Unter Anderem übe ich in der Therapie, schmerzhafte Emotionen zu … hmhmhmen … anstatt zu dissoziieren.
Anfangen mag ich der Einfachheit halber damit, was Dissoziation (an dieses Thema habe ich mich hier schon einmal herangepirscht) eigentlich ist:
Dissoziation fängt zum Beispiel da an, wo die Worte meines Gegenübers mir zum einen Ohr rein und zum anderen gleich wieder raus gehen. Wo ich einen Text lese, den Inhalt aber nicht aufnehme.
„Danke, wir nehmen nichts!“-Momente des eigenen Gehirnes sozusagen.
Die kennen wir alle und sie sind eigentlich nichts Schlimmes: Eine Art Filter, der uns vor zu vielen Informationen schützt.
Am eindrücklichsten erinnere ich solche Momente aus der Schule:
Ich war entsetzlich schlecht in Mathe und Chemie. Dennoch schien mir jeder Beginn eines neuen Kapitels, besser noch: eines neuen Schulhalbjahres eine Chance zu sein!
Jedes mal auf’s Neue war ich gänzlich erfüllt von gutem Willen, habe meine komplette Aufmerksamkeit auf Lehrkörper und Tafel gerichtet, bereit, alles und jedes zu notieren …
… um eine unbekannte Anzahl von Minuten später festzustellen, dass ich augenscheinlich irgendwo ganz anders gewesen war. Beim Unterricht ganz sicher nicht! Und auch sonst nirgends – jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern könnte.
Aber nein: Ich möchte damit nicht sagen, dass der Mathematik-Unterricht in der Mittelstufe des Gymnasiums mich traumatisiert hat („gemacht“ hat diese Erfahrung schon etwas mit mir, keine Frage … aber das ist ein ganz anderes Kapitel)!
Ich bin mir lediglich sicher, dass viele Menschen sich in diesem Beispiel wiedererkennen: Die Erkenntnis, definitiv anwesend gewesen zu sein, bei völligem Fehlen einer Erinnerung daran, was tatsächlich passiert ist …
So in etwa fühlt sich Dissoziation an. Für den Alltagsgebrauch sozusagen …
Bei Menschen, die Traumata tragen, ist all das sehr viel stärker ausgeprägt: Dissoziation kann Erinnerungen, aber auch damit verknüpfte Emotionen „fernhalten“.
So kommt es zum Beispiel, dass Menschen sich zwar an einen schweren Unfall erinnern, nicht jedoch an die Todesangst, die sie in diesem Moment verspürt haben.
Dissoziation kommt nicht nur in Form von Konzentrationsschwierigkeiten, Absencen, „Schusseligkeit“ oder Gedächtnislücken daher, sondern manifestiert sich auch im Körper.
Wie sich das anfühlt?
Stellt Euch vor, Ihr seid mit einer anderen Person unterwegs, und diese legt plötzlich ein Verhalten an den Tag, das Euch enorm peinlich ist. Dann tretet Ihr vielleicht einen Schritt zur Seite, um zu dokumentieren „damit habe ich nichts zu tun, die kenne ich nicht!“.
Wenn Ihr beides seid: Diese peinliche Person und Ihr selbst gleichzeitig, dann steht Ihr neben Euch!
So fühlt sich das für mich oft an: Ich mache einen Schritt / rücke auf meinem Stuhl ein Stück zur Seite, aber mein Körper kommt nicht mit.
Wenn es sehr heftig ist, fühlt es sich an, als würdet Ihr Auto fahren und auf der Autobahn plötzlich von einer heftigen Windbö erfasst werden. Oder als würde Euch jemand vom Stuhl zu schubsen versuchen.
Bis Euch das klar wird, glaubt Ihr vielleicht, Ihr hättet einfach Kreislaufprobleme, oder irgendwas Neurologisches.
Fun Fact: Bei mir führt das hin und wieder dazu, dass ich buchstäblich über meine eigenen Füße falle. Das passiert zum Beispiel immer dann, wenn ein Teil von mir ganz dringend zur Psychotherapie möchte, ein anderer das aber für eine unheimlich blöde Idee hält. Dann laufe ich mit dem linken Fuß geradeaus, während der rechte überholt und schnibbelt, um zurück nach Hause zu gehen.
Der Rest ist Slapstick …
Dissoziation schafft Distanz.
Das Gegenteil von Dissoziation ist Assoziation, Verbundenheit, „in Verbindung gehen“.
Das eingangs erwähnte „Hmhmhm“!
Beim „Hmhmhm“ ist häufig die Rede davon, eine Emotion, einen Zustand zu halten – also nicht aushalten im Sinne von Ertragen, sondern halten wie „Halt geben“. Den Halt nicht verlieren.
Das habe ich auch sehr abstrakt gefunden bis es mir gelungen ist, ein inneres Bild dafür zu kreieren.
Und womöglich ist genau das der Punkt: Dass wir lernen müssen, innere Bilder zu finden!
Thich Nath Hanh* vergleicht unser Geistbewusstsein (aktive Bewusstheit, aktives Gewahrsein, oder schlicht Bewusstsein) mit einem Wohnzimmer; unser Speicher- oder auch Unterbewusstsein dagegen mit einem Keller, in welchem unsere vergangenen Erfahrungen, Regungen und Emotionen wie Samen gelagert sind. Entsprechende Umstände vorausgesetzt, können diese Samen aufsteigen und sich in unserem Wohnzimmer manifestieren. Tom Holmes** übernimmt dieses Bild in seinem Buch über die systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen.
Ich für mein Teil denke bei „Wohnzimmer“ an Wohnzimmer: Sitzgarnitur (wieso um alles in der Welt eigentlich „ …-garnitur“?), Schrankwand, Teppich, Zimmer-Araukarie …
„Stopp! So kann ich nicht arbeiten …“!
Mein „Wohnzimmer“ ist einfach eine imaginäre Höhle in meinem Brust- und Bauchraum, eine Art überdimensionale Gebärmutter, weich und geschützt. Den nötigen Platz schaffe ich, indem ich mich sitzend entspannt mit dem Rücken anlehne während meine Füße fest auf dem Boden stehen und die Hände auf den Oberschenkeln ruhen. Ich lehne mich sozusagen in mein Selbst zurück, stehe stabil und geerdet und gebe Raum.
Diesen Raum können Anteile, Erinnerungen oder Emotionen einnehmen. Auf diese Weise überfluten sie mich nicht, sondern ich kann sie betrachten und in Verbindung gehen.
Gut möglich, dass ich dabei zu weinen beginne. Manchmal lächele ich auch, oder neige den Kopf, weil ich jemandem zuhöre. Hin und wieder spreche ich auch mit mir.
Das muss merkwürdig klingen!
Dass es eine solche Erleichterung ist, eben nicht eine in der Form gegossene Persönlichkeit zu sein, die – zugegeben – ordentlich Probleme mit sich selber hat, sondern ein Konglomerat aus mir selbst, meinen eigenen Anteilen, solchen, die ich geerbt habe (wäre ich ein Haus, es würde in mir spuken), abgespaltenen Emotionen und vagabundierenden Erinnerungen!
Aber genau so ist das. Erst seit ich das verstanden habe, kann ich Gastgeberin in meinem eigenen Haus sein. Kann mich in meinem Selbst verorten und alles andere / alle anderen einladen, sich zu zeigen. Ohne dabei aus der Kurve zu fliegen.
Ich erinnere mich, dass ich früher hin und wieder gesagt habe „In mir ist so viel Weinen – wenn ich damit erst einmal anfange, kann ich nie wieder aufhören!“.
Deswegen habe ich mir das immer zu verkneifen versucht.
In dem Raum, den ich öffne, kann und darf geweint werden!
Und hier stellt sich in aller Regel nach erstaunlich kurzer Zeit Erleichterung ein.
Sind die Emotionen sehr heftig, kann ich den Raum „größer ziehen“ – so, wie das in Sience Fiction Filmen zu sehen ist, wenn virtuelle Darstellungen mit einem Wischen der Hand vergrößert werden. Dann ist der Raum in mir plötzlich wesentlich größer, als ich selbst.
Das hat zu Anfang nicht immer geklappt: Manchmal habe ich auch einen Tunnelblick bekommen, zu meinen Seiten wurde es schwarz, der Tinnitus hat gekreischt wie verrückt, und wenn es richtig dicke kam, habe ich mich nur noch an der Stimme der weisen Hebamme festhalten können: „Sie sind hier bei mir! Sie sitzen im Sessel und ihre Füße stehen fest auf dem Boden! Sie sind in Sicherheit!“ …
Neulich nun habe ich eine Emotion eingeladen, von der ich wusste, dass sie vermutlich überwältigend sein würde.
Ich habe den Raum in mir so groß „gezogen“, wie es nur irgend möglich war. Er war nicht groß genug …
Und dann ist etwas ganz wundersames geschehen:
Der Raum hat sich mit einer Kindheitserinnerung gefüllt!
Ich war mit meinen Eltern und der Familie in einem Restaurant – oft ist das nicht vorgekommen, es muss eine ganz besondere Gelegenheit gewesen sein.
Der Gang zu den Toiletten verlief außerhalb des Hauses, war jedoch mit einer Wand aus gewelltem Kunststoff abgeschirmt. Transparentem, grünem Kunststoff. Wenn die Sonne schien, war dieser Gang erfüllt von hellgrünem Licht! Als Kind hat mich das vollkommen fasziniert.
Schlagartig war ich in meine Kindheit zurückversetzt: „Grünes Licht! Wow!“ …
Und irgendwo oben auch „rot“ wie von einer Sonne …
Ich erkläre mir das so:
Die Emotion, die sich hätte zeigen wollen, war zu heftig, als dass ich sie hätte halten können.
Sie hätte mich vom Stuhl gehauen.
Stattdessen hat mein Unbewusstes mir die grüne Brille aufgesetzt.
Eine andere Form der Dissoziation, wenn man so will. Eine ganz andere: Nichts daran war unangenehm oder gar beängstigend!
Noch sehe fühle ich nicht klar, aber ich habe keinen Grund, mich zu fürchten.
Ich werde lernen, diese Emotion zu halten:
Schließlich hat mein Unbewusstes mir buchstäblich „grünes Licht“ gegeben!
* Thich Nhat Hanh „Versöhnung mit dem inneren Kind“
** Tom Holmes „Reisen in die Innenwelt“