen Schatten begleiten.

Das Yoga Projekt V

Wagnis Workshop

Wer sich erinnert, mit welchen Ängsten und Nöten ich vor knapp zwei Jahren zu meiner ersten Yogastunde aufgebrochen bin, kann vielleicht ermessen, was für ein Abenteuer ein ganzes Yoga-Seminar war.
Fünf Tage lang, jeweils vier Stunden, in französischer Sprache.

Okay, es fand an vertrautem Ort und mit der vertrauten Trainerin statt, aber natürlich mit sehr viel mehr TeilnehmerInnen als der normale Kurs. Ich kann nicht gut mit vielen Menschen in einem Raum sein. Das fällt mir manchmal schon mit solchen Menschen schwer, die ich kenne, und hier war klar, dass die meisten mir fremd sein würden. Sein und wohl auch bleiben: Mein Französisch ist mittlerweile zwar gut genug, um Nathalies Anweisungen zu folgen (bzw. nachzufragen, wenn ich nicht mehr folgen kann), aber für die Sorte Smalltalk, die hier von Nöten wäre, um rasch ein paar Worte von Yogamatte zu Yogamatte zu wechseln, reicht es nicht ansatzweise. Zumal ich dazu auch in meiner Muttersprache nicht recht in der Lage bin – Smalltalk ist mir ein Greuel.

Vier Stunden sind verdammt lang. An schlechten Tagen fällt es mir ja schon schwer, die normale Kursdauer von 90 Minuten durchzuhalten.

Und dann fängt das auch noch um neun Uhr morgens an! Da bin ich normalerweise noch schwer mit der Frage beschäftigt, ob es wohl möglich sei, mich im Bett aufzusetzen! Last not least: Wenn ich etwas Anstrengendes oder Aufregendes erlebt habe, muss ich, auch wenn es etwas Schönes war, damit rechnen, am nächsten Tag auf der Nase zu liegen. Wie ich fünf Tage am Stück durchhalten soll, ist mir ein Rätsel. Und nein: Ich habe keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hat, mich dafür anzumelden!

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Am ersten Tag bin ich so frühzeitig da, dass ich sicher sein kann, meine Matte am gewohnten Platz auszurollen. Das kann man albern finden, aber mir gibt es Sicherheit: Hier kann ich Nathalie gut sehen und hören, bin aber nicht so dichtauf, dass es aufdringlich wirken könnte. Ich bin relativ nah an der Tür und vor allen Dingen habe ich eine Wand im Rücken! Die halbe Stunde bis zum Kursbeginn wird anschließend allerdings lang und immer länger: Immer mehr Leute kommen in den Raum, begrüßen einander, gehen umher, suchen sich einen Platz … Das ist alles viel zu viel! Ich lege mich mit geschlossenen Augen auf meine Matte und gebe mir alle Mühe, meine Umgebung auszublenden.

Das Training selbst klappt prima. Jedenfalls bis zu dem Moment, als wir uns zu Paaren zusammentun sollen: Ich liege genau in der Mitte der Reihe mit der ungeraden TeilnehmerInnenzahl und „bleibe übrig“. Vielleicht war ich auch einfach zu defensiv. Jedenfalls liegt es nicht daran, dass niemand mit mir üben will – daran bemühe ich mich, ganz fest zu denken. Außerdem bleibe ich nicht allein: Nathalies Co-Trainerin gesellt sich zu mir und ich soll in Fetus-Haltung gegen ihre Hände atmen. Kein Problem – diese Art körperlicher Nähe bin ich vom Tanzen gewohnt und sie macht mir nichts aus. Allerdings haben wir so ein bisschen später angefangen als die anderen und während ich mit der Stirn auf dem Boden auf den Knien liege und jemand hinter mir hockt, die Hände auf meinem Rücken, entsteht im Raum plötzlich Unruhe, Bewegung, Gespräche werden begonnen. Und ich kauere auf dem Boden. Ich seh nicht, was um mich herum, ja, über mir passiert! Das ist zu viel! Ich fahre hoch, schnappe nach Luft, die Tränen kommen. Immerhin gelingt es mir, meiner bestürzten Trainingspartnerin – auf Französisch! – zu sagen, dass ich eine Panikattacke habe. Sie reagiert gelassen und kurz darauf üben wir auch schon weiter. Später wird Nathalie erklären, dass es ganz normal ist, wenn beim Yoga Emotionen „hochkommen“: Trauer, Wut, Heiterkeit, Angst. Das hilft mir, meine Reaktion weniger peinlich zu finden.
Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden mit meinem ersten Tag. Und verschlafe den kompletten Nachmittag.

Ein Teil der Übungen wird täglich wiederholt: Die Demi-Pont zum Beispiel, bei der ich mich fast umbringe, weil mir schlicht die Kraft fehlt. Alle anderen, Senioren und Übergewichtige inklusive, so kommt es mir jedenfalls vor, halten die ganz problemlos. Nur ich renne auf den letzten Reserven, um, nachdem ich gerade erst den Rücken durchgebogen habe, wenigstens Wirbel für Wirbel wieder abzurollen und nicht einfach wie ein nasser Sack auf meine Matte zu klatschen.
Und ausgerechnet diejenige Torsion, die mir, als ich sie vor einiger Zeit zum ersten Mal versucht habe, zu einer Panikattacke verholfen hat … Das wiederholt sich glücklicherweise nicht, aber ein paar Tränchen fließen schon. Ich beschließe, sie fürderhin die „tränenreiche Torsion“ zu nennen.
Als für eine weitere Übung erneut Paare gebildet werden sollen, gelingt mir dieses Kunststück. Und dann gleich noch eines: es handelt sich um eine isolierte Bewegung des Brustkorbes, die durchaus tricky, nach zehn Jahren orientalischen Tanzes aber echt kein Problem ist. Ich bin total stolz auf mich!
Ich fühle mich wohl. Muss nicht mehr alles um mich herum ausblenden, sondern kann die Atmosphäre wahrnehmen: Sie ist entspannt und freundlich.

Am dritten Tag bin ich soweit „angekommen“, dass ich mich in der Pause ins Foyer wage.
Bisher habe ich das vermieden: Es ist zu eng, zu laut und ich habe Angst, dass jemand in bester Absicht ein Gespräch mit mir zu beginnen versucht.
Es wird Tee gereicht. Ich vermute, dass er gratis ist, aber mir ist nicht klar, ob man sich einfach welchen nehmen darf, oder darum bitten muss. Mit ein bisschen Nachdenken reicht mein Französisch, um die entsprechende Frage zu formulieren, aber es würde sehr gestelzt klingen, fürchte ich, und das ist mir unangenehm. Außerdem laufe ich in solchen Momenten immer Gefahr, dass es mir zwar gelingt, eine Frage zu stellen, ich die Antwort aber nicht verstehe.
Und prompt passiert es! Eine Frau mit einem Becher Tee in der Hand schaut mich an und fragt etwas.
Pardon?“
Sie wiederholt die Frage. Ich verstehe kein Wort.
Nachdem ich zwei Stunden lang französischen Anleitungen gefolgt bin, kann ich mich kaum noch konzentrieren. Und: Wenn man weiß, worüber gesprochen wird, kann man Gesprächen in einer Fremdsprache relativ gut folgen. Wenn man aber erst einmal herausfinden muss, was überhaupt das Thema ist, verliert man ratzfatz den Anschluss …
Sie scheint ihren Becher zu heben und vor meinem inneren Auge sehe ich mich erfreut danach greifen, während sie mich lediglich gefragt hat, ob ich wisse, wie spät es ist. Wie peinlich wäre das? Ich bin völlig überfordert.
Tu?“ … Pause … „Vouloir?“ … Pause … „Thé?“
Ob ich Tee möchte! „Du wollen Tee?“ um genau zu sein. Ich lache los. Und komme mir weit weniger blöd vor, als ich befürchtet hätte.
Es wird mir noch häufiger passieren, dass ich im ersten Anlauf nicht verstehe, was jemand zu mir sagt, aber alle sind sehr geduldig, sprechen langsam und deutlich, wiederholen das Gesagte und werden dabei – ganz anders, als man es zum Beispiel den Deutschen nachsagt – auch nicht lauter.
Ich fange an, mich nicht mehr nur als Beobachterin eines netten Seminares zu fühlen, sondern tatsächlich als Teilnehmerin.
Körperlich beginnt die Teilnahme, mir ein wenig schwer zu fallen: Ich habe Schmerzen und bin deutlich steifer als zu Beginn. Meine Laune lasse ich mir davon allerdings nicht vermiesen.

Einen Tag später werden die Schmerzen heftig. Nicht, weil ich Muskelkater hätte, oder die Übungen übertreiben würde … es tut einfach ständig irgendwo etwas weh. Als ich bei der Kerze, die ich bislang immer als sehr angenehm empfunden habe, einen solchen Druck auf dem Brustbein verspüre, dass ich kaum noch atmen kann, bekomme ich einen denkwürdigen Rat: „Dann atme in den Rücken!“. Und tatsächlich: Da ist Platz!
In der Pause breche ich dennoch vollends ein, mir wird schwindelig und ich fühle mich außerordentlich unwohl. Abbrechen möchte ich trotzdem nicht. In der zweiten Hälfte liegt der Schwerpunkt auf Atemübungen – die macht man im Sitzen, dabei werd ich schon nicht umkippen.
Und tatsächlich halte ich – wenn auch mit vielen Pausen – bis zum Ende durch.
Das mag klingen, als würde ich mir zu viel zumuten und vielleicht ist das auch tatsächlich so. Aber Tatsache ist, dass ich immer Schmerzen habe. Auch dann, wenn ich nur versuche, mich mit der linken Hand am rechten Oberarm zu kratzen. Oder flach im Bett liege. Mir wird auch dann schwindelig, wenn ich auf einem Stuhl sitze und mir eigentlich gerade ein Brot schmieren will.
Beim Yoga zu üben, nicht trotz dieser Beschwerden weiterzumachen, sondern mit ihnen; zu erfahren, dass ich atmen und mich entspannen kann und nichts Schlimmes passiert, auch wenn der Schmerz da ist, scheint mir durchaus vernünftig zu sein.

Aber mit 5 Tagen habe ich mich ganz offensichtlich übernommen.
Am letzten Tag weine ich bei der tränenreichen Torsion vor Schmerzen und das, obwohl ich sie nur ansatzweise ausführe. Ich beschließe, mich noch vorsichtiger zu bewegen, als ich das sowieso schon tue. Bei der anschließenden Vorwärtsbeuge im Sitzen, bei der meine Mattennachbarin bäuchlings und augenscheinlich völlig entspannt auf ihren ausgestreckten Beinen liegt, halte ich sofort inne, als mir der Schmerz in den Rücken schießt. Und muss feststellen, dass ich immer noch aufrecht sitze. Ich habe nicht einmal angefangen! Mir schießen die Tränen in die Augen, aber diesmal nicht, weil es wehtut.

Ich gehe nach draußen und heule Rotz und Wasser.
Es ist so unfassbar ungerecht! Ich war so stolz, dass ich mich trotz aller Hürden zu diesem Seminar getraut habe. Es hat mich eine Menge Mut und Überwindung gekostet, aber ich habe es hingekriegt. Nein, ich habe es nicht nur hingekriegt, es hat Spaß gemacht! Und jetzt macht mein Körper mir einen Strich durch die Rechnung! Als ob ich es, verdammt nochmal, nicht auch so schon schwer genug hätte!
Und in diesem Moment wird mir klar, dass ich einen Fehler gemacht habe.
Ich hatte sehr viel Zeit, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass meine Depressionen nicht heilbar sind. Und hab dann noch mehr Zeit gebraucht, diesen Umstand auch zu akzeptieren – soweit mir das halt möglich war. Ich lebe mit meiner Erkrankung und das gar nicht mal so schlecht.
Okay, das mit der Makula-Degeneration war jetzt nicht sooo eine gute Nachricht, aber bislang komme ich ganz gut damit zurecht.
„Was soll sein?“, hab ich mir also gedacht, als mit der Borreliose noch eine weitere Erkrankung hinzukam, „Wenn ich sowieso schon dabei bin, nehm‘ ich die in einem Aufwasch mit an!“.
Es war eine ungeheure Erleichterung, eine Diagnose zu haben, aber nachdem es derzeit nicht so aussieht, als sei mit einer kurz- oder auch nur mittelfristigen Linderung der Symptome zu rechnen, muss ich mich mit ganz neuen Beeinträchtigungen arrangieren.
Und dafür sollte und darf ich mir Zeit nehmen. Dazusitzen und zu heulen gehört da durchaus dazu. Das ist okay.

Drinnen kommt Unruhe auf. Vermutlich beginnt die Pause und auf keinen Fall möchte ich weinend vor der Tür angetroffen werden. Nicht einmal auf Deutsch könnte ich in zwei, drei Sätzen erklären, was mit mir los ist – auf Französisch: keine Chance. Besser, ich mogele mich unauffällig in den Raum zurück! Dort jedoch werden soeben wieder Paare gebildet und ich ergreife umgehend die Flucht. Jetzt bloß kein Kontakt zu anderen Menschen! Draußen allerdings packt mich die Wut: Das ist ü!ber!haupt! nicht! einzusehen! Das ist nur Yoga! Ich gehe da jetzt rein, setze mich auf meine Matte, atme und gucke zu!

Kaum habe ich den Raum betreten, spricht meine Mattennachbarin, die ich bisher als äußerst reserviert erlebt habe, mich sehr freundlich an: Gerne könne ich mich ihr und ihrer Trainingspartnerin anschließen! Ich versuche, zu erklären, dass es ganz okay für mich sei, einfach eine Pause zu machen. Aber, nee, gar kein Problem, ich könne ja erst einmal zugucken und dann entscheiden, ob ich es auch versuchen will. Ich wär schon froh, wenn ich die „sitzen – atmen – nicht gleich wieder losheulen – Kombi“ hinkriegen würde, aber diese Zugewandtheit macht mich ganz wehrlos. Ich will nicht rumzicken. Und gucken kann ich ja mal …

Sie leitet die Übung sehr kundig an (später erfahre ich, dass sie selbst Trainerin ist) und ihre Partnerin, die sich augenscheinlich auch nicht völlig problemlos bewegen kann, nimmt die Sache souverän und mit Humor. Ich stimme in ihr Lachen ein. Okay … das traue ich mich auch.
Und die Macht des Yoga ist mit mir: Das kann ich auch! Es ziept ein bisschen, aber es tut nicht weh!

Meine Mattennachbarin kann unmöglich ermessen, was für einen riesigen Gefallen sie mir da getan hat: Sie hat mich in das Seminar zurückgeholt. Dafür bin ich ihr aufrichtig dankbar.
Ich bin aber auch hochzufrieden mit mir selbst.

* Und ich lasse diesen Satz jetzt stehen, auch wenn es schwerfällt! *

Weil ich mal losgelassen habe. Aufgegeben. Hemmungslos geweint. Mir verziehen, dass ich meinen Ansprüchen an mich selbst nicht gerecht werde.
Natürlich auch, weil ich mich getraut habe, anschließend weiterzumachen. Hilfe anzunehmen.

In der Pause muss ich wieder einmal nachfragen, als ich angesprochen werde.
Ob ich einen Keks möchte.
Möchte ich! Den hab ich mir verdient!