Tauchen in fremden Gewässern

Mittlerweile gibt es schon über 100 Taucherinnen-Texte!
Zeit für einen Rückblick und ein weiteres Update.

2015 habe ich begonnen, davon zu erzählen, wie es eigentlich ist, an einer psychischen Erkrankung (damals Depression und Angststörung) zu leiden, was ich schon alles dagegen zu unternehmen ausprobiert hatte und wie ich nun versuchen wollte, nicht mehr mich selbst, sondern mein Leben so zu verändern, dass dieser Schatten von mir genommen werden möge.
Das hat – auch wenn es nicht ganz einfach war – funktioniert: Ich habe Tage, an denen ich mich deprimiert fühle, aber keine Depressionen mehr.

Stattdessen habe ich begonnen, an chronischen Schmerzen und diversen, sehr seltsamen neurologischen Symptomen zu leiden. Im Laufe eines mehrjährigen Diagnose-Marathons, während dessen ich gelernt habe, dass es die exotischen Erkrankungen, über die bei Dr. House diskutiert wird, tatsächlich gibt, ich aber keine davon habe, sondern körperlich eigentlich erfreulich gesund bin, wurde ich zunächst mit Borreliose, letztendlich aber mit Fibromyalgie diagnostiziert.
Fibro ist, platt gesagt, das, was übrig bleibt, wenn’s alles andere nicht ist.

Fibromyalgie gilt allerdings auch als typische Folge von Traumata.
Das passt: Ich bin sowohl Kriegsenkelin, als auch Verschickungskind und habe vermutlich selbst traumatische Erfahrungen gemacht, die allerdings bis jetzt einer Amnesie unterliegen.
Auf eine rein medikamentöse Behandlung mochte ich mich nicht einlassen, will sagen: Ich nehme die notwendigsten Medikamente, verzichte aber nach Möglichkeit auf solche, die erhebliche Nebenwirkungen, oder aber Suchtpotential haben. Stattdessen versuche ich es mit Psycho-, Physio- sowie Hypnosetherapie.
Medikamente vermögen die ärgsten Symptome zu lindern – ich möchte heilen!

Dabei hat sich gezeigt, dass ich dissoziative Fähigkeiten entwickelt habe.
Das ist insofern völlig normal, als Menschen, die traumatische Situationen erleiden, die unerträglichen Emotionen, die damit einhergehen, immer „abspalten“ – sie verschwinden einfach aus ihrem Bewusstsein.
Für mich bedeutet das, dass ich Erinnerungen habe, die sich völlig „neutral“ anfühlen, ich kann keinerlei Emotion damit in Verbindung bringen. Ich kann mir zwar vorstellen, wie ein Mensch in dieser Lage sich fühlen muss, aber ich selbst empfinde nichts.

So, wie es aussieht – oder sich für mich anfühlt – habe ich nicht nur Emotionen „abgespalten“, sondern auch Teile meiner Persönlichkeit.
Auch das ist eigentlich völlig normal: Wir alle haben verschiedene Persönlichkeitsanteile.
„Das innere Kind“ oder „der innere Kritiker“ zählen zu den Klassikern. Wir alle agieren im Beruf anders, als wir das als Freund:in, Partner:in, Mutter oder Vater tun würden. Und manchmal merken wir, dass es nach einem harten Arbeitstag schwierig ist, in eine der „privaten“ Rollen zu schlüpfen.
Bei traumatisierten Menschen, kann diese Aufteilung in verschiedene Anteile sehr viel ausgeprägter sein, bis hin zu dem, was früher „multiple Persönlichkeit“ genannt wurde: Eine Gruppe voneinander komplett unabhängiger Persönlichkeiten, die einen Körper bewohnen.

Ich selbst bin – soweit ich sagen kann – grundsätzlich „zu Hause“, bekomme also mit, was vor sich geht, bin aber nicht immer Hauptakteurin. Mit Hilfe von Psychotherapie, Hypnose, Meditation und Yoga versuche ich, zu meinen Anteilen in Kontakt zu treten – ins Gespräch zu kommen sozusagen – und gemeinsam zu heilen. Dazu gehört unter anderem, meine Erinnerungen wieder mit den dazugehörigen Emotionen zu verknüpfen. Das schmerzt herzzerreißend. Und es macht Angst, weswegen ich in letzter Zeit wieder häufiger von Panikattacken heimgesucht werde.
Und nach der Psychotherapie regelmäßig mit Schmerzschüben auf der Nase liege.
Traumata finden sich nicht einfach nur im Gehirn wieder, sondern in jeder Zelle des Körpers – der Körper hat sozusagen sein ganz eigenes Gedächtnis. Nur so sind transgenerationale Traumata zu erklären und deswegen zieht jede Form der Trauma-Heilung auch den Körper in Mitleidenschaft.

Wenn es richtig gut läuft, wir in der Therapie also große Fortschritte machen, bin ich anschließend zwei bis drei Tage lang krank: Erschöpft, als hätte ich mit einem Bären gerungen, Schmerzen, als hätte ein Elefant auf mir herumgetrampelt, die Aufmerksamkeitsspanne eines Kolibris.

Egal.
Das ist es mir wert!

Buchtips zum Thema

Bessel van der Kolk „verkörperter Schrecken“
Tom Holmes „Reisen in die Innenwelt“
Thich Nhat Hanh „Versöhnung mit dem inneren Kind“
David Emerson, Elisabeth Hopper „Trauma-Yoga
Matt Ruff „Ich und die anderen

Selbstversuche

In meinen Zwanzigern habe ich einmal, in einer Art Varieté-Zelt, dem Auftritt eines Hypnotiseurs beigewohnt. Ich habe mich sogar gemeldet, als Freiwillige für die Bühne gesucht wurden!
Heute erinnere ich mich nur noch, dass ich, als er „Ihre Arme werden ganz leicht!“ gesagt hat, dachte „Is klar! Jetzt heben wir alle die Arme hoch …“ und einigermaßen befremdet war, als meine Arme tatsächlich in die Höhe strebten.
Beim „in den Pfirsich beißen“ allerdings bin ich rausgeflogen: Unverkennbar handelte es sich bei dem „Pfirsich“ um eine Zitrone!
So wurden nach und nach die Kandidat:innen aussortiert bis nur noch eine einzige Frau übrigblieb, die – und das hat mich damals schon beeindruckt! – schließlich auf zwei Stühlen lag, die Schultern auf dem einen, die Unterschenkel auf dem anderen, während der Hypnotiseur mit Anlauf auf ihren Bauch sprang. Sie verzog keine Miene, lag da wie ein Brett

Als ich mich um einen Hypnose-Termin in der Schmerzabteilung der Universitätsklinik bemühe, ist mir bewusst, dass mich jetzt garantiert kein Bühnenzauber erwartet, aber ein bisschen ängstlich bin ich schon! Was, wenn ich in der Hypnose die peinlichsten Geschichten meines Lebens erzähle? Oder irgendetwas Hochnotpeinliches tue?
Der Arzt (immer dran denken: er ist Arzt, kein Entertainer!) beruhigt mich: Nicht er wird mich hypnotisieren, sondern ich werde das selbst tun. Er wird mir nur dabei helfen, das zu lernen!
So weit verstehe ich ihn, aber dann gerate ich ins Schwimmen:
Entgegen meiner Hoffnung spricht er ausschließlich Französisch und ich habe ihm gesagt, dass ich ihm folgen könne sofern er langsam spräche.
Nun … wenn das langsam ist, möchte ich schnell nicht erleben …

Es passiert mir nicht zum ersten Mal, dass mir in besagter Klinik versichert wird: Doch, doch! Keine Sorge! Die Spezialist:innen sprächen Deutsch oder zumindest Englisch!
Beim ersten Mal hab ich das tatsächlich geglaubt.
Da bin ich auf Alzheimer getestet worden. Wer den Test kennt, weiß, dass es dabei unter anderem darum geht, sich Wörter zu merken und Gegenstände und Zusammenhänge korrekt benennen zu können. Natürlich weiß ich, wie das Tier mit dem Horn auf der Nase heißt! Nur nicht auf Französisch … Und klar: Was eine Armbanduhr und ein Lineal gemeinsam haben, ist das Messen von Einheiten! Sofern bekannt ist, was „Armbanduhr“, „Lineal“ und „messen“ auf Französisch heißt … Wir gestikulieren was das Zeug hält! Ich fokussiere mich auf den Umstand, dass die schiere Absurdität der Situation durchaus einen gewissen Unterhaltungswert hat, bin anschließend aber so erschöpft, dass ich kaum noch gehen kann.
Die gute Nachricht: Alzheimer habe ich nicht. Und ich sei gut organisiert, heißt es. Immerhin!

Beim zweiten Termin zeigt sich, dass ich die Aufgaben, die ich bis dahin hätte erledigen sollen, nicht vollständig verstanden habe. Also wird mir ein weiteres Mal – diesmal sehr langsam – erklärt, was ich tun soll.
Und: Zu meiner großen Erleichterung spricht der Arzt dann doch ein bisschen Englisch!

Heute lerne ich stattdessen, mir einen sicheren Raum vorzustellen.
Das kenne ich schon und habe, da der betreffende Raum tatsächlich existiert und ich ihn sehr gut kenne, keinerlei Schwierigkeiten, ihn vor meinem inneren Auge erstehen zu lassen. Und natürlich weiß ich, welche Geräusche ich höre und wie es dort riecht!
Neu ist, dass es explizit mein Körper sein soll, der dort in Sicherheit ist. Der Arzt führt mich durch eine Art Bodyscan (siehe: Wellness mit Schattenseiten) in meinem safe room.
Ich habe kein Problem, ihm zu folgen, merke aber bei dieser Gelegenheit, wie schwer es mir fällt, die Augen tatsächlich fest zu schließen. Ein winziger Spalt bleibt immer offen … nur für den Fall.
Und ich finde es extrem gruselig, mit geschlossenen Augen neben einem fremden Mann zu sitzen, der mir zuflüstert, wie sicher mein Körper gerade ist!
Das ist insofern nicht so schlimm, als ich ab jetzt alleine üben soll: jeden Tag 10 Minuten.


Zunächst kommt es hin und wieder vor, dass dabei plötzlich alles schwarz wird. Da ich diese Schwärze schon aus der Meditation kenne, macht sie mir keine Angst – aber ich weiß nicht recht, was ich tun soll: Hineinsehen und gucken, was passiert? Oder mich weiter auf meinen sicheren Raum konzentrieren?
Ich entscheide mich für Letzteres, aber es gelingt mir nicht, das „Licht wieder einzuschalten“.
Am Ende der Hypnose soll ich ein Geschenk aus meinem sicheren Raum mitnehmen und sorgsam verwahren. Ich stelle mir mein Vertiko vor (ein Familienerbstück), in welchem eine Holzschatulle mit Schnitzereien steht, die meiner Mutter gehört hat. Dort verstaue ich mein Geschenk.
Bei einer Gelegenheit ist das Vertiko mit Schwärze angefüllt und die Schatulle ist voll von etwas, das ich ganz sicher nicht sehen möchte. Es sieht aus wie Blut.
Ich werfe mein Geschenk hinein und schließe eilig die Tür.
Ein anderes Mal springt mich etwas an, als ich das Vertiko öffne.
Ich werde mir einen anderen Aufbewahrungsort suchen müssen – offenbar haben Familienerbstücke so ihre Tücken …

Der Arzt hat mir gesagt, dass es nicht jeden Tag gleich gut klappen wird.
Aber mit zunehmender Übung merke ich, dass ich mich mehr und mehr entspanne, kurz davor bin, einzuschlafen.
Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass ich weniger dazu neige meinen Kopf ein- und die Schultern hochzuziehen. Das tue ich sonst sogar im Schlaf: Mein Kopf ruht nie ganz entspannt auf dem Kissen, ein Ohr ist immer gespitzt, so, als könnte ich jeden Moment angegriffen werden. Kein Wunder, dass ich Verspannungen habe! Die schmerzen, hab ich mal gehört, am meisten, wenn sie sich lösen. Kommt mir auch so vor!
Und selbst als die Schmerzen allmählich nachlassen fühle ich mich immer noch, als hätte ich mich körperlich völlig verausgabt.
Dennoch: Ich genieße das Gefühl, mit dem mein Kopf ganz schwer in ein Kissen sinkt!
In meinem safe room ist es (warum auch immer) zartgelb und herrlich weich. Ich nutze die täglichen 10 Minuten, um meinen Kopf wieder und wieder hineinsinken zu lassen, den Nacken zu strecken und die Schultern zu entspannen.
Mein Körper ist hier sicher!

Volles Programm

Der Frühling hat es in sich!

Die weise Hebamme unterstützt mich weiter darin, meine Träume zu interpretieren (siehe: Traumfrau), und es ist nicht ungewöhnlich, dass eine solche Sitzung drei Tage dauert. Jedenfalls für mich: Am Vortag übersetze ich Träume und/oder Überlegungen dazu ins Französische und bekomme erste Angstsymptome. Am Tag X selbst bin ich vor dem Termin aufgeregt bis panisch und danach fix und fertig: Dann muss ich erst einmal ins Bett. Am Tag darauf fühle ich mich, als hätte ich eine Mischung aus Ironwoman und Everest-Besteigung hinter mir.

Die Weise Meditierende (siehe: Drei weise Frauen) bietet einen weiteren Workshop an und ich stelle fest, dass ich diesmal, obwohl der Inhalt sich nicht allzu sehr verändert hat, die Meditation ganz anders erlebe, ganz neue Erkenntnisse daraus ziehe. Überflüssig zu erwähnen, dass ich am Tag nach dem mehrstündigen Auftakt, das Bett gehütet habe …

Meine Yoga-Praxis habe ich, nach einer Phase, in welcher sie mir nicht gut getan hat, auf traumasensibles Yoga umgestellt. Damit bin ich sehr zufrieden!
Obwohl ich seit über sechs Jahren mehr oder weniger stets die selben Übungen gemacht und sie immer als wohltuend und entspannend empfunden hatte, habe ich mich in der letzten Zeit gefühlt, als sei mein Körper anschließend sehr aufgeregt, als stünde ich unter Strom. Angenehm war das nicht!
Die traumasensiblen Übungen sind noch kleinteiliger als die, die ich bisher kannte, wirken wie Vorbereitungen auf das, was mir eh schon wie Yoga für Alte und Gebrechliche vorgekommen war. Und sie tun mir gut!
Die Lektüre des entsprechenden Buches allerdings hat mich an meine Grenzen gebracht – dazu ein andermal mehr.

Last not least lerne ich, mich selbst zu hypnotisieren!
Es war – und damit schließt sich sozusagen der Kreis – die weise Hebamme, die mir den Tip gegeben hat, dass die Schmerzabteilung der nächstgelegenen Universitätsklinik Hypnose anbietet.
An dieser Stelle kann ich – trotz aller Bemühungen um eine positive Weltsicht – ein gewisses Maß an Frust und Verbitterung nicht leugnen: Dass ich unter chronischen Schmerzen leide, ist durchaus keine Neuigkeit und ich hatte in besagter Klinik schon mehr als einen Termin!
Warum um alles in der Welt hat mich vorher niemand an diese Abteilung verwiesen?
Aber sei’s drum: Jetzt jedenfalls habe ich den Fuß in der Tür!

Bleibt nur noch, meine diversen Termine so zu koordinieren, dass ich mich vom letzten halbwegs erholen kann, bevor ich Angst vor dem nächsten bekomme …

Versuch’s doch mal mit Yoga!

Dieser Text ist einer lieben Freundin gewidmet, der Yoga schon so oft empfohlen wurde, dass sich ihr Nackenfell bereits bei „Yo …“ zu sträuben beginnt.

„Versuch’s doch mal mit Yoga!“ kommt gleich nach „Ausdauersport ist gut gegen Depressionen!“ und „sorg mal ein bisschen für dich, sei nett zu dir selbst: wie wäre es mit einem schönen, duftenden Schaumbad?“ …
Ausdauersport, vulgo „Joggen“ – das habe ich bestimmt mal erzählt – ist bei mir schon daran gescheitert, dass ich beim Anziehen der Socken in ein Dimensionstor geraten bin: Eine halbe Stunde nach dem Entschluss, mich anzuziehen, war Socke Nummer eins immer noch nicht am Fuß. Das Schicksal von Socke Nummer zwei liegt bis heute im Dunklen …

Aber die Nummer mit dem Schaumbad hab ich ausprobiert!
Das volle Programm: Brühheißes Wasser, reichlich duftender Schaum, Kerzen auf dem Wannenrand, eine Handvoll auf Vorrat gedrehter Zigaretten (da hab ich noch geraucht), ein heiterer Roman (Bridget Jones – damals bin ich wirklich vor nichts zurückgeschreckt) und – aber echt nur ganz ausnahmsweise! – ein Fingerbreit Whisky (Sekt war aus).
Hat’s nicht gebracht.

In die Sonne, oder eben in die Badewanne gehen, Sport treiben etc. ist natürlich auch für solche Menschen gut, die zu Depressionen und Ängsten neigen. Mit der Betonung auf neigen: Während einer Depression kann es schon eine erhebliche sportliche Herausforderung sein, das Bett zu verlassen, sich anzuziehen und sich einigermaßen regelmäßig zu waschen. Und tatsächlich gibt es Formen der Depression, bei denen all das nicht hilft. Wirklich nicht. Überhaupt gar kein Bisschen. Trotzdem ständig dazu aufgefordert zu werden, womöglich mit vorwurfsvollem Unterton („wenn du das nicht machen willst, bist du ja schon irgendwie selbst schuld …“) macht es nicht besser.


Warum ich dennoch Yoga praktiziere

Vor einigen Jahren habe ich begonnen, mich mit dem Thema „Achtsamkeit“ bzw. „MBCT – Mindfulness Based Cognitive Therapy (achtsamkeitsbasierte Verhaltenstherapie) zu befassen, wozu ein allmorgendlicher Bodyscan gehörte.

Rückblickend denke ich, zumindest für den Bodyscan war es noch zu früh: Ich habe die lebhafte Reaktion meines Körpers auf meine Versuche, seiner gewahr zu sein, zwar zur Kenntnis genommen, konnte aber nichts damit anfangen.
Zur Unterstützung der Übungen wurde Yoga empfohlen, genau gesagt: bestimmte Yoga Übungen.

Als kurz darauf im Dorf ein Yoga-Kurs angeboten wurde, hab ich nicht lange gefackelt.
Nicht, weil ich das unbedingt gewollt hätte. Ich fand, das sei Kismet: Der maximal unwahrscheinliche Umstand, dass irgendwo im Nirgendwo just dann ein Yogakurs angeboten wurde, als ich darüber nachdachte, einen zu besuchen. Sowas verpflichtet …
Und das Universum war mit mir: Wie der Zufall es wollte – aber das ist mir erst sehr viel später klargeworden – wurden dort genau die Übungen unterrichtet, die ich brauchte.
Heute weiß ich, dass es sich bei dem, was ich gelernt habe und immer noch lerne, um traditionelles und sehr kleinschrittig aufgebautes Hatha-Yoga handelt, damals war mir das – ehrlich gesagt – vollkommen schnuppe, da hatte ich ganz andere Sorgen.

Den Hof zu verlassen um ganz allein unter lauter fremden Menschen, deren Sprache ich nicht beherrschte, an ganz egal was teilzunehmen, hat mir anfangs solche Angst eingejagt, dass ich mit nichts anderem beschäftigt war. Trotzdem war es nicht einfach Erleichterung, was ich empfunden habe, wenn ich das Training wieder einmal überstanden hatte, sondern ich habe mich leicht und fröhlich gefühlt. Irgendetwas hat Yoga bewirkt, soviel war klar.
Und irgendetwas ist auch passiert, wenn ich das Training – zum Beispiel während der Schulferien, wenn der Kurs nicht stattfand – „geschlabbert“ habe. Dann bin ich regelmäßig in die Depression abgerutscht.
Gleichwohl war nicht alles eitel Sonnenschein, nicht alle Erfahrungen leicht und fröhlich: Yoga kann alte Emotionen berühren und aktivieren, die wir zwar aus unserem Bewusstsein eliminiert haben, die der Körper aber dennoch in Erinnerung behält. Die Tränenausbrüche und Panikattacken, die das Training auf diese Weise auszulösen vermag, fühlen sich höchst gegenwärtig an – ganz egal, wie alt die Erinnerungen auch sein mögen.
Bei mir war es insbesondere eine bestimmte Übung, die aus just diesem Grunde bis heute die „tränenreiche Torsion“ heißt – auch wenn sie unterdessen zu meinen liebsten Routinen zählt.

Anfangs also war Yoga ein Mittel im Kampf gegen meine Angst, später dann gegen die Depression. Als ich zunehmend unter Schmerzen zu leiden begann, habe ich die Übungen genutzt, um diese ertragen zu lernen: Selbst wenn es mir die Tränen in die Augen getrieben hat – es war immer noch möglich, zu atmen und mich zu entspannen, es gab immer noch etwas jenseits der Schmerzen.
Mittlerweile sind die Übungen fester Bestandteil meines Alltags und seit ich die passenden Medikamente bekomme, mache ich tatsächlich auch Fortschritte.

Mit den anmutigen Flows, die ich – zugegeben – hin und wieder selbst gerne bei Youtube bestaune, hat mein Tun dennoch nicht mehr gemeinsam, als dass beides auf einer Matte stattfindet.
Die Arbeit – die weise Yogini spricht tatsächlich von travail – findet in der Haupsache im Körper statt, mit viel hinein atmen, sich Millimeter für Millimeter in eine Haltung hinein entspannen, in sich hinein fühlen. Wenn die angestrebte posture dabei zunächst nur angedeutet wird, ist auch das in Ordnung und falls selbst das nicht möglich sein sollte, kann die Übung immer noch mental ausgeführt werden.
Gelegentlich ist mir schon der Verdacht gekommen, dass das der Grund ist, warum beim Training die Augen geschlossen werden: Damit ich nicht sehen muss, dass die Kniekehlen meiner gefühlt durchgestreckten Beine immer noch eine Handbreit vom Boden entfernt sind …
Andererseits schaffe ich es mittlerweile, Positionen zu halten, aus denen ich anfangs wie ein nasser Sack herausgeplumpst bin.

Als ich nun erfahre, dass Hatha-Yoga insbesondere in der Trauma-Therapie empfohlen wird, bitte ich die weise Yogini, mich bei meinen Bemühungen diesbezüglich zu unterstützen.
Außerdem hat mich dann doch ein gewisser Ehrgeiz gepackt: Ich hab versucht, mir selbst ein paar weitere Asanas beizubringen und möchte, dass sie draufschaut, ob ich alles richtig mache.

Ihr Gesichtsausdruck, als ich erzähle, dass ich Youtube-Videos anschaue, um mehr über Yoga zu lernen, ist schwer zu deuten, entspannt sich aber, bilde ich mir ein, als ich versichere, die Flows wirklich nur anzugucken
Sie hört sich geduldig an, was ich an Anregungen im Internet und in meinem dicken Yoga-Buch gefunden habe und lässt mich mehr als einmal wissen „Wenn du das Prinzip verstanden hast, kannst du das so machen! Dann kannst du alles so machen, wie du möchtest!“ …
Dann fragt sie, wo genau ich eigentlich die meisten Schmerzen habe und bittet mich, ihr zwei ganz unspektakuläre Übungen, die zu den absoluten Basics gehören, einmal vorzuführen.
Was es bedeutet, Wirbel für Wirbel abzurollen, habe ich schon im Schulsport gelernt – heute lerne ich, wie es ist, wenn jemand guckt, ob wirklich jeder einzelne Wirbel tut, was er soll …
Und siehe da: Das sind nicht nur die Stellen, die wehtun, sondern auch die, die ich beim Bodyscan nicht erreichen kann. Die Platte an der Stelle, wo mein Dekolletee sein sollte zum Beispiel.
Da rollt genau gar nix …

Während ich mich mit vor Anstrengung zitternden Muskeln bemühe, meine Rückenwirbel durchzuzählen, lösen sich meine Ambitionen, grazile Asanas einzunehmen, dezent in Luft auf: Ich möchte, dass die weise Yogini nach und nach alles, was ich bereits zu können geglaubt habe, noch einmal genau in Augenschein nimmt.

Der Moment der Wahrheit kommt, als sie mich fragt, ob ich auch Pranayama, die Atemübungen, praktiziere.
Ähm … ja … also … theoretisch schon! Ich nehme mir täglich vor, sie regelmäßig zu üben! Also: Ab morgen …
Tatsache ist: Ich hab enorme innere Widerstände!
Was die weise Yogini nicht überrascht: Traumata manifestieren sich im Körper und können daher die Atemübungen extrem erschweren.
Aber, sagt sie: Ohne Pranayama ist es kein Yoga!
Wir einigen uns darauf, dass ich in winzig kleinen Schritten noch einmal ganz von vorn beginnen werde.
Ich komme dieser Verpflichtung nach, weil ich weiß, sie wird fragen beim nächsten Mal … aber rechte Begeisterung will sich nicht einstellen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es „Übung“ heißt, weil man es üben soll – nicht weil man es gleich kann.

Außerdem, bringt sie mir schonend bei, sind auch Asanas und Pranayama lediglich ein kleiner Teil dessen, was Yoga umfasst. Ich bin fasziniert – auch und vor allem, weil sie zu leben scheint, wovon sie da erzählt – und mag mehr darüber lernen.
Ganz gleich, wie weit ich auf diesem Weg kommen mag: Ich bin sicher, ich gehe in die richtige Richtung!

Also doch „versuch’s mal mit Yoga!“?

Ich muss zugeben, dass ich an diesem Punkt wirklich an mich halten muss!
Mittlerweile nutze ich Yoga weniger, um Schmerzen ertragen zu lernen, sondern um sie zu lindern. Ich kann beginnende Depressionen einfangen, mich selbst zur Ruhe bringen und beginne, mich in meinem Körper mehr und mehr zu Hause zu fühlen.
Natürlich gönne und wünsche ich das auch anderen!

Ich glaube außerdem fest, dass, wer bereits über eine gewisse Routine verfügt, es schafft, sich zur Not vom Sofa auf die Matte plumpsen zu lassen, um da wenigstens den „toten Mann“ zu machen. Wenn’s gut läuft vielleicht auch noch ein, zwei andere Übungen, bei denen man bloß daliegt und atmet. Und ja: Schon das hilft!

Ich muss allerdings auch einräumen, dass ich erst einmal für geraume Zeit eine Art Eremitinnen-Dasein führen musste, bevor an „Yoga-Kurs“ überhaupt zu denken war.
Und ja: Ich hab ein Riesenglück gehabt, genau diesen Kurs bei genau dieser Lehrerin zu finden! Trotzdem musste ich mehrere Jahre daran teilnehmen, bevor ich die Wirkung so recht genießen konnte.

Jahaha, es fällt mir schwer! Es fällt mir schwer, weil ich ja helfen will!
Aber Tatsache ist, dass ich nicht nur den richtigen Yoga-Kurs gebraucht habe, nicht nur die richtige Yoga-Lehrerin, sondern auch den richtigen Moment. Den Moment, in welchem ich bereit war!

Diesen Moment kann ich jedem anderen Menschen nur wünschen!
Verordnen kann ich ihn nicht …

Patricia

… und der Versuch, etwas über meine Erkrankung zu erfahren

Wenn es um die Frage geht, ob ich meine Anliegen medizinischer Natur vertrauensvoll zu ÄrztInnen trage, oder mich doch lieber auf mich selbst und diverse Internet-Recherchen verlasse, bin ich ein ums andere Mal vollkommen hin und hergerissen.

Früher, als noch alles gut und sowieso mehr Lametta war, wäre es mir gar nicht in den Sinn gekommen, meine eigenen Symptome zu recherchieren – auch dann nicht, als das Googeln schon erfunden war. Ich fand, damit mache man sich erstens bestenfalls selbst verrückt, und zweitens sei Medizin ja nicht ohne Grund ein Hochschulstudium.

Und eigentlich finde ich das immer noch. Ich möchte das finden: Ich wünsche mir eine Medizin, die nicht nur auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse arbeitet, sondern außerdem Fach-oder gar Nischen-Expertise mit einem ganzheitlichen Ansatz vereint. Für die interdisziplinäre Arbeit eine Selbstverständlichkeit ist. Die bei aller Wissenschaftlichkeit den Menschen nicht aus dem Auge verliert.
Kurz: Die eierlegende Wollmilchsau.

Solange ich an solchen Beschwerden und Erkrankungen gelitten habe, die unkompliziert zu diagnostizieren und zu behandeln waren, hat mein Bedauern über das offensichtliche Fehlen eines solchen Wundertieres sich in Grenzen gehalten – es handelte sich um ein sogenanntes PAL („Problem anderer Leute“ – Näheres hierzu ist in Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“ nachzulesen). Wenn ich auch einräumen muss, dass die Endometriose, der Glomustumor und die Makuladegeneration geringfügig flotter hätten diagnostiziert werden können (siehe: Blindfisch) …

Sei’s drum … so richtig blöd ist es erst geworden, als die Symptome so gar nicht mehr greifbar waren, als alle Zeichen auf „psychosomatisch!“ zu stehen schienen.
In dieser Phase war schon der „Zwischenstop“ bei Borreliose eine ungeheure Erleichterung: Endlich gab es eine Diagnose, die sich ohne Wenn und Aber an den Blutwerten ablesen ließ!
Und es gab eine Therapie!
Nur: Die Symptome blieben …

Borreliose ist in Frankreich nicht als chronische Erkrankung anerkannt – ob dieses Krankheitsbild überhaupt existiert, ist meines Wissens auch in Deutschland umstritten.
Also war ich, was die heißersehnte Diagnose betraf, einerseits austherapiert, und nahm andererseits wieder an der „Verlosung“ teil.

An diesem Punkt habe ich entschieden, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Ich habe recherchiert, gegoogelt, mich Gruppen und Foren angeschlossen … immer auf der Suche nach Möglichkeiten, mir selbst zu helfen (mehr dazu hier).
Darein habe ich eine Menge Zeit und durchaus auch Geld investiert – leider ohne dass allzu viel dabei herausgekommen wäre.

Es ist, wenn man so will, dem französischen Gesundheitssystem zu verdanken, dass meine Bemühungen, mir selbst zu helfen, nicht ganz und gar ungebremst in Richtung Borreliose davongaloppierten: Die Suche ging ja weiter.
Und führte ins noch unerschlossene Land der Fibromyalgie …

Remember? Fibromyalgie war der erste Treffer meiner ersten Google-Suche bezüglich meiner Symptome …
Weil es sich aber um eine Ausschlussdiagnose handelt, habe ich mich nicht im Detail damit beschäftigt. Ich glaube immer noch, dass die Gefahr, Symptome bei sich selbst zu entdecken, umso höher ist, je mehr man sich mit einzelnen Krankheitsbildern befasst …

Aber hier war sie nun, die Diagnose. Und so war ich ganz entzückt, just in diesem Moment über einen kostenlosen Online-Kongress zum Thema Fibromyalgie zu stolpern!
Kongress klang gut! Wissenschaftlich irgendwie … und seriös … geballte Information aus verschiedenen Fachgebieten. Tolle Sache!
Sogleich habe ich mich dafür angemeldet.
Kaum war das erledigt, erreichte mich auch schon eine Mail, die sich versichern wollte, dass ich mein „Geschenk“ (irgendeine pdf) tatsächlich erhalten hätte.
Jo, hatte ich, also habe ich den Erhalt bestätigt.
Und habe damit sozusagen die Büchse des Kongresses geöffnet.

Umgehend wurde ich von meiner Ansprechpartnerin für den Kongress … nennen wir sie Patricia … überschwänglich begrüßt. Sie ließ mich außerdem wissen, dass ich die Kongressinhalte gerne gegen Entgelt erwerben könne. Was ich … nun ja … ein wenig übereilt fand, hatte der Kongress doch noch gar nicht begonnen. Aber offenbar ist Patricia ein außerordentlich zugewandter und fürsorglicher Mensch: Seitdem vergeht kein Tag mehr ohne sie und ihre Mails.

Mit Beginn des Kongresses entpuppte sich Patricia dann auch als dessen Moderatorin, die die Interviews mit den SpezialistInnen führte. Sie ist selbst Ärztin uuuuuuuund: Betroffene!
Honi soit, wer jetzt an gewisse eierlegende Säugetiere denken muss.

Die Aufnahmen von ihr wirkten, als säße sie an ihrem Schreibtisch, halte ihr Smartphone entspannt in den Händen und plaudere hinein … auf charmante Weise unprofessionell. Und vermutlich ganz professionell genau so gewollt: Denn auch wenn Patricia beständig den Eindruck zu vermitteln bemüht ist, sie habe diesen Kongress ganz allein aus dem Boden gestampft, weil das Thema ihr so sehr am Herzen liegt – dahinter steht ein ganzes Unternehmen.
Wie auch immer … vermutlich lag es an der verzerrten Perspektive, dass ihr breites Dauerlächeln wirkte, als habe sie mindestens 20 Zähne mehr, als andere Menschen. Dazu beseelt strahlende Augen und eine liebevoll-heitere Stimme. Verzückung pur.
„Es ist einfach wundervoll, mit unseren SpezialistInnen für Fibromyalgie sprechen zu dürfen!“ trällerte, ach was, jubilierte dies Gesamtkunstwerk unermüdlich, „sie haben wundervolle Erkenntnisse und noch wundervollere Behandlungsvorschläge!“.
Ich gebe zu: an diesem Punkt bin ich innerlich ausgestiegen.

Ich verstehe die Intention: Menschen, die, ebenso wie ich selbst, eine ganze Odyssee an Arztterminen hinter sich haben, die womöglich als HypochonderInnen belächelt und in die Psycho-Ecke gestellt wurden, die schon gar keine Lust mehr haben, sich noch ein weiteres Mal zu erklären, und die Hoffnung auf Linderung ihrer Symptome schon so gut wie verloren haben … solchen Menschen ist es Balsam auf ihre Seelen, endlich einmal liebevoll und voller Optimismus empfangen zu werden.
Wenn ich es mir so recht überlege, möchte ich das auch. Aber nicht von einem Online-Gesamtkunstwerk.

Zu Beginn des Kongresses habe ich mir einzelne Vorträge herausgepickt, die mir interessant erschienen, aber – sorry, Patricia! – bei den meisten bin ich über die Anmoderation nicht herausgekommen. Kaum begannen Deine Augen vor Begeisterung zu rollen, hab ich schaudernd vorspulen müssen und wusste den folgenden Vortrag gleich nicht mehr so recht zu würdigen.
Dein Hinweis in einem der Videos, der nun folgende Experte betreibe eine eigene Fachklinik, in der man sich (eine private Krankenversicherung vorausgesetzt) auch selbst behandeln lassen könne – Du habest es schon ausprobiert und es sei SO wundervoll gewesen! – hat es ehrlich gesagt auch nicht besser gemacht.
Überhaupt befremdet es mich, wenn der eingeladene Experte das Heilmittel, über welches er referiert, auch gleich selbst vertreibt. Im konkreten Fall hab ich das mir noch unbekannte Produkt aus schierer Neugierde gegoogelt: Ein Mittel gegen Husten – oder war’s Halsweh? – welches ganz hervorragend gegen Fibromyalgie wirkt, wenn diese Wirkung auch – leiderleider – bislang nicht nachzuweisen war.
Und so weiter und so fort …
Dass ich einen Teil der angepriesenen Präparate und Nahrungsergänzungsmittel (ulkig, was nicht alles gegen Fibromyalgie und Borreliose hilft!) gleich auf der Kongress-Website hätte bestellen können, hab ich noch zur Kenntnis genommen – ernsthaft beschäftigt hab ich mich nicht mehr damit.

Unterdessen sandte Patricia mir unverdrossen täglich eine Mail. Mindestens eine.
Stets mit dem Hinweis, ich könne das Kongresspaket käuflich erwerben – jetzt noch für NUR X Euro, danach dann für Y! Jeden Tag auf’s Neue. Falls mir das von gestern auf heute entfallen sein sollte …

Zwar hab ich nicht ein einziges Mal versucht, mir die für jeweils 24 Stunden freigeschalteten Videos alle anzuschauen, aber ich vermute, ein Mensch, der noch in der Lage ist, zu arbeiten, hat so viel Zeit nicht zur Verfügung, wer arbeitsunfähig krank ist, bringt die nötige Konzentration womöglich nicht auf.
Wer alle Videos sehen möchte, kommt also nicht umhin, diese zu kaufen.

Nach Ende des Kongresses, nahm ich an, werde die E-Mail-Flut abnehmen … aber weit gefehlt!
Ein Bonus-Tag jagte den anderen, stets mit dem Hinweis, ich könne das Kongress-Paket jetzt noch zum Preise von …
Mich hat das an den Fischverkauf auf Wochenmärkten erinnert, wenn der Marktschreier gegen Ende des Marktes immer noch und noch einen Fisch drauflegt …
Und es nahm kein Ende!

Patricia hat nämlich – Ihr glaubt es nicht! – ein E-Book zum Thema veröffentlicht!
Mein absolutes Highlight war diejenige ihrer Mails, in welcher ich klipp und klar gefragt wurde, was mich eigentlich noch hindert, dieses ver****** E-Book zu bestellen …
Und es hört nicht auf: Ich kriege immer noch Mails.
Klar, ich könnte die abbestellen. Aber ich wollte mal gucken, wie lange diese virtuelle Kaffeefahrt, die die Verzweiflung chronisch kranker Menschen für ihre Zwecke ausnützt, wohl noch andauert.


Sowohl Fibromyalgie als auch chronische Borreliose zählen zu den sogenannten unsichtbaren Erkrankungen, denen Menschen, die nicht betroffen sind, oft mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüberstehen („Wie, du bist krank? Du siehst total gesund aus! Reiß dich mal zusammen!“). Nach wie vor gibt es auch MedizinerInnen, die ihre Existenz schlichtweg bestreiten. Die Symptome sind vielfältig und schränken die Lebensqualität der Erkrankten extrem ein. Beide sind nicht heilbar und die Symptome lassen sich nur bedingt behandeln. Immerhin verlaufen sie nicht tödlich, was möglicherweise eine Erklärung dafür ist, dass Medizin und Forschung nicht alles unternehmen, um ein Heilmittel dafür zu finden. Medizinische Forschung ist teuer und augenscheinlich gibt es Erkrankungen, deren Erforschung lohnender erscheint. Das hat eine gewisse Logik, ist aber schwer einzusehen, wenn man selbst darunter leidet.

An diesem Punkt – wenn die böse Schulmedizin die Menschen „mal wieder“ im Stich lässt – tritt die gute Alternativmedizin zu deren Rettung an.
Mal abgesehen davon, dass der Begriff „Schulmedizin“ aus dem Nationalsozialismus stammt … wenn ich einmal annehme, dass die Pharmaindustrie ausschließlich an Gewinnen interessiert ist, an Fibromyalgie-Erkrankten jedoch nichts verdient, weil die Krankheit als nicht heilbar gilt, es aber HeilpraktikerInnen gibt, die sie dennoch zumindest zu lindern vermögen, indem sie solche Präparate verkaufen, die die selbe geschmähte Pharmaindustrie produziert … halt nur nicht auf Rezept … merkt Ihr selber, gelle!
All die gepriesenen Diäten, Behandlungen und Präparate haben eines gemeinsam: Ihre Wirksamkeit ist nicht nachgewiesen.
Mit ein paar Ausnahmen: Bleichmittel, Terpentin und Wurmkuren haben natürlich nachgewiesenermaßen eine Wirkung. Hier halt nur nicht die erhoffte.

Bin ich also eine gläubige Jüngerin der Schulmedizin?
Ich würde sagen: Nein.
Eher würde ich mich als Rundum-Agnostikerin bezeichnen.

Soll ich Euch mal ein Geheim verraten?
Wisst Ihr, was prima gegen Insektenstiche und die Quaddeln von Brennnesseln hilft?
Draufpinkeln! Ich schwör!
Das wüsste ich nicht, wenn ich nicht bereit gewesen wäre, es mal auszuprobieren.
Nicht alles, was hilft, muss unbedingt aus einem Medikamentenschächtelchen kommen!
Aber ich lasse mir nicht gerne mit windigen Versprechungen das Geld aus der Tasche ziehen. Schon gar nicht mit einer solchen Penetranz.

Nachträge

29. September 2020

Heute war es soweit: Der Termin in der Universitätsklinik in Montpellier, Abteilung für seltene Erkrankungen!
Auf den ich seit einem halben Jahr gewartet habe.
Ich hatte bis zum Schluss Sorge, dass er wegen der Pandemie abgesagt wird.

Angst hatte ich auch: Dass ich ohne Begleitung kommen muss, mich nicht zurechtfinde, Verständigungsprobleme habe, Panik bekomme und zusammenbreche …
Die Aufnahmeformalitäten musste ich tatsächlich alleine über die Bühne bringen, davor hatte ich mich ganz besonders gefürchtet. Aber ich hab’s hingekriegt und mich auch anschließend nicht verlaufen.

Ich wusste gar nicht, wovor ich außerdem mehr Angst haben sollte: Ein weiteres Mal schulterzuckend ohne Befund weggeschickt zu werden, oder eine Diagnose mit den bedauernden Worten „da können wir nichts machen“ zu bekommen …
Und gleichzeitig hab ich mir so einen TADAAAAH!!! Moment vorgestellt, in dem ich endlich erfahre, was mir eigentlich fehlt.

Aber nichts dergleichen.
Ich werde demnächst stationär aufgenommen, um noch ein paar Untersuchungen zu machen.
Allein in Montpellier.
Immerhin geht’s jetzt mal weiter!

03. November 2020

Zurück vom HOUSEflug nach Montpellier.

Die Klinik wird gerade umgebaut und im Laufe des Tages habe ich mitbekommen, dass selbst die MitarbeiterInnen Schwierigkeiten haben, sich in dem Gebäude noch zurechtzufinden – man steht plötzlich in Fluren voller abgedeckter Möbel, leeren Gängen mit nackten Betonwänden … oder gleich ganz auf dem Hof.

Ich hab eine gute halbe Stunde gebraucht, um mich zum Hôpital de jour durchzufragen.
Und bei der anschließenden Blutdruckmessung gleich mal den Alarm aktiviert.
Bis auf weiteres ist mein Pipi radioaktiv und ich habe eine blutige Unterlippe.
Letztere hatte durchaus Unterhaltungswert:
Um der Ärztin – links neben dem Bett – einen guten Blick auf das mit einem Skalpell zu biopsierende Gewebe zu gewähren, sollte ich an der ihr zugewandten Bettkante liegen, was dazu führte, dass die Schwester rechts neben dem Bett sich quasi zu mir legen musste, um mit beiden Händen meine Unterlippe nach außen zu stülpen.

Mit dergestalt fixierter Unterlippe auch nur die Frage „ça va?“ zu beantworten, ist schwierig bis unmöglich.
Iffifil e pa rir“ (c’est difficile de ne pas rire) scheint dennoch angekommen zu sein: Bei der Vorstellung, wie unser Anblick wohl gewirkt haben mag, bin ich fast geplatzt vor Lachen.

Unter Strom gesetzt und mit Nadeln gepiekt hat man mich auch.
Jetzt bin ich gespannt auf die Ergebnisse.

22. Januar 2021

Ich hab ja gedacht, noch schlimmer als mit der verzweifelten Suche nach der Tagesklinik könne es mich in Montpellier kaum erwischen, aber diesmal ist meine größte Angst wahr geworden: Ich musste unbegleitet zum Gespräch antreten.

Auf meinen schüchternen Einwand hin, mein Französisch sei nicht sonderlich gut, meinte der freundliche Herr im weißen Kittel, das sei nicht schlimm. Seines auch nicht!
Voller Hoffnung, seine Muttersprache sei Englisch oder womöglich Deutsch, hab ich gefragt, was er denn sonst noch spreche …
Okzitanisch.

Prima, hab ich gesagt, da kann ich drei Worte! In Wirklichkeit ist es nur eines …
Dem Sekretariat, welches meldete, meine Begleitung sei nun da, teilte er mit, die werde nicht benötigt, er spreche sehr gut Deutsch.
Tat. Er. Nicht.

Er interessierte sich auch gar nicht für meine Schmerzen, sondern umso mehr für mein Verhältnis zu meinen Eltern, was mich zunächst sehr gewundert hat, glaubte ich doch, einen Termin beim Schmerzspezialisten zu haben. Tatsächlich saß ich dem Neurologen gegenüber.

Davon einmal abgesehen, war es ein wirklich gutes Gespräch!
Ich meine das absolut ernst: Ich hab lachen müssen, als ich mir vorgestellt habe, dass mein einziger Beitrag zu einem Gespräch auf Okzitanisch „Seidenraupe!“ lauten würde, hab mich über die Absurdität der ganzen Situation amüsiert und darüber meine Angst vergessen.

Er hat ruhig und langsam gesprochen und sich regelmäßig versichert, dass ich ihn wirklich verstehe. Für meine radebrechenden und gestikulierenden Bemühungen, ihm zu antworten, hat er viel Geduld aufgebracht.

Um mir schließlich zu erklären, dass ich zum Einen an Fibromyalgie leide, zum Anderen an einem ererbten Leiden aus meiner Kindheit und einer komplexen Abstammung (souffrance hérité de l’enfance et de parent complexe) sowie einer reaktiven Depression.

Fibromyalgie sagte mir was: Das war der erste Treffer, den ich ergoogelt habe, als ich meine Symptome eingegeben habe.

Was nicht bedeutet, dass ich genial und alle beteiligten ÄrztInnen unfähig wäre(n): Es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose – wenn es drölfzig andere Erkrankungen definitiv nicht sind, dann ist es diese.
Oder anders und gallig formuliert: Wenn einem sonst nix mehr einfällt, ist es Fibromyalgie.

Das ererbte Leiden aus der Kindheit habe ich mir mit ererbtem Trauma / Bindungstrauma übersetzt.
Was die reaktive Depression betrifft, hat er sehr gezielt nach einem Ereignis vor einer ganz bestimmten Anzahl von Jahren gefragt: Und tatsächlich war da was.
Soweit ich verstanden habe, ist mir zu diesem Zeitpunkt etwas ähnliches passiert, wie eine Impfung, die aufgefrischt wird. Wenn ich das als „Retraumatisierung“ lese, dann passt das.
Ich frage mich, wie das Gespräch verlaufen wäre, wenn der Arzt nicht sozusagen offene Türen eingerannt hätte. Wenn all das neu für mich gewesen wäre.
Vermutlich hätte es mich umgehauen.

Umgehauen haben mich dann zunächst einmal die verordneten Medikamente.
Der Arzt hatte die ganze Zeit von „Gouttes“ (Tropfen) gesprochen … für mich klang das nach einem homöopatischen Mittel, obwohl mich schon überrascht hat, dass dergleichen an Universitätskliniken verordnet wird …

Homéopathie très forte“ meinte der Apotheker und war sichtlich erheitert: Hinter den Gouttes verbargen sich Benzodiazepine.

„Forte“ war die Wirkung tatsächlich: Nach einigen grenzkomatösen, ansonsten aber wenig hilfreichen Wochen hab ich die blauen Tropfen mit Pfirsichgeschmack wieder abgesetzt.

Antidepressiva zu nehmen, habe ich lange Zeit überhaupt nicht eingesehen, hatte ich doch mein ganzes Leben umgekrempelt, um keine mehr nehmen zu müssen.
Mittlerweile muss ich einräumen, dass es auch hochwirksame Schmerzmittel sind.
Oder besser: Ich kann es jetzt einräumen.
Weil es jetzt nicht mehr wie „keine Ahnung, was mit ihnen los ist, versuchen sie’s doch mal mit Antidepressiva!“ klingt.

In Kombination mit ein paar weiteren Präparaten geht es mir im Großen und Ganzen prächtig.

29. September 2021

Wir waren mal wieder in Montpellier …
Den Spezialisten für seltene Erkrankungen werde ich nicht wiedersehen: Ich hab keine.
Für eine Autoimmunerkrankung spricht auch nix.

Abgesehen von ein paar Phänomenen, wie zum Beispiel meinem immensen Verbrauch an Vitamin B12 und L-Carnitin, die sich niemand erklären kann, alles tippi toppi.

Damit bleibt es dann wohl bei Fibromyalgie

Fun fact: Meine Blutwerte sprechen dafür, dass ich mich tatsächlich sehr ausgewogen ernähre.

Das Schweigen der Taucherin

Wenn eine Bloggerin, die von ihrem Leben mit Depressionen berichtet, ganz und gar verstummt, kann das ein Grund zur Besorgnis sein – oder eine gute Nachricht!
Bei mir ist letzteres der Fall: Es geht mir gut. Wenn ich heute einen wirklich schlechten Tag habe, dann habe ich so ziemlich genau das, was gesunde Menschen meinen, wenn sie (zum Missvergnügen derjenigen, die sich mit einer psychischen Erkrankung herumschlagen) „Das kenn ich, das geht mir manchmal ganz genauso!“ sagen.
Der Plan, mein Leben so zu verändern, dass ich es ohne Angst und Depression leben kann, ist aufgegangen. Darüber gibt es nicht mehr groß was zu erzählen.

Stattdessen sind, zu meiner nicht geringen Überraschung, die Ursachen meiner Erkrankung in den Fokus gerückt, von denen ich bisher immer angenommen hatte, sie seien schlicht nicht ausfindig zu machen.
Mit schwarzer Pädagogik habe ich mich eher zufällig und aus einem ganz anderen Grund zu beschäftigen begonnen, merke aber immer wieder, dass entsprechende Literatur irgendetwas in mir trifft, mich weinen macht und aus der Fassung bringt, so dass ich beim Lesen viele Pausen machen muss. Manches scheine ich schon in der Sekunde wieder zu vergessen, in der ich es wahrgenommen habe, gerade so, als wollte mein Gehirn nichts damit zu tun haben.
Dass ich zu den sogenannten KriegsenkelInnen gehöre, den Kindern der Kinder also, die den zweiten Weltkrieg mit tiefen Traumata überlebt haben, war mir bewusst. Wie umfänglich sich dieses „Erbe“ auf das Leben der Betroffenen auswirkt (und wie typisch meine Lebensgeschichte in vieler Hinsicht ist) erlese ich mir erst jetzt. Auch das mit vielen und langen Pausen.

Bis ich hierüber selbst zu schreiben in der Lage bin, wird noch eine Menge Zeit vergehen, dessen bin ich mir sicher.

***

Über mein Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers zu schreiben, schien mir ebenfalls ein lohnendes Unterfangen zu sein, allerdings konnte ich in diesem Moment nicht ahnen, wie zermürbend die nächsten Monate sein würden.
Irgendwann waren alle Ausschlussuntersuchungen gemacht, aber es gab keine Diagnose, sondern immer nur neue, unerklärliche Symptome.

Der bereits bestens bewährte Entengang erweiterte sich um eine Art Hühnerflügel-Position der Arme, die dabei half, im Zweifel das Gleichgewicht zu halten.
Zuweilen hat es sich angefühlt, als würden meine Beine wahlweise über ein paar Gelenke zu viel, oder aber zu wenig verfügen. Wer schon einmal versucht hat, Pedalo zu fahren (zwei etwa fußgroße Brettchen zwischen drei Räder-Paaren, auf denen balancierend man sich, mit einer Bewegung wie beim Fahrradfahren, vor- und zurückbewegen kann), kann sich das Zuviel an Gelenken vermutlich vage vorstellen. Das Zuwenig betraf häufig die Knie, die plötzlich zu fehlen schienen, was zu einer Art Stelzengang führte.
Je zügiger ich (womöglich bergauf) zu gehen versucht habe, desto unkoordinierter und langsamer wurden meine Bewegungen. Bis an schlechten Tagen gar nichts mehr ging.
Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es eine Frage der Konzentration war: Auf dem Hof, wo ich jeden Weg und Steg gut kenne, bin ich die meiste Zeit relativ gut klargekommen. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt jedoch musste ich achtgeben, wohin ich überhaupt wollte, keine PassantInnen anrempeln, eventuelle Hindernisse vermeiden, nicht über die Bordsteinkante stolpern, auf den Verkehr achten … das war viel zu viel, zum halbwegs normalen Gehen haben die Kapazitäten nicht mehr gereicht. Mit jedem Meter bin ich immer langsamer und immer eieriger vorangekommen und ich hab mir oft sehr gewünscht, wie eine ganz alte Dame am Arm geführt zu werden.

Entsprechende neurologische Untersuchungen waren samt und sonders ohne Befund. Bis eine junge Neurologin auf meinen Einwand hin, die zwei Meter ebenen Linoleumbodens in ihrem Untersuchungszimmer könne ich natürlich ohne Probleme überwinden, auf die Idee kam, mich einmal zügig den Gang der neurologischen Station entlanggehen zu lassen.
Zusammen mit meinen Freundinnen Ente und Huhn habe ich auch das prima hingekriegt und bin nur beim Wenden kurz mal aus dem Gleichgewicht geraten. Dann jedoch trat ganz unverhofft aus einem der Untersuchungsräume jemand in meinen Weg. Zumindest schien mir das so – später habe ich mir erzählen lassen, ich hätte reichlich Platz gehabt und einfach weitergehen können.
Die Vollbremsung, die mir in diesem Moment nötig schien, hat mich um ein Haar von den Füßen gerissen, mein Oberkörper kippte zu einer schwungvollen Verbeugung nach vorn, während beide Arme heftig ruderten um dabei nicht lang hinzuschlagen.
Das immerhin machte Eindruck, hinterließ ansonsten aber nichts als Ratlosigkeit.

Als nächstes waren meine Hände betroffen: Wenn ich nicht sehr konzentriert und vorsichtig zu Werke gehe, lasse ich kleine Dinge fallen, oder schleudere sie von mir. In etwa so, wie wenn man versucht, einen Marmeladen-Toast ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen an den Kanten zu halten und ihn stattdessen in eine Salto-ähnliche Drehung versetzt.
Zunächst habe ich mich gewundert, warum in meiner Gegenwart neuerdings so viele Dinge um- oder irgendwo herunter fallen, bis mir klar wurde, dass auch meine Arme ein Eigenleben führen. Weil sie das auch dann tun, wenn ich zum Beispiel Holz ins Feuer lege, verbrenne ich mich regelmäßig. Da trifft es sich gut, dass auch mit meinem Schmerzempfinden etwas nicht in Ordnung zu sein scheint: Ich kann zwar aus dem Umstand, dass es Brandblasen und zuweilen auch Narben gibt, schließen, dass ich mich ganz ordentlich verbrannt haben muss, aber sonderlich weh tut es nicht.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich mit Messern mittlerweile sehr sehr vorsichtig umgehe.

Im Restaurant zu essen hat sehr an herausfordernden Aspekten gewonnen. Ich habe mir zwar angewöhnt, alles, was ich vom Tisch fegen könnte, unauffällig aus dem Weg zu räumen, aber allein die Außenreize (ein unvertrauter Raum, fremde Menschen, Musik) saugen so viel Aufmerksamkeit ab, dass für die Handhabung von Messer und Gabel nicht genug davon übrigbleibt. Ich hantiere ungeschickt und regelmäßig fällt mir auf dem Weg zum Mund das Essen von der Gabel. Blattsalat ist eine Katastrophe.
Ein Gang zur Toilette will gut überlegt sein. Die Restaurants in Alès sind oft recht eng … Ich stehe also zunächst einmal auf (und hoffe, dass keines meiner Beine ausgerechnet jetzt wegknickt) und peile die Lage: Wo zwischen den Tischen muss ich lang? Wo kann ich mich gegebenenfalls festhalten und wo lieber nicht (die Schultern sitzender Gäste zum Beispiel bieten sich zwar an, sollten aber wirklich nur im Notfall gepackt werden)? Kann mir ein/e KellnerIn in die Quere kommen? Das alles will sorgsam geplant sein, bevor ich mich dann ganz langsam auf den Weg mache.

Die Menschen in Südfrankreich, so scheint es, sind entweder sehr ignorant, oder außerordentlich gelassen: Ich habe bisher nie den Eindruck gehabt, angestarrt zu werden.
Es ist mir auch nicht peinlich, so ungeschickt zu sein – oder jedenfalls nur selten: die Momente, in denen mir das Essen von der Gabel fällt, kann ich überhaupt nicht leiden. Ich glaube, die meiste Zeit fehlt es auch für Schamgefühle an den nötigen Ressourcen – dafür bin ich in diesen Momenten schlicht zu beschäftigt. Allerdings scheine ich auch nicht alles selbst mitzubekommen: Wie lange es dauert, zum Beispiel, bis ich mich, nachdem ich aufgestanden bin, um mich besser orientieren zu können, tatsächlich in Bewegung setze.
Aber es ist anstrengend, weil ich alles, was anderen Menschen ganz nebenbei gelingt, mit Bedacht tun muss.

Ich hätte nie gedacht, dass, obwohl keines meiner Symptome unerträglich ist, das schiere „krank sein“ einen Menschen so sehr beschäftigen, ja geradewegs absorbieren kann. Wie ermüdend das ist!
Und ich habe schnell die Lust verloren, darüber zu reden.

 

Was soll ich denn antworten, auf die Frage, wie es mir geht?
„Als ich aufgewacht bin, war mein linker Arm so taub, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Hand zu bewegen. Hab ich mal erwähnt, dass sie bei der Küchenarbeit häufig verkrampft, so dass die Finger stocksteif in alle Richtungen zeigen? Die muss ich dann mit der anderen Hand wieder zurechtbiegen und wenn es ganz arg ist, setze ich mich drauf – dann ist Ruhe. Aber mit der Arbeit komme ich so natürlich nicht voran. Heute hab ich Hilfe gebraucht, um mich im Bett aufzusetzen, aber immerhin bin ich überhaupt vor Mittag in die Gänge gekommen. Apropos Gänge: Das Gehen fällt ein bisschen schwer heute. Aber die Schmerzen sind ganz gut auszuhalten. Manchmal allerdings durchfahren mich Stiche, die so wehtun, dass ich laut aufschreie. Ich weiß nie, wann das passiert, deswegen hab ich immer ein bisschen Angst. Und ich hoffe sehr, dass mir das nicht irgendwann im Yoga-Kurs passiert. Aber dorthin zu fahren schaffe ich es eh nicht oft – wenn das linke Bein richtig zickt, weiß ich ja nicht, ob ich die Kupplung getreten kriege und meinen Armen traue ich auch nicht so recht. Aber sonst geht’s eigentlich.“

Wer um alles in der Welt soll sich das anhören? Und selbst wenn es solche wohlmeinenden Menschen gibt: Variationen dieses Textes wären an jedem verdammten Tag meines Lebens die Antwort. Schlimm genug, dass ich mich damit beschäftigen muss – ich will das nicht auch noch in Worte fassen.

Darüber zu schreiben will auch keine rechte Freude machen und das nicht nur, weil ich es selbst schon lange nicht mehr hören kann. Ich kann mich auch nicht mehr schreiben hören: Bisher sind die meisten meiner Texte entstanden, während ich eigentlich etwas anderes getan habe – spazieren gehen oder Auto fahren zum Beispiel. Anschließend musste ich sie nur noch abtippen.
Aber abgesehen davon, dass ich zu beidem nur noch selten in der Verfassung bin, scheinen die Worte in der anschließenden Erschöpfung zu verfliegen. Sie verschwinden meist lange bevor sie den Weg über die Tastatur finden.

Und sie stolpern in erschreckendem Ausmaß.
Es ist nicht bei Buchstabendrehern oder gänzlich verwirbelten Kombinationen geblieben, sondern ich habe begonnen, Wörter völlig willkürlich durch andere zu ersetzen. Wörter mit drei Buchstaben zum Beispiel finden ganz und gar beliebig Verwendung. Zuweilen wirkt es, als hätte ich eine eingebaute Spracherkennung mit Gehörschaden – ich schreibe mehr, wenn ich Meer schreiben will, oder nähen statt Mähne, wobei die Groß- und Kleinschreibung witzigerweise stets korrekt ist. Beim Buchstabieren der Worte selbst allerdings hapert es, das mache ich plötzlich so, wie man es spricht: neulich zu meinem Entsetzen unfähr statt unfair.
Für einen Rechtschreib-Freak wie mich, der Postings in Social Media gewohnheitsmäßig Korrektur liest, bevor die Enter-Taste gedrückt wird, ist das die Hölle auf Erden.
Es ist mir peinlich und es macht mir Angst.
Bis jetzt bemerke ich die meisten Fehler schon beim Schreiben und bei den wenigen, die ich tatsächlich übersehe, weiß außer mir ja niemand, dass es nicht die Autokorrektur ist, die da blühenden Unfug produziert, sondern mein Gehirn.
Was aber, wenn mir das nicht mehr gelingt?

Ich hätte mir, wird mir allmählich klar, sehr darin gefallen, darüber zu schreiben, wie ich mit einer chronischen Erkrankung zurechtkomme. Aber ich muss feststellen, ich komme nicht zurecht. Jedenfalls nicht so, dass ich etwas Kluges, Durchdachtes, oder gar Wegweisendes zu diesem Thema zu sagen hätte. Wenn es eine Diagnose gäbe, stelle ich mir vor, wüsste ich, womit ich es zu tun habe und könnte (hoffentlich) irgendwie damit umgehen. Stattdessen trage ich ein Wischiwaschi von Fachärztin zu Facharzt und hoffe jedes Mal auf’s Neue, dass es diesmal nicht mit einem Schulterzucken endet.
Die derzeitige Hoffnung klammert sich an die Abteilung für seltene Erkrankungen einer Universitätsklinik. Und sie wird eine Weile durchhalten müssen, die Hoffnung: Der Termin ist erst im Herbst.

Kirmes im Kopf

Zu den Nebenwirkungen von Antidepressiva gehören unter anderem Manien. Ich bin geneigt, diesen Umstand für eine Art wohlwollende Ironie des Schicksals zu halten: Wem es so elend geht, dass er Antidepressiva nehmen muss, der hat ein Gottesgeschenk in Form eines Kicks verdient!
sophie_portraitpue_2Denn nichts anderes ist eine Manie: Ein opulenter Kick, ein Hoch, das mit „guter Stimmung“ ungefähr so viel zu tun hat, wie ein Tsunami mit der Brandung an der Nordseeküste.
In aller Regel handelt es sich hier um ganz leichte manische Episoden, die rasch zuende gehen, aber schon eine solche Bonsai-Manie ist eine beeindruckende Erfahrung!
Antriebslosigkeit und Fatigue sind wie weggeblasen, das Schlafbedürfnis lässt so rapide nach, dass man problemlos auch ein, zwei Nächte durchmachen kann. Die Stimmung ist nicht gut, sie ist Groß!Ar!Tig!. Und sehr sehr heiter. Nicht immer vermögen andere Menschen die enorme Witzigkeit des Momentes so recht zu würdigen, aber das stört nicht weiter: Wenn sonst keiner lacht, muss man’s selber machen! Die Kreativität steht dem Humor in nichts nach und das Gehirn sprudelt eine Idee nach der anderen hervor. Da gleichzeitig die Konzentrationsfähigkeit ihren Jahresurlaub in Disney World verbringt und Priorisierung oder auch nur Reihenfolge urplötzlich Fremdworte sind, verzettelt man sich glorios und wird vermutlich 99% dieser fantastischen Einfälle nicht zuende bringen. Was in gewisser Weise ein Segen ist: Die Urlaubsvertretung der Konzentrationsfähigkeit heißt „erhöhte Risikobereitschaft“.

Kurz: Eine Manie zu durchleben, ist nicht ganz ungefährlich!
Menschen, die an schweren Manien leiden schwere Manien haben, ruinieren unter Umständen nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familien. Sie verjuxen ihr Vermögen wahlweise an der Börse oder im Casino, weil sie eine großartige Idee haben. Oder sie balancieren über Dachfirste, weil sie der Überzeugung sind, das zu können. Wie das für die betreffenden Menschen ist und welche Konsequenzen es nach sich zieht, schildert Leonard in seiner Mind Comedy sehr anrührend.

sophie_wetpueDass es auch beim Ausschleichen eines Antidepressivums – also als Entzugserscheinung – zu Manien kommen kann, war mir neu. Logisch eigentlich: Auf welchem Beipackzettel steht schon, was passiert, wenn man das Medikament nicht nimmt?
Antidepressiva muss man ausschleichen, das weiß ich – die darf man nicht einfach absetzen. Aber dass jetzt Wirkungen eintreten, die ich beim Einschleichen nicht bemerkt habe, überrascht mich schon!
Aber hey! Das hätte echt schlimmer kommen können! Die Kopfschmerzen zum Beispiel, die ebenfalls neu sind, sind echt kacke. Welcome mania!!!

Okay, es ist gewöhnungsbedürftig, wenn mein Körper „oh bitte, ich muss liegen!“ stöhnt und mein Gehirn gleichzeitig „Go! Go! Go!“ (Textentwürfe, Kochrezepte und sonstige Ideen laufen parallel auf anderen Sendern) kräht.
Und ich merke selber, dass es irgendwie nervig sein muss, wenn ich anderen keine 5 Minuten (lustige Zeiteinheit, das wären ja bereits 300 Sekunden, einunzwanzig, zweiundzwanzig …, Anm.d.L.) lang zuhören kann. Ich gebe mir alle Mühe, ehrlich! Aber dann poppt eine weitere großartige Idee hoch und Minuten später merke ich, dass ich irgendwas verpasst habe … Ich selber quassele ohne Punkt und Komma. Von Hölzken auf Stöcksken …

So lange ich noch selber merke, dass ich manisch bin, ist die Welt soweit in Ordnung!
Sollte ich das nicht mehr merken, wird mich jemand notfalls auch gegen meinen Willen zum Arzt bringen, für diesen Moment habe ich vorgesorgt.
Und momentan lasse ich selbst die allerkleinsten meiner Ideen vorsichtshalber abnicken, bevor ich sie in die Tat umsetze.

Bislang sind viele dieser Ideen tatsächlich brauchbar! Ich bin eine Art „One woman brainstorming“!
Nicht alle werde ich selbst realisieren können, dazu bin ich körperlich gar nicht in der Lage.
Aber zur Zeit verfasse ich diverse Texte gleichzeitig und nicht alle haben schon den Weg über die Tastatur gefunden, etliche sind einfach in meinem Kopf gewachsen, während ich eigentlich etwas ganz anderes gemacht habe. Ich bin sehr gespannt, ob ich die wirklich alle zuende bringe!

Für die Bewältigung meines Alltags dagegen, muss ich deutlich mehr Zeit einplanen. Ich verfüge über die Aufmerksamkeitsspanne eines Kolibris und mein Paddelkoeffizient ist enorm:
Ich setze an, die Medikamentenkiste wegzuräumen und denke „Nee. Die wird noch gebraucht, um dem Hund seine Medikamente unter’s Futter zu mischen! Fütter erst den Hund und räum die Kiste danach weg!“. Ich räume die Kiste weg, gehe los, um das Hundefutter zu holen und komme mit den Zutaten für unser Abendessen zurück …Wenn der Himmel bedeckt ist, funzt die Solaranlage nicht, dann mach ich mein „Duschwasser“ hilfsweise auf dem Herd warm.„Du hast den Waschlappen vergessen!“ denke ich auf dem Weg zum Badezimmer, komme aber zu dem Schluss, dass es auch ohne geht. Das Litermaß, mit dem ich mir das Wasser über den Kopf schütte, ist auch nicht mit von der Partie … das ist schon sehr viel ungünstiger. Und JETZT fällt mir auf, dass der Eimer mit heißem Wasser, in dem Waschlappen UND Litermaß schwimmen sollten, auch noch in der Küche steht …

Dankenswerterweise betrachte ich auch das, wenn schon nicht mit Erheiterung, so doch mit Gelassenheit. Ich würde mich schon unter normalen Umständen nicht als pessimistischen Menschen bezeichnen, aber im Moment könnten sich von meiner Weltsicht diverse Dankbarkeits-Apologeten eine Scheibe abschneiden. Wenn einem schubweise nicht nur siedendheiß, sondern auch kotzübel wird, kann man das auch gut brauchen.

sophie_portraitpueSchon seit ein paar Tagen fällt mir auf, dass ich sehr geräuschempfindlich geworden bin und dann hin und wieder auch erschrecke …
Eine Fahrt in die Stadt macht deutlich, wie ausgeprägt diese Sensibilität ist. Normalerweise, bilde ich mir ein, bin ich eine entspannte, pflegeleichte Beifahrerin – jetzt muss ich mich alle paar Meter entschuldigen, weil ich wegen nix und wieder nix eine Art „Oh mein Gott, wir überfahren gerade ein Kind!“ Reaktion produziere. Der Gestank ist unfassbar und ich bekomme eine Ahnung davon, wie sich hypersensible Menschen fühlen müssen. Aber auch die visuellen Reize sind überwältigend: Jeder Mensch, glaube ich, kennt Momente wie den, wenn man zum ersten Mal in eine Kathedrale kommt, nach oben schaut und innerlich „Wow!“ haucht …
Ich habe meinen „Wow!“ Moment mitten in Alès, einer Stadt, deren Architektur sich vor allem anderen durch Mut zur Hässlichkeit auszeichnet. Aber „wow!“, da flattert auf der Baustelle eine Plane im Wind! Vor dem „WOW!“ Himmel! Ich bin „WOW!!!“ völlig geflashed …

Als ob das noch nicht genug wäre, gehen wir zum ersten Mal in das große Kino. Nachmittagsvorstellung – vorsichtshalber – weil ich ja viele Menschen in großen Räumen nicht gut aushalten kann.
Weil wir früh dran sind, sitzen wir ganz allein in einem Saal für 100 Zuschauer. Ich kann die Stille rauschen hören. Und spüre den sanften Druck, den die Leere auf meinen Körper ausübt. Wow!
Und dann darf ich „Alita – Battle angel“ sehen, wie Kinder es tun! Mit offenem Mund, völlig distanzlos, hingerissen …
Es gelingt mir immerhin, nicht lautstark mitzukämpfen und ich springe auch nicht aus meinem Sessel auf. Angesichts der 3D Version, die wir leider verpasst haben, hätte ich mit Sicherheit jede Contenance verloren …
Was für ein Abenteuer! Ich könnte heulen vor Dankbarkeit.
Ich bin ganz und gar gefangen, kann zu meiner allergrößten Überraschung den französischen Dialogen ohne Probleme folgen … und formuliere zeitgleich bereits diesen Text für den Blog. Alles mit ein und demselben Gehirn!

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Die Fotos zu diesem Text sind von Sophie Strodtbeck, an deren Chihuahua-Dame Pü ich beim Stichwort Manie recht schnell denken musste. Warum nur???
Sophie macht nicht nur tolle Bilder, sie schreibt auch wunderbare Bücher über Hunde!
Vielleicht schreibt sie irgendwann einmal ein Buch über das Pü!
Das wäre dann ein Püroman. (Darüber kann sie Stunden später immer noch lachen! Anmerkung des Lektorats … Du sollst keine anderen Lektoren neben mir haben, Anm.d.L.)

Ich biete dem Lektor an, einen Gastbeitrag über das Leben mit einem manischen Menschen zu schreiben. Er winkt müde ab. Ich verstehe überhaupt nicht, warum

Der Rat des Rabbis

Ein Mann kam zum Rabbi, um diesem sein Leid zu klagen:
„Es ist unerträglich Rabbi, meine Frau, die Kinder und ich leben in einem einzigen Raum und können uns darin kaum bewegen!“
„Hast du auch Tiere?“, fragte der Rabbi.
„Ja, ich besitze einen Ziegenbock.“
„Dann nimm ihn mit ins Haus! Und komm in einer Woche wieder.“

Nach einer Woche war der Mann vollkommen verzweifelt.
„Es ist grauenhaft, Rabbi! Der Bock stinkt fürchterlich!“
„Nun“, sprach der Rabbi, „stell den Bock wieder in den Stall und komm in einer Woche wieder.“.

Eine weitere Woche später spricht der Mann strahlend vor Freude beim Rabbi vor.
„Ich bin ein glücklicher Mann, Rabbi. Ich besitze ein Haus, so dass all meine Lieben ein Dach über dem Kopf haben. Und es riecht so gut darin!“

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Letztendlich entschließe ich mich, das Antidepressivum zu nehmen.
Nicht etwa, weil ich depressiv wäre – im Gegenteil: Für meinen elenden körperlichen Zustand bin ich erstaunlich guter Dinge. Aber es ist zur Zeit die letzte Option, die ich noch nicht probiert habe und es besteht die Hoffnung, dass es die Schmerzen lindert.
Die Ausschlussdiagnosen sind bis auf weiteres abgeschlossen: Augenscheinlich erfreue ich mich bester Gesundheit.

Gegen Depressionen wird das Mittel nicht mehr verschrieben, da es solche mit weniger Nebenwirkungen gibt und tatsächlich ist der Beipackzettel von beeindruckender Länge. Ich beschließe, ihn nicht zu lesen: Ich muss nicht alles wissen.

Nicht alles, was ich nun erlebe, ist unangenehm.
Eines Abends höre ich Musik – ganz leise, wie aus großer Entfernung. Wenn im Dorf ein Fest stattfindet, kommt das hin und wieder vor. Allerdings wundert mich, dass es Blasmusik ist. Und es ist auch ein ganz normaler Wochentag …
Die Musik ist nur in meinem Kopf. Ein hübsches kleines Stück, das ich nun häufiger, aber nicht andauernd hören kann.
Es könnte schlimmer kommen, denke ich. Marschmusik zum Beispiel. Oder Trash Metal …

Ich habe kaum noch Schmerzen und kann unmittelbar nach dem Aufstehen aufrecht gehen. Aber so recht genießen kann ich das nicht: Ich stehe nur für ein paar wenige Stunden am Tag überhaupt auf. Mit Müh und Not gelingt es mir, mit dem Hund kurze Spaziergänge zu machen und mich um das Abendessen zu kümmern. Damit ist mein Tagewerk erledigt. Autofahren kann ich nicht mehr.

Ich beginne, die Tage im Kalender abzuhaken: Medikament einschleichen – Normaldosis nehmen – erhoffte Wirkung abwarten (bei Depressionen dauert es ca. 6 Wochen, bis die Wirkung spürbar ist, vielleicht ist es in meinem Fall ähnlich). Bei dem Antidepressivum, das ich früher genommen habe, sind die Nebenwirkungen mit der Zeit immer weniger geworden bis ich sie gar nicht mehr bemerkt habe – jetzt scheint es eher umgekehrt. Und sowie die minimale Frist verstrichen ist, passiert es: Ich vergesse, meine Tabletten zu nehmen. Mangels Schilddrüse und mit Bluthochdruck ist das eigentlich eine zuverlässige morgendliche Routine: Mit der ersten Tasse Tee werden die Tabletten runtergespült. Das scheint mir eine mehr als deutliche Nachricht zu sein: Ich schleich das Zeug wieder aus!

Mit den Schmerzen kommt auch mein Appetit wieder, die Lust, zu schreiben, ein ganz und gar unbegründeter Schub guter Laune und ein wunderbares Gefühl der Klarheit im Kopf. Der Bocksgestank verfliegt.

Montagsmodell V: Immerhin

Der Tag – jeder Tag! – beginnt mit einem Systemcheck:
Was tut alles weh? Wie sehr? Was ist lediglich taub? Vibrationen? Zittern? Kribbeln? Druck?
Kann ich Arme und Beine bewegen? Gelingt es mir, mich von einer Seite auf die andere zu drehen? Wie lange dauert das?
Schaffe ich es, die Teetasse zum Mund zu führen? Ist die Tasse leer, bevor der Tee kalt ist?
Und die Kardinalfrage: Kann ich mich aufsetzen?
Wenn ich das schaffe, bin ich so gut wie aufgestanden!
An guten Tagen dauert das etwa eine Stunde. An schlechten bis zum Mittagessen.

Das ist, auch wenn es ähnlich klingen mag, anders als bei Depressionen. Ich kann dabei durchaus guter Dinge und voller Tatendrang sein. An guten schlechten Tagen, vermag so ein extrem mühsamer Start mir nicht die Laune zu verderben: Es ist halt, wie es ist. An schlechten schlechten Tagen bin ich verzweifelt.

Sei’s drum: Bisher hab ich es noch immer irgendwann geschafft, mich aus dem Bett zu erheben.
Was dann passiert, fühlt sich im ersten Moment gar nicht mal so unangenehm vertraut an. Ich kenne das von den Tagen nach einer Bergtour, bei der man sich ordentlich übernommen hat: Man steht nichts Böses ahnend auf, will den ersten Schritt machen und wird von einer Art Ganzkörper-Muskelkater in die Knie gezwungen. Jault auf, hinkt die ersten Meter und findet dann allmählich zum aufrechten Gang. Bei mir ist jeder Tag post-Bergtour. Deswegen entfällt auch das überraschte Aufjaulen. Und ich brauche ein paar mehr Meter, bis ich halbwegs normal gehen kann – bis dahin sehe ich aus wie eine Mischung aus dem Glöckner von Notre Dame und Laufente Lisbeth.
Das Entenwatscheln begleitet mich zuweilen durch den ganzen Tag: Es gibt mir ein Gefühl von Stabilität, wenn meine Beine unter mir eiern und wackeln. Auf Treppen lehne ich mich gern zur Wand hin: Cevenole Treppen haben keine Geländer …
Immer häufiger erwische ich mich dabei, wie ich eine solche Treppe erst einmal in Augenschein nehme und mich sammle, bevor ich mich an den Auf-/Abstieg mache: Da ich hin und wieder einfach mal das Gleichgewicht verliere und zur Seite kippe, will eine solche Unternehmung gut überlegt sein.

Wobei das mit dem „gut überlegen“ so eine Sache ist: Ich habe enorme Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren und mir Dinge zu merken. Internet-Recherchen zum Beispiel sind ja eigentlich eine höchst komfortable Sache, werden aber ungeheuer mühselig, wenn man innerhalb weniger Minuten vergisst, was man soeben herausgefunden hatte. Ich gehe zum Vorratsraum und habe, dort angekommen, vergessen, was ich da eigentlich wollte. Soweit ist das normal, das passiert jedem! Aber nicht jeder vergisst auf dem Weg, was er überhaupt kochen wollte … Ich bemühe mich, mir hierüber keine zu großen Sorgen zu machen: Immerhin weiß ich noch, dass ich die bin, die hier kocht.
Das hab ich mir aus einer Dokumentation über Demenz gemerkt: „Es ist nicht schlimm, wenn Sie das Essen auf dem Herd vergessen. Wenn Sie vergessen, dass Sie es waren, die das Essen aufgesetzt hat, dann ist es schlimm!“.

IMG_14997-webAllerdings kostet all das eine Menge Zeit: dieses ganze in die Gänge kommen, watscheln, sich sammeln, überlegen … ganz egal, wie emsig ich beschäftigt bin, es kommt äußerst wenig dabei heraus.

Auch das Sprechen fällt merklich schwerer. Manchmal liegt das nur daran, dass eine Gesichtshälfte taub wird und die Lippen sich nicht mehr richtig bewegen lassen. Aber oft fehlen mir einfach einzelne Worte. Und es ist schwierig, einen Satz zu beenden, wenn man mittendrin vergisst, wie er eigentlich begonnen hat. Den größten Unterhaltungswert hat es noch, wenn ich Buchstaben vertausche, obwohl ich einräumen muss, dass mir ein Knaller wie „gefickt eingeschädelt“ bisher nicht geglückt ist.

Noch einmal: Mir ist klar, dass so etwas jedem mal passiert. Aber doch nicht alles davon und ständig!
Ich versuche auch hier, gelassen zu bleiben: Langsam und konzentriert sprechen, Wörter gegebenenfalls wiederholen, Fehlendes umschreiben.

Was mich wirklich frustriert, ist, dass hiervon auch das Schreiben in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich schreibe seit meiner Kindheit, aus Leidenschaft und aus Notwendigkeit. Um mich der und mir die Welt zu erklären. Wenn mich etwas drängt, dann haue ich in einer halben Nacht drei, vier DIN-A-4 Seiten raus, die keiner nennenswerten Überarbeitung mehr bedürfen. Nun liege ich bei 3 bis 4 Sätzen am Abend und davon quäle ich mir jeden einzelnen ab. Einen hohen Prozentsatz an „Drehern“ produziere ich auch hier: Es sind zwar alle zum Wort gehörigen Buchstaben da, aber ihre Reihenfolge ist komplett durcheinandergewirbelt. Wörter mit drei Buchstaben tausche ich mitunter völlig sinnfrei gegeneinander aus. Immerhin bemerke ich meine Fehler noch.
Schreiben ist, neben Kochen, eines meiner größten Talente. Es ist mir wichtig! Kochen geht noch ganz gut …

Ob das alles von der Borreliose kommt?
Man. weiß. es. nicht.
Es gibt einen ganzen Rattenschwanz von Erkrankungen, die die selben Symptome hervorrufen können und deswegen ausgeschlossen werden müssen, damit man nicht womöglich in die falsche Richtung behandelt. Wobei die Meinungen, ob und wie man Borreliose – falls die nun tatsächlich die Ursache sein sollte – überhaupt behandeln kann, auseinander gehen. Weit. Aber bislang ist das noch nicht mein Problem.
Es ist Sinn und Zweck einer Ausschlussdiagnose, dass der Großteil der Untersuchungen ohne Befund ist. Deswegen macht man das ja! Aber es ist auch außerordentlich frustrierend. Als ich kommen sehe, dass gleich der dritte Facharzt sagen wird, aus seiner Sicht sei alles in Ordnung, steigen mir die Tränen in die Augen. Ich habe Schwierigkeiten, nicht vom Stuhl zu fallen, aber sonst ist alles in Ordnung!
Alle um mich herum scheinen eine Menge Zeit zu haben: Dann warten wir mal auf die nächste Untersuchung, den nächsten Bluttest, das nächste bildgebende Verfahren. Und dann auf den nächsten Termin, um die neuen Erkenntnisse (oder deren Fehlen) zu besprechen. Währenddessen vergeht im Entengang mein Leben. Ich fühle mich nicht ernst genommen.
Niemand behauptet, ich sei nicht krank, das nicht. Und nee, ich lieg nicht im Sterben. Aber das ist mein Leben, das da an mir vorüberzieht und ich kann nicht mitmachen. Außer mir scheint das niemand für ein Problem zu halten. Ich fühle mich allein.
Immerhin weiß ich jetzt, dass eines meiner Gelenke eine Anomalie aufweist. Der dicke Zeh am linken Fuß, um genau zu sein …
Das hätte ich sonst womöglich nie erfahren!

Es ist nicht so, dass die ÄrztInnen mir nicht helfen wollen. Im Gegenteil: alle bemühen sich, etwas vorzuschlagen, was man mal probieren könnte. Ein anderes Schmerzmittel zum Beispiel – macht Sinn: das bisherige sollte man keinesfalls über längere Zeit einnehmen. Bei dem neuen gibt es das Medikament gegen die Nebenwirkungen gleich dazu. Mein Magen meldet zurück, Schlaganfall- und Infarktrisiken seien ihm völlig wumpe, er jedenfalls könne – Säureblocker hin oder her – das nicht ab!
Ich beschließe, dass es fortan ohne Schmerzmittel gehen muss.
Stattdessen könnte ich, so ein weiterer Vorschlag, ein Antidepressivum nehmen, das mittlerweile nur noch DiabetikerInnen verschrieben wird, weil es diesen gegen Neuropathien hilft. Gegen Depressionen gibt es Mittel mit deutlich weniger Nebenwirkungen. Prima Idee! Und falls es doch nicht gegen die Schmerzen helfen sollte, werde ich diesen Umstand zumindest seeeehr gelassen sehen! Notiz an mich selber: Nicht aufregen! Die können nicht wissen, dass ich mein Leben komplett umgekrempelt habe, um ohne Psychopharmaka zurechtzukommen. Trotzdem werde ich das doofe Gefühl nicht los, alle denken „nimm das doch einfach, das bist du doch gewohnt!“ …
Physiotherapie schlägt auch jemand vor. Und dass ich Yoga mache, sei gut. Immerhin.
(„Immerhin“ hat gute Chancen, zu meinem persönlichen Wort des Jahres zu werden …)

Nicht wenig meiner Zeit geht für Recherchen drauf. … Das Problem mit dem Gedächtnis hatte ich erwähnt?
Ich möchte wissen, was das für eine Krankheit sein soll, die als nächstes ausgeschlossen werden muss. Mit welchen Untersuchungen ich zu rechnen habe. Und ich habe schnell begriffen, dass es – wenn mehrere ÄrztInnen Medikamente verschreiben – an mir ist, zu überprüfen, ob es überhaupt angeraten ist, die alle in dieser Kombination einzunehmen. Außerdem habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass von der Schulmedizin nur wenig Hilfe zu erwarten ist und schaue deswegen, was ich selbst für mich tun kann.
Hier ist – allein was Borreliose betrifft – die Anzahl der Heilversprechungen Legion! Es gibt ichzich, Behandlungen, Diäten und Präparate, die mich wieder gesund machen können! Man wundert sich, dass überhaupt noch Menschen zum Arzt gehen … Ich mache mich also auf die Suche nach Informationen darüber, um was es sich bei dem jeweils angepriesenen Mittel überhaupt handelt, wer behauptet, dass es wirksam ist, wie genau es wirken soll und – last not least – ob die Wirksamkeit in irgendeiner Art und Weise nachgewiesen werden kann. Wobei mir klar ist, dass die Nachweisbarkeit so eine Sache ist: Wenn es nicht eine Studie bezüglich der Wirkung eines Präparates gibt, kann das daran liegen, dass eine solche Studie bisher nicht erstellt wurde (seriöse Studien sind ja auch aufwendig und teuer!), aber es ist natürlich ebenfalls möglich, dass es da schlicht keine Wirkung nachzuweisen gibt.
„Ich habe mich selbst erfolgreich mit ………. (alles von Aprikosenkern bis Zistrose) von ………. (beliebige Erkrankung) geheilt!“ ist spätestens seit der Entdeckung des Placebo-Effektes kein schlagendes Argument mehr, und auch Berichte von Quellen, die das entsprechende Mittel wie zufällig gleich selbst vertreiben, vermögen nicht wirklich zu überzeugen. Die Methode „wurde mir im Traum offenbart!“ oder aber „von Gott eingegeben!“ und dergleichen, sind ebenfalls Anpreisungen, die ich zu bezweifeln geneigt bin. Außerdem beäuge ich solche Heiler, die an der Krankheit, die sie zu besiegen versprachen, unterdessen selbst verstorben sind, mit einem gewissen Misstrauen.
Um solche Mittel, bei denen tatsächlich eine Wirkung nachzuweisen ist, entsteht schnell ein Hype, der dazu führt, dass ihnen weitere Eigenschaften zugeschrieben werden, die vermutlich nur noch durch das „Prinzip Hoffnung“ zu erklären sind.
Man kann auch einfach mal was ausprobieren und gucken, wie es einem damit geht, keine Frage! Aber selbst dann muss man ja entscheiden, mit welcher der zahllosen Möglichkeiten man beginnen möchte. Und ich merke schnell, wie schwierig es ist, zweifelsfrei festzustellen, was hilft, und was eher nicht. Gelenkschmerzen kommen und gehen zum Beispiel auch mit kaltem Wetter, Regenwetter kann auf’s Gemüt schlagen und so bewirken, dass Schmerzen stärker empfunden werden. Und natürlich möchte ich auch jedes Mal wieder feststellen, dass ich mich jetzt endlich besser fühle!

Es wäre auch nicht förderlich, denke ich, wenn ich die Hoffnung aufgäbe, dass die nächste Untersuchung zu Erkenntnissen führen, die nächste Behandlung helfen möge.
Im Großen und Ganzen sehe ich mich als Optimistin, die sich bemüht, den Dingen einen positiven Aspekt abzugewinnen (ich werd nie kapieren, warum ausgerechnet ich Depressionen habe!) – und sei es nur Galgenhumor. Ich fand immer, wenn ich über meine Lage mal keine flachen Witze mehr zu reißen in der Lage bin, brauch ich nen guten Freund, der mich erschießt.
Mir ist sehr daran gelegen, nicht jammerig zu klingen. Womöglich, damit mich nicht jemand aus Versehen erschießt. Und die gute Nachricht ist ja tatsächlich, dass ich – soweit man bis heute sagen kann – nichts Lebensbedrohliches habe. Und was nicht unmittelbar zum Tode führt, härtet ab, oder?
Aber wenn ich mir vorstelle, dass mein Leben einfach so weitergeht, wie es jetzt ist, dann scheint mir das eine sehr lange Zeit für einen ziemlich elenden Zustand zu sein. Dann werde ich sehr klein und jämmerlich. Und die Witze gehen mir aus.