Versuch’s doch mal mit Yoga!

Dieser Text ist einer lieben Freundin gewidmet, der Yoga schon so oft empfohlen wurde, dass sich ihr Nackenfell bereits bei „Yo …“ zu sträuben beginnt.

„Versuch’s doch mal mit Yoga!“ kommt gleich nach „Ausdauersport ist gut gegen Depressionen!“ und „sorg mal ein bisschen für dich, sei nett zu dir selbst: wie wäre es mit einem schönen, duftenden Schaumbad?“ …
Ausdauersport, vulgo „Joggen“ – das habe ich bestimmt mal erzählt – ist bei mir schon daran gescheitert, dass ich beim Anziehen der Socken in ein Dimensionstor geraten bin: Eine halbe Stunde nach dem Entschluss, mich anzuziehen, war Socke Nummer eins immer noch nicht am Fuß. Das Schicksal von Socke Nummer zwei liegt bis heute im Dunklen …

Aber die Nummer mit dem Schaumbad hab ich ausprobiert!
Das volle Programm: Brühheißes Wasser, reichlich duftender Schaum, Kerzen auf dem Wannenrand, eine Handvoll auf Vorrat gedrehter Zigaretten (da hab ich noch geraucht), ein heiterer Roman (Bridget Jones – damals bin ich wirklich vor nichts zurückgeschreckt) und – aber echt nur ganz ausnahmsweise! – ein Fingerbreit Whisky (Sekt war aus).
Hat’s nicht gebracht.

In die Sonne, oder eben in die Badewanne gehen, Sport treiben etc. ist natürlich auch für solche Menschen gut, die zu Depressionen und Ängsten neigen. Mit der Betonung auf neigen: Während einer Depression kann es schon eine erhebliche sportliche Herausforderung sein, das Bett zu verlassen, sich anzuziehen und sich einigermaßen regelmäßig zu waschen. Und tatsächlich gibt es Formen der Depression, bei denen all das nicht hilft. Wirklich nicht. Überhaupt gar kein Bisschen. Trotzdem ständig dazu aufgefordert zu werden, womöglich mit vorwurfsvollem Unterton („wenn du das nicht machen willst, bist du ja schon irgendwie selbst schuld …“) macht es nicht besser.


Warum ich dennoch Yoga praktiziere

Vor einigen Jahren habe ich begonnen, mich mit dem Thema „Achtsamkeit“ bzw. „MBCT – Mindfulness Based Cognitive Therapy (achtsamkeitsbasierte Verhaltenstherapie) zu befassen, wozu ein allmorgendlicher Bodyscan gehörte.

Rückblickend denke ich, zumindest für den Bodyscan war es noch zu früh: Ich habe die lebhafte Reaktion meines Körpers auf meine Versuche, seiner gewahr zu sein, zwar zur Kenntnis genommen, konnte aber nichts damit anfangen.
Zur Unterstützung der Übungen wurde Yoga empfohlen, genau gesagt: bestimmte Yoga Übungen.

Als kurz darauf im Dorf ein Yoga-Kurs angeboten wurde, hab ich nicht lange gefackelt.
Nicht, weil ich das unbedingt gewollt hätte. Ich fand, das sei Kismet: Der maximal unwahrscheinliche Umstand, dass irgendwo im Nirgendwo just dann ein Yogakurs angeboten wurde, als ich darüber nachdachte, einen zu besuchen. Sowas verpflichtet …
Und das Universum war mit mir: Wie der Zufall es wollte – aber das ist mir erst sehr viel später klargeworden – wurden dort genau die Übungen unterrichtet, die ich brauchte.
Heute weiß ich, dass es sich bei dem, was ich gelernt habe und immer noch lerne, um traditionelles und sehr kleinschrittig aufgebautes Hatha-Yoga handelt, damals war mir das – ehrlich gesagt – vollkommen schnuppe, da hatte ich ganz andere Sorgen.

Den Hof zu verlassen um ganz allein unter lauter fremden Menschen, deren Sprache ich nicht beherrschte, an ganz egal was teilzunehmen, hat mir anfangs solche Angst eingejagt, dass ich mit nichts anderem beschäftigt war. Trotzdem war es nicht einfach Erleichterung, was ich empfunden habe, wenn ich das Training wieder einmal überstanden hatte, sondern ich habe mich leicht und fröhlich gefühlt. Irgendetwas hat Yoga bewirkt, soviel war klar.
Und irgendetwas ist auch passiert, wenn ich das Training – zum Beispiel während der Schulferien, wenn der Kurs nicht stattfand – „geschlabbert“ habe. Dann bin ich regelmäßig in die Depression abgerutscht.
Gleichwohl war nicht alles eitel Sonnenschein, nicht alle Erfahrungen leicht und fröhlich: Yoga kann alte Emotionen berühren und aktivieren, die wir zwar aus unserem Bewusstsein eliminiert haben, die der Körper aber dennoch in Erinnerung behält. Die Tränenausbrüche und Panikattacken, die das Training auf diese Weise auszulösen vermag, fühlen sich höchst gegenwärtig an – ganz egal, wie alt die Erinnerungen auch sein mögen.
Bei mir war es insbesondere eine bestimmte Übung, die aus just diesem Grunde bis heute die „tränenreiche Torsion“ heißt – auch wenn sie unterdessen zu meinen liebsten Routinen zählt.

Anfangs also war Yoga ein Mittel im Kampf gegen meine Angst, später dann gegen die Depression. Als ich zunehmend unter Schmerzen zu leiden begann, habe ich die Übungen genutzt, um diese ertragen zu lernen: Selbst wenn es mir die Tränen in die Augen getrieben hat – es war immer noch möglich, zu atmen und mich zu entspannen, es gab immer noch etwas jenseits der Schmerzen.
Mittlerweile sind die Übungen fester Bestandteil meines Alltags und seit ich die passenden Medikamente bekomme, mache ich tatsächlich auch Fortschritte.

Mit den anmutigen Flows, die ich – zugegeben – hin und wieder selbst gerne bei Youtube bestaune, hat mein Tun dennoch nicht mehr gemeinsam, als dass beides auf einer Matte stattfindet.
Die Arbeit – die weise Yogini spricht tatsächlich von travail – findet in der Haupsache im Körper statt, mit viel hinein atmen, sich Millimeter für Millimeter in eine Haltung hinein entspannen, in sich hinein fühlen. Wenn die angestrebte posture dabei zunächst nur angedeutet wird, ist auch das in Ordnung und falls selbst das nicht möglich sein sollte, kann die Übung immer noch mental ausgeführt werden.
Gelegentlich ist mir schon der Verdacht gekommen, dass das der Grund ist, warum beim Training die Augen geschlossen werden: Damit ich nicht sehen muss, dass die Kniekehlen meiner gefühlt durchgestreckten Beine immer noch eine Handbreit vom Boden entfernt sind …
Andererseits schaffe ich es mittlerweile, Positionen zu halten, aus denen ich anfangs wie ein nasser Sack herausgeplumpst bin.

Als ich nun erfahre, dass Hatha-Yoga insbesondere in der Trauma-Therapie empfohlen wird, bitte ich die weise Yogini, mich bei meinen Bemühungen diesbezüglich zu unterstützen.
Außerdem hat mich dann doch ein gewisser Ehrgeiz gepackt: Ich hab versucht, mir selbst ein paar weitere Asanas beizubringen und möchte, dass sie draufschaut, ob ich alles richtig mache.

Ihr Gesichtsausdruck, als ich erzähle, dass ich Youtube-Videos anschaue, um mehr über Yoga zu lernen, ist schwer zu deuten, entspannt sich aber, bilde ich mir ein, als ich versichere, die Flows wirklich nur anzugucken
Sie hört sich geduldig an, was ich an Anregungen im Internet und in meinem dicken Yoga-Buch gefunden habe und lässt mich mehr als einmal wissen „Wenn du das Prinzip verstanden hast, kannst du das so machen! Dann kannst du alles so machen, wie du möchtest!“ …
Dann fragt sie, wo genau ich eigentlich die meisten Schmerzen habe und bittet mich, ihr zwei ganz unspektakuläre Übungen, die zu den absoluten Basics gehören, einmal vorzuführen.
Was es bedeutet, Wirbel für Wirbel abzurollen, habe ich schon im Schulsport gelernt – heute lerne ich, wie es ist, wenn jemand guckt, ob wirklich jeder einzelne Wirbel tut, was er soll …
Und siehe da: Das sind nicht nur die Stellen, die wehtun, sondern auch die, die ich beim Bodyscan nicht erreichen kann. Die Platte an der Stelle, wo mein Dekolletee sein sollte zum Beispiel.
Da rollt genau gar nix …

Während ich mich mit vor Anstrengung zitternden Muskeln bemühe, meine Rückenwirbel durchzuzählen, lösen sich meine Ambitionen, grazile Asanas einzunehmen, dezent in Luft auf: Ich möchte, dass die weise Yogini nach und nach alles, was ich bereits zu können geglaubt habe, noch einmal genau in Augenschein nimmt.

Der Moment der Wahrheit kommt, als sie mich fragt, ob ich auch Pranayama, die Atemübungen, praktiziere.
Ähm … ja … also … theoretisch schon! Ich nehme mir täglich vor, sie regelmäßig zu üben! Also: Ab morgen …
Tatsache ist: Ich hab enorme innere Widerstände!
Was die weise Yogini nicht überrascht: Traumata manifestieren sich im Körper und können daher die Atemübungen extrem erschweren.
Aber, sagt sie: Ohne Pranayama ist es kein Yoga!
Wir einigen uns darauf, dass ich in winzig kleinen Schritten noch einmal ganz von vorn beginnen werde.
Ich komme dieser Verpflichtung nach, weil ich weiß, sie wird fragen beim nächsten Mal … aber rechte Begeisterung will sich nicht einstellen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es „Übung“ heißt, weil man es üben soll – nicht weil man es gleich kann.

Außerdem, bringt sie mir schonend bei, sind auch Asanas und Pranayama lediglich ein kleiner Teil dessen, was Yoga umfasst. Ich bin fasziniert – auch und vor allem, weil sie zu leben scheint, wovon sie da erzählt – und mag mehr darüber lernen.
Ganz gleich, wie weit ich auf diesem Weg kommen mag: Ich bin sicher, ich gehe in die richtige Richtung!

Also doch „versuch’s mal mit Yoga!“?

Ich muss zugeben, dass ich an diesem Punkt wirklich an mich halten muss!
Mittlerweile nutze ich Yoga weniger, um Schmerzen ertragen zu lernen, sondern um sie zu lindern. Ich kann beginnende Depressionen einfangen, mich selbst zur Ruhe bringen und beginne, mich in meinem Körper mehr und mehr zu Hause zu fühlen.
Natürlich gönne und wünsche ich das auch anderen!

Ich glaube außerdem fest, dass, wer bereits über eine gewisse Routine verfügt, es schafft, sich zur Not vom Sofa auf die Matte plumpsen zu lassen, um da wenigstens den „toten Mann“ zu machen. Wenn’s gut läuft vielleicht auch noch ein, zwei andere Übungen, bei denen man bloß daliegt und atmet. Und ja: Schon das hilft!

Ich muss allerdings auch einräumen, dass ich erst einmal für geraume Zeit eine Art Eremitinnen-Dasein führen musste, bevor an „Yoga-Kurs“ überhaupt zu denken war.
Und ja: Ich hab ein Riesenglück gehabt, genau diesen Kurs bei genau dieser Lehrerin zu finden! Trotzdem musste ich mehrere Jahre daran teilnehmen, bevor ich die Wirkung so recht genießen konnte.

Jahaha, es fällt mir schwer! Es fällt mir schwer, weil ich ja helfen will!
Aber Tatsache ist, dass ich nicht nur den richtigen Yoga-Kurs gebraucht habe, nicht nur die richtige Yoga-Lehrerin, sondern auch den richtigen Moment. Den Moment, in welchem ich bereit war!

Diesen Moment kann ich jedem anderen Menschen nur wünschen!
Verordnen kann ich ihn nicht …

Das Schweigen der Taucherin

Wenn eine Bloggerin, die von ihrem Leben mit Depressionen berichtet, ganz und gar verstummt, kann das ein Grund zur Besorgnis sein – oder eine gute Nachricht!
Bei mir ist letzteres der Fall: Es geht mir gut. Wenn ich heute einen wirklich schlechten Tag habe, dann habe ich so ziemlich genau das, was gesunde Menschen meinen, wenn sie (zum Missvergnügen derjenigen, die sich mit einer psychischen Erkrankung herumschlagen) „Das kenn ich, das geht mir manchmal ganz genauso!“ sagen.
Der Plan, mein Leben so zu verändern, dass ich es ohne Angst und Depression leben kann, ist aufgegangen. Darüber gibt es nicht mehr groß was zu erzählen.

Stattdessen sind, zu meiner nicht geringen Überraschung, die Ursachen meiner Erkrankung in den Fokus gerückt, von denen ich bisher immer angenommen hatte, sie seien schlicht nicht ausfindig zu machen.
Mit schwarzer Pädagogik habe ich mich eher zufällig und aus einem ganz anderen Grund zu beschäftigen begonnen, merke aber immer wieder, dass entsprechende Literatur irgendetwas in mir trifft, mich weinen macht und aus der Fassung bringt, so dass ich beim Lesen viele Pausen machen muss. Manches scheine ich schon in der Sekunde wieder zu vergessen, in der ich es wahrgenommen habe, gerade so, als wollte mein Gehirn nichts damit zu tun haben.
Dass ich zu den sogenannten KriegsenkelInnen gehöre, den Kindern der Kinder also, die den zweiten Weltkrieg mit tiefen Traumata überlebt haben, war mir bewusst. Wie umfänglich sich dieses „Erbe“ auf das Leben der Betroffenen auswirkt (und wie typisch meine Lebensgeschichte in vieler Hinsicht ist) erlese ich mir erst jetzt. Auch das mit vielen und langen Pausen.

Bis ich hierüber selbst zu schreiben in der Lage bin, wird noch eine Menge Zeit vergehen, dessen bin ich mir sicher.

***

Über mein Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers zu schreiben, schien mir ebenfalls ein lohnendes Unterfangen zu sein, allerdings konnte ich in diesem Moment nicht ahnen, wie zermürbend die nächsten Monate sein würden.
Irgendwann waren alle Ausschlussuntersuchungen gemacht, aber es gab keine Diagnose, sondern immer nur neue, unerklärliche Symptome.

Der bereits bestens bewährte Entengang erweiterte sich um eine Art Hühnerflügel-Position der Arme, die dabei half, im Zweifel das Gleichgewicht zu halten.
Zuweilen hat es sich angefühlt, als würden meine Beine wahlweise über ein paar Gelenke zu viel, oder aber zu wenig verfügen. Wer schon einmal versucht hat, Pedalo zu fahren (zwei etwa fußgroße Brettchen zwischen drei Räder-Paaren, auf denen balancierend man sich, mit einer Bewegung wie beim Fahrradfahren, vor- und zurückbewegen kann), kann sich das Zuviel an Gelenken vermutlich vage vorstellen. Das Zuwenig betraf häufig die Knie, die plötzlich zu fehlen schienen, was zu einer Art Stelzengang führte.
Je zügiger ich (womöglich bergauf) zu gehen versucht habe, desto unkoordinierter und langsamer wurden meine Bewegungen. Bis an schlechten Tagen gar nichts mehr ging.
Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es eine Frage der Konzentration war: Auf dem Hof, wo ich jeden Weg und Steg gut kenne, bin ich die meiste Zeit relativ gut klargekommen. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt jedoch musste ich achtgeben, wohin ich überhaupt wollte, keine PassantInnen anrempeln, eventuelle Hindernisse vermeiden, nicht über die Bordsteinkante stolpern, auf den Verkehr achten … das war viel zu viel, zum halbwegs normalen Gehen haben die Kapazitäten nicht mehr gereicht. Mit jedem Meter bin ich immer langsamer und immer eieriger vorangekommen und ich hab mir oft sehr gewünscht, wie eine ganz alte Dame am Arm geführt zu werden.

Entsprechende neurologische Untersuchungen waren samt und sonders ohne Befund. Bis eine junge Neurologin auf meinen Einwand hin, die zwei Meter ebenen Linoleumbodens in ihrem Untersuchungszimmer könne ich natürlich ohne Probleme überwinden, auf die Idee kam, mich einmal zügig den Gang der neurologischen Station entlanggehen zu lassen.
Zusammen mit meinen Freundinnen Ente und Huhn habe ich auch das prima hingekriegt und bin nur beim Wenden kurz mal aus dem Gleichgewicht geraten. Dann jedoch trat ganz unverhofft aus einem der Untersuchungsräume jemand in meinen Weg. Zumindest schien mir das so – später habe ich mir erzählen lassen, ich hätte reichlich Platz gehabt und einfach weitergehen können.
Die Vollbremsung, die mir in diesem Moment nötig schien, hat mich um ein Haar von den Füßen gerissen, mein Oberkörper kippte zu einer schwungvollen Verbeugung nach vorn, während beide Arme heftig ruderten um dabei nicht lang hinzuschlagen.
Das immerhin machte Eindruck, hinterließ ansonsten aber nichts als Ratlosigkeit.

Als nächstes waren meine Hände betroffen: Wenn ich nicht sehr konzentriert und vorsichtig zu Werke gehe, lasse ich kleine Dinge fallen, oder schleudere sie von mir. In etwa so, wie wenn man versucht, einen Marmeladen-Toast ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen an den Kanten zu halten und ihn stattdessen in eine Salto-ähnliche Drehung versetzt.
Zunächst habe ich mich gewundert, warum in meiner Gegenwart neuerdings so viele Dinge um- oder irgendwo herunter fallen, bis mir klar wurde, dass auch meine Arme ein Eigenleben führen. Weil sie das auch dann tun, wenn ich zum Beispiel Holz ins Feuer lege, verbrenne ich mich regelmäßig. Da trifft es sich gut, dass auch mit meinem Schmerzempfinden etwas nicht in Ordnung zu sein scheint: Ich kann zwar aus dem Umstand, dass es Brandblasen und zuweilen auch Narben gibt, schließen, dass ich mich ganz ordentlich verbrannt haben muss, aber sonderlich weh tut es nicht.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich mit Messern mittlerweile sehr sehr vorsichtig umgehe.

Im Restaurant zu essen hat sehr an herausfordernden Aspekten gewonnen. Ich habe mir zwar angewöhnt, alles, was ich vom Tisch fegen könnte, unauffällig aus dem Weg zu räumen, aber allein die Außenreize (ein unvertrauter Raum, fremde Menschen, Musik) saugen so viel Aufmerksamkeit ab, dass für die Handhabung von Messer und Gabel nicht genug davon übrigbleibt. Ich hantiere ungeschickt und regelmäßig fällt mir auf dem Weg zum Mund das Essen von der Gabel. Blattsalat ist eine Katastrophe.
Ein Gang zur Toilette will gut überlegt sein. Die Restaurants in Alès sind oft recht eng … Ich stehe also zunächst einmal auf (und hoffe, dass keines meiner Beine ausgerechnet jetzt wegknickt) und peile die Lage: Wo zwischen den Tischen muss ich lang? Wo kann ich mich gegebenenfalls festhalten und wo lieber nicht (die Schultern sitzender Gäste zum Beispiel bieten sich zwar an, sollten aber wirklich nur im Notfall gepackt werden)? Kann mir ein/e KellnerIn in die Quere kommen? Das alles will sorgsam geplant sein, bevor ich mich dann ganz langsam auf den Weg mache.

Die Menschen in Südfrankreich, so scheint es, sind entweder sehr ignorant, oder außerordentlich gelassen: Ich habe bisher nie den Eindruck gehabt, angestarrt zu werden.
Es ist mir auch nicht peinlich, so ungeschickt zu sein – oder jedenfalls nur selten: die Momente, in denen mir das Essen von der Gabel fällt, kann ich überhaupt nicht leiden. Ich glaube, die meiste Zeit fehlt es auch für Schamgefühle an den nötigen Ressourcen – dafür bin ich in diesen Momenten schlicht zu beschäftigt. Allerdings scheine ich auch nicht alles selbst mitzubekommen: Wie lange es dauert, zum Beispiel, bis ich mich, nachdem ich aufgestanden bin, um mich besser orientieren zu können, tatsächlich in Bewegung setze.
Aber es ist anstrengend, weil ich alles, was anderen Menschen ganz nebenbei gelingt, mit Bedacht tun muss.

Ich hätte nie gedacht, dass, obwohl keines meiner Symptome unerträglich ist, das schiere „krank sein“ einen Menschen so sehr beschäftigen, ja geradewegs absorbieren kann. Wie ermüdend das ist!
Und ich habe schnell die Lust verloren, darüber zu reden.

 

Was soll ich denn antworten, auf die Frage, wie es mir geht?
„Als ich aufgewacht bin, war mein linker Arm so taub, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Hand zu bewegen. Hab ich mal erwähnt, dass sie bei der Küchenarbeit häufig verkrampft, so dass die Finger stocksteif in alle Richtungen zeigen? Die muss ich dann mit der anderen Hand wieder zurechtbiegen und wenn es ganz arg ist, setze ich mich drauf – dann ist Ruhe. Aber mit der Arbeit komme ich so natürlich nicht voran. Heute hab ich Hilfe gebraucht, um mich im Bett aufzusetzen, aber immerhin bin ich überhaupt vor Mittag in die Gänge gekommen. Apropos Gänge: Das Gehen fällt ein bisschen schwer heute. Aber die Schmerzen sind ganz gut auszuhalten. Manchmal allerdings durchfahren mich Stiche, die so wehtun, dass ich laut aufschreie. Ich weiß nie, wann das passiert, deswegen hab ich immer ein bisschen Angst. Und ich hoffe sehr, dass mir das nicht irgendwann im Yoga-Kurs passiert. Aber dorthin zu fahren schaffe ich es eh nicht oft – wenn das linke Bein richtig zickt, weiß ich ja nicht, ob ich die Kupplung getreten kriege und meinen Armen traue ich auch nicht so recht. Aber sonst geht’s eigentlich.“

Wer um alles in der Welt soll sich das anhören? Und selbst wenn es solche wohlmeinenden Menschen gibt: Variationen dieses Textes wären an jedem verdammten Tag meines Lebens die Antwort. Schlimm genug, dass ich mich damit beschäftigen muss – ich will das nicht auch noch in Worte fassen.

Darüber zu schreiben will auch keine rechte Freude machen und das nicht nur, weil ich es selbst schon lange nicht mehr hören kann. Ich kann mich auch nicht mehr schreiben hören: Bisher sind die meisten meiner Texte entstanden, während ich eigentlich etwas anderes getan habe – spazieren gehen oder Auto fahren zum Beispiel. Anschließend musste ich sie nur noch abtippen.
Aber abgesehen davon, dass ich zu beidem nur noch selten in der Verfassung bin, scheinen die Worte in der anschließenden Erschöpfung zu verfliegen. Sie verschwinden meist lange bevor sie den Weg über die Tastatur finden.

Und sie stolpern in erschreckendem Ausmaß.
Es ist nicht bei Buchstabendrehern oder gänzlich verwirbelten Kombinationen geblieben, sondern ich habe begonnen, Wörter völlig willkürlich durch andere zu ersetzen. Wörter mit drei Buchstaben zum Beispiel finden ganz und gar beliebig Verwendung. Zuweilen wirkt es, als hätte ich eine eingebaute Spracherkennung mit Gehörschaden – ich schreibe mehr, wenn ich Meer schreiben will, oder nähen statt Mähne, wobei die Groß- und Kleinschreibung witzigerweise stets korrekt ist. Beim Buchstabieren der Worte selbst allerdings hapert es, das mache ich plötzlich so, wie man es spricht: neulich zu meinem Entsetzen unfähr statt unfair.
Für einen Rechtschreib-Freak wie mich, der Postings in Social Media gewohnheitsmäßig Korrektur liest, bevor die Enter-Taste gedrückt wird, ist das die Hölle auf Erden.
Es ist mir peinlich und es macht mir Angst.
Bis jetzt bemerke ich die meisten Fehler schon beim Schreiben und bei den wenigen, die ich tatsächlich übersehe, weiß außer mir ja niemand, dass es nicht die Autokorrektur ist, die da blühenden Unfug produziert, sondern mein Gehirn.
Was aber, wenn mir das nicht mehr gelingt?

Ich hätte mir, wird mir allmählich klar, sehr darin gefallen, darüber zu schreiben, wie ich mit einer chronischen Erkrankung zurechtkomme. Aber ich muss feststellen, ich komme nicht zurecht. Jedenfalls nicht so, dass ich etwas Kluges, Durchdachtes, oder gar Wegweisendes zu diesem Thema zu sagen hätte. Wenn es eine Diagnose gäbe, stelle ich mir vor, wüsste ich, womit ich es zu tun habe und könnte (hoffentlich) irgendwie damit umgehen. Stattdessen trage ich ein Wischiwaschi von Fachärztin zu Facharzt und hoffe jedes Mal auf’s Neue, dass es diesmal nicht mit einem Schulterzucken endet.
Die derzeitige Hoffnung klammert sich an die Abteilung für seltene Erkrankungen einer Universitätsklinik. Und sie wird eine Weile durchhalten müssen, die Hoffnung: Der Termin ist erst im Herbst.

Montagsmodell V: Immerhin

Der Tag – jeder Tag! – beginnt mit einem Systemcheck:
Was tut alles weh? Wie sehr? Was ist lediglich taub? Vibrationen? Zittern? Kribbeln? Druck?
Kann ich Arme und Beine bewegen? Gelingt es mir, mich von einer Seite auf die andere zu drehen? Wie lange dauert das?
Schaffe ich es, die Teetasse zum Mund zu führen? Ist die Tasse leer, bevor der Tee kalt ist?
Und die Kardinalfrage: Kann ich mich aufsetzen?
Wenn ich das schaffe, bin ich so gut wie aufgestanden!
An guten Tagen dauert das etwa eine Stunde. An schlechten bis zum Mittagessen.

Das ist, auch wenn es ähnlich klingen mag, anders als bei Depressionen. Ich kann dabei durchaus guter Dinge und voller Tatendrang sein. An guten schlechten Tagen, vermag so ein extrem mühsamer Start mir nicht die Laune zu verderben: Es ist halt, wie es ist. An schlechten schlechten Tagen bin ich verzweifelt.

Sei’s drum: Bisher hab ich es noch immer irgendwann geschafft, mich aus dem Bett zu erheben.
Was dann passiert, fühlt sich im ersten Moment gar nicht mal so unangenehm vertraut an. Ich kenne das von den Tagen nach einer Bergtour, bei der man sich ordentlich übernommen hat: Man steht nichts Böses ahnend auf, will den ersten Schritt machen und wird von einer Art Ganzkörper-Muskelkater in die Knie gezwungen. Jault auf, hinkt die ersten Meter und findet dann allmählich zum aufrechten Gang. Bei mir ist jeder Tag post-Bergtour. Deswegen entfällt auch das überraschte Aufjaulen. Und ich brauche ein paar mehr Meter, bis ich halbwegs normal gehen kann – bis dahin sehe ich aus wie eine Mischung aus dem Glöckner von Notre Dame und Laufente Lisbeth.
Das Entenwatscheln begleitet mich zuweilen durch den ganzen Tag: Es gibt mir ein Gefühl von Stabilität, wenn meine Beine unter mir eiern und wackeln. Auf Treppen lehne ich mich gern zur Wand hin: Cevenole Treppen haben keine Geländer …
Immer häufiger erwische ich mich dabei, wie ich eine solche Treppe erst einmal in Augenschein nehme und mich sammle, bevor ich mich an den Auf-/Abstieg mache: Da ich hin und wieder einfach mal das Gleichgewicht verliere und zur Seite kippe, will eine solche Unternehmung gut überlegt sein.

Wobei das mit dem „gut überlegen“ so eine Sache ist: Ich habe enorme Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren und mir Dinge zu merken. Internet-Recherchen zum Beispiel sind ja eigentlich eine höchst komfortable Sache, werden aber ungeheuer mühselig, wenn man innerhalb weniger Minuten vergisst, was man soeben herausgefunden hatte. Ich gehe zum Vorratsraum und habe, dort angekommen, vergessen, was ich da eigentlich wollte. Soweit ist das normal, das passiert jedem! Aber nicht jeder vergisst auf dem Weg, was er überhaupt kochen wollte … Ich bemühe mich, mir hierüber keine zu großen Sorgen zu machen: Immerhin weiß ich noch, dass ich die bin, die hier kocht.
Das hab ich mir aus einer Dokumentation über Demenz gemerkt: „Es ist nicht schlimm, wenn Sie das Essen auf dem Herd vergessen. Wenn Sie vergessen, dass Sie es waren, die das Essen aufgesetzt hat, dann ist es schlimm!“.

IMG_14997-webAllerdings kostet all das eine Menge Zeit: dieses ganze in die Gänge kommen, watscheln, sich sammeln, überlegen … ganz egal, wie emsig ich beschäftigt bin, es kommt äußerst wenig dabei heraus.

Auch das Sprechen fällt merklich schwerer. Manchmal liegt das nur daran, dass eine Gesichtshälfte taub wird und die Lippen sich nicht mehr richtig bewegen lassen. Aber oft fehlen mir einfach einzelne Worte. Und es ist schwierig, einen Satz zu beenden, wenn man mittendrin vergisst, wie er eigentlich begonnen hat. Den größten Unterhaltungswert hat es noch, wenn ich Buchstaben vertausche, obwohl ich einräumen muss, dass mir ein Knaller wie „gefickt eingeschädelt“ bisher nicht geglückt ist.

Noch einmal: Mir ist klar, dass so etwas jedem mal passiert. Aber doch nicht alles davon und ständig!
Ich versuche auch hier, gelassen zu bleiben: Langsam und konzentriert sprechen, Wörter gegebenenfalls wiederholen, Fehlendes umschreiben.

Was mich wirklich frustriert, ist, dass hiervon auch das Schreiben in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich schreibe seit meiner Kindheit, aus Leidenschaft und aus Notwendigkeit. Um mich der und mir die Welt zu erklären. Wenn mich etwas drängt, dann haue ich in einer halben Nacht drei, vier DIN-A-4 Seiten raus, die keiner nennenswerten Überarbeitung mehr bedürfen. Nun liege ich bei 3 bis 4 Sätzen am Abend und davon quäle ich mir jeden einzelnen ab. Einen hohen Prozentsatz an „Drehern“ produziere ich auch hier: Es sind zwar alle zum Wort gehörigen Buchstaben da, aber ihre Reihenfolge ist komplett durcheinandergewirbelt. Wörter mit drei Buchstaben tausche ich mitunter völlig sinnfrei gegeneinander aus. Immerhin bemerke ich meine Fehler noch.
Schreiben ist, neben Kochen, eines meiner größten Talente. Es ist mir wichtig! Kochen geht noch ganz gut …

Ob das alles von der Borreliose kommt?
Man. weiß. es. nicht.
Es gibt einen ganzen Rattenschwanz von Erkrankungen, die die selben Symptome hervorrufen können und deswegen ausgeschlossen werden müssen, damit man nicht womöglich in die falsche Richtung behandelt. Wobei die Meinungen, ob und wie man Borreliose – falls die nun tatsächlich die Ursache sein sollte – überhaupt behandeln kann, auseinander gehen. Weit. Aber bislang ist das noch nicht mein Problem.
Es ist Sinn und Zweck einer Ausschlussdiagnose, dass der Großteil der Untersuchungen ohne Befund ist. Deswegen macht man das ja! Aber es ist auch außerordentlich frustrierend. Als ich kommen sehe, dass gleich der dritte Facharzt sagen wird, aus seiner Sicht sei alles in Ordnung, steigen mir die Tränen in die Augen. Ich habe Schwierigkeiten, nicht vom Stuhl zu fallen, aber sonst ist alles in Ordnung!
Alle um mich herum scheinen eine Menge Zeit zu haben: Dann warten wir mal auf die nächste Untersuchung, den nächsten Bluttest, das nächste bildgebende Verfahren. Und dann auf den nächsten Termin, um die neuen Erkenntnisse (oder deren Fehlen) zu besprechen. Währenddessen vergeht im Entengang mein Leben. Ich fühle mich nicht ernst genommen.
Niemand behauptet, ich sei nicht krank, das nicht. Und nee, ich lieg nicht im Sterben. Aber das ist mein Leben, das da an mir vorüberzieht und ich kann nicht mitmachen. Außer mir scheint das niemand für ein Problem zu halten. Ich fühle mich allein.
Immerhin weiß ich jetzt, dass eines meiner Gelenke eine Anomalie aufweist. Der dicke Zeh am linken Fuß, um genau zu sein …
Das hätte ich sonst womöglich nie erfahren!

Es ist nicht so, dass die ÄrztInnen mir nicht helfen wollen. Im Gegenteil: alle bemühen sich, etwas vorzuschlagen, was man mal probieren könnte. Ein anderes Schmerzmittel zum Beispiel – macht Sinn: das bisherige sollte man keinesfalls über längere Zeit einnehmen. Bei dem neuen gibt es das Medikament gegen die Nebenwirkungen gleich dazu. Mein Magen meldet zurück, Schlaganfall- und Infarktrisiken seien ihm völlig wumpe, er jedenfalls könne – Säureblocker hin oder her – das nicht ab!
Ich beschließe, dass es fortan ohne Schmerzmittel gehen muss.
Stattdessen könnte ich, so ein weiterer Vorschlag, ein Antidepressivum nehmen, das mittlerweile nur noch DiabetikerInnen verschrieben wird, weil es diesen gegen Neuropathien hilft. Gegen Depressionen gibt es Mittel mit deutlich weniger Nebenwirkungen. Prima Idee! Und falls es doch nicht gegen die Schmerzen helfen sollte, werde ich diesen Umstand zumindest seeeehr gelassen sehen! Notiz an mich selber: Nicht aufregen! Die können nicht wissen, dass ich mein Leben komplett umgekrempelt habe, um ohne Psychopharmaka zurechtzukommen. Trotzdem werde ich das doofe Gefühl nicht los, alle denken „nimm das doch einfach, das bist du doch gewohnt!“ …
Physiotherapie schlägt auch jemand vor. Und dass ich Yoga mache, sei gut. Immerhin.
(„Immerhin“ hat gute Chancen, zu meinem persönlichen Wort des Jahres zu werden …)

Nicht wenig meiner Zeit geht für Recherchen drauf. … Das Problem mit dem Gedächtnis hatte ich erwähnt?
Ich möchte wissen, was das für eine Krankheit sein soll, die als nächstes ausgeschlossen werden muss. Mit welchen Untersuchungen ich zu rechnen habe. Und ich habe schnell begriffen, dass es – wenn mehrere ÄrztInnen Medikamente verschreiben – an mir ist, zu überprüfen, ob es überhaupt angeraten ist, die alle in dieser Kombination einzunehmen. Außerdem habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass von der Schulmedizin nur wenig Hilfe zu erwarten ist und schaue deswegen, was ich selbst für mich tun kann.
Hier ist – allein was Borreliose betrifft – die Anzahl der Heilversprechungen Legion! Es gibt ichzich, Behandlungen, Diäten und Präparate, die mich wieder gesund machen können! Man wundert sich, dass überhaupt noch Menschen zum Arzt gehen … Ich mache mich also auf die Suche nach Informationen darüber, um was es sich bei dem jeweils angepriesenen Mittel überhaupt handelt, wer behauptet, dass es wirksam ist, wie genau es wirken soll und – last not least – ob die Wirksamkeit in irgendeiner Art und Weise nachgewiesen werden kann. Wobei mir klar ist, dass die Nachweisbarkeit so eine Sache ist: Wenn es nicht eine Studie bezüglich der Wirkung eines Präparates gibt, kann das daran liegen, dass eine solche Studie bisher nicht erstellt wurde (seriöse Studien sind ja auch aufwendig und teuer!), aber es ist natürlich ebenfalls möglich, dass es da schlicht keine Wirkung nachzuweisen gibt.
„Ich habe mich selbst erfolgreich mit ………. (alles von Aprikosenkern bis Zistrose) von ………. (beliebige Erkrankung) geheilt!“ ist spätestens seit der Entdeckung des Placebo-Effektes kein schlagendes Argument mehr, und auch Berichte von Quellen, die das entsprechende Mittel wie zufällig gleich selbst vertreiben, vermögen nicht wirklich zu überzeugen. Die Methode „wurde mir im Traum offenbart!“ oder aber „von Gott eingegeben!“ und dergleichen, sind ebenfalls Anpreisungen, die ich zu bezweifeln geneigt bin. Außerdem beäuge ich solche Heiler, die an der Krankheit, die sie zu besiegen versprachen, unterdessen selbst verstorben sind, mit einem gewissen Misstrauen.
Um solche Mittel, bei denen tatsächlich eine Wirkung nachzuweisen ist, entsteht schnell ein Hype, der dazu führt, dass ihnen weitere Eigenschaften zugeschrieben werden, die vermutlich nur noch durch das „Prinzip Hoffnung“ zu erklären sind.
Man kann auch einfach mal was ausprobieren und gucken, wie es einem damit geht, keine Frage! Aber selbst dann muss man ja entscheiden, mit welcher der zahllosen Möglichkeiten man beginnen möchte. Und ich merke schnell, wie schwierig es ist, zweifelsfrei festzustellen, was hilft, und was eher nicht. Gelenkschmerzen kommen und gehen zum Beispiel auch mit kaltem Wetter, Regenwetter kann auf’s Gemüt schlagen und so bewirken, dass Schmerzen stärker empfunden werden. Und natürlich möchte ich auch jedes Mal wieder feststellen, dass ich mich jetzt endlich besser fühle!

Es wäre auch nicht förderlich, denke ich, wenn ich die Hoffnung aufgäbe, dass die nächste Untersuchung zu Erkenntnissen führen, die nächste Behandlung helfen möge.
Im Großen und Ganzen sehe ich mich als Optimistin, die sich bemüht, den Dingen einen positiven Aspekt abzugewinnen (ich werd nie kapieren, warum ausgerechnet ich Depressionen habe!) – und sei es nur Galgenhumor. Ich fand immer, wenn ich über meine Lage mal keine flachen Witze mehr zu reißen in der Lage bin, brauch ich nen guten Freund, der mich erschießt.
Mir ist sehr daran gelegen, nicht jammerig zu klingen. Womöglich, damit mich nicht jemand aus Versehen erschießt. Und die gute Nachricht ist ja tatsächlich, dass ich – soweit man bis heute sagen kann – nichts Lebensbedrohliches habe. Und was nicht unmittelbar zum Tode führt, härtet ab, oder?
Aber wenn ich mir vorstelle, dass mein Leben einfach so weitergeht, wie es jetzt ist, dann scheint mir das eine sehr lange Zeit für einen ziemlich elenden Zustand zu sein. Dann werde ich sehr klein und jämmerlich. Und die Witze gehen mir aus.

Montagsmodell IV: Nix Neues. Oder?

„Warum schreibst du darüber, als wäre es etwas ganz Neues für dich? Du bist doch schon seit Jahren chronisch krank …“
Hätte ich meinen Text zu Papier gebracht, wäre das jetzt der Moment, mit einer Hand die Blätter zusammenzuknüllen … Stimmt! Warum eigentlich?
Seit fast 20 Jahren lebe ich mit einer rezidivierenden (sprich: chronischen) Depression, da sollte man annehmen, ich sei (sofern das überhaupt möglich ist) daran gewöhnt. Und tatsächlich habe ich im ersten Moment selber gedacht, das, was ich jetzt erlebe, sei einfach eine Variante dessen, was ich bereits kenne und ich könne es problemlos in die Ablage „chronische Erkrankungen – Komma – akzeptierte“ verräumen. „Kenn‘ ich!“, hab ich gedacht und damit nichts anderes getan, als all die Menschen, die hin und wieder traurig und niedergeschlagen sind und deswegen glauben, sich gut vorstellen zu können, wie es ist, an Depressionen zu leiden.
Meine Vorstellung vom Leben mit einer chronischen Erkrankung des Körpers war dann auch ungefähr so realistisch, als würde ich über das Sterben nachdenken und dabei Winnetou, Mr. Spock und Dr. Schiwago vor Augen haben.
Zum Beispiel hatte ich ganz selbstverständlich angenommen, dass am Anfang eine Diagnose steht (und mich selbst mit der Feststellung, dass ich mich irgendwann einmal mit Borreliose infiziert habe, fälschlicherweise bereits am Ziel gewähnt). Dass es Menschen gibt, die eine ganze Odyssee hinter sich bringen müssen, bis es soweit ist, hatte ich zwar schon gehört, aber das war etwas, das anderen passiert. Für mich selbst habe ich das nie in Betracht gezogen. Diagnose also und dann Behandlung.
An der Stelle muss ich einräumen, dass ich, was meine psychische Erkrankung betraf, zu den Glückskindern gezählt habe, denen man mit einem milden Antidepressivum wieder auf die Beine helfen konnte. Und ich hatte eine Therapeutin, die mir über Jahre hinweg geholfen hat, mit meiner Erkrankung, wenn sie schon nicht zu überwinden war, doch wenigstens zurechtzukommen.
Eigentlich hätte ich jetzt sehr gerne meine Therapeutin zurück, damit sie mir hilft, damit klarzukommen, dass es bislang keine abschließende Diagnose gibt. Und deswegen auch nur „Versuche“, was die Behandlung betrifft.
Gleich darauf schäme ich mich, weil es ja Menschen gibt, bei denen jahrelang niemand weiß, was sie leiden macht. Und ich heul schon nach ein paar Monaten rum …

IMG_14069-webDarüber, dass Depressionen wenigstens nicht weh tun, hab ich ja schon mehr als einmal herumgeblödelt – jetzt stelle ich fest, wie zermürbend anhaltende Schmerzen wirken, auch wenn sie gar nicht einmal besonders heftig sind. Ich finde keinen Weg, für mich zu sorgen.
In ganz schlimmen depressiven Phasen, habe ich mit Müh und Not den Weg vom Bett bis zum Sofa geschafft. Da lag ich dann und habe ferngesehen. Ich wusste sehr genau, wann auf welchem Sender welche Zoosendung läuft, Lücken ließen sich zur Not mit „Unsere kleine Farm“ überbrücken, dann gab es Vorabendserien und in der Nacht Pathologenkrimis. Die halbe Zeit habe ich sowieso gedöst, oder bin in einem „Zeitloch“ versunken: Man sitzt oder liegt einfach da, denkt und tut nichts und plötzlich ist der Tag vorbei. Depression ist dumpf. Man kann zwar nichts tun, leidet darunter aber nicht allzu sehr, weil man sowieso nichts tun will. Es fällt einem gar nicht erst etwas ein, was man wollen könnte.
Gegen Ängste lassen sich Strategien finden: Vor dem Kino warten zum Beispiel, während jemand anders die Karten besorgt. Sich einen Platz gleich am Gang freihalten lassen, damit man wieder nach draußen kann, falls man es doch nicht aushält. Und dann reingehen, wenn das Gedränge vorbei ist. Und wenn trotzdem alles zuviel ist, lässt man es halt! Das ist dann doof. Enttäuschend. Frustrierend. Aber die Angst ist weg.
Jetzt hilft kein Rückzug, kein Vermeiden. Wenn ich mich im Bett verkrieche und mir die Decke über den Kopf ziehe, tut es trotzdem weh. Der Tag vergeht in normaler Geschwindigkeit. Und ich will ja was! Ich hab Ideen, was ich tun möchte und dann kann ich nicht.

Was sehr vertraut ist, die Lage aber keineswegs verbessert, ist die Angst, nicht ernst genommen zu werden. Mich selbst doch wieder zu fragen, ob es wohl sein könne, dass ich mich anstelle.

Neulich hab ich es tatsächlich noch einmal getan. Als ich zum Yoga wollte, von dem ich ja weiß, dass es zu den wenigen Dingen gehört, die helfen, und feststellen musste, dass ich den Weg vom Haus zum Auto nicht schaffe. Erst hab ich vor Verzweiflung Rotz und Wasser geheult, dann bin ich auf die Suche nach Trost gegangen. Es gibt zwar keinen Fernseher mehr, vor dem ich liegen könnte, aber in der Mediathek findet man Zoosendungen …

Drei Jahre Schattentaucherin: Kurswechsel

Fünf Jahre ist es nun her, dass ich – nach über zehn Jahren mit Psychopharmaka und therapeutischer Unterstützung – begonnen habe, mich zu fragen, ob es richtig sein könne, immer weiter mich für das Leben „passend machen“ zu wollen, oder ob es nicht vielmehr an der Zeit sei, mein Leben an mich, meine Bedürfnisse und meine Möglichkeiten anzupassen.
In der Verfassung, tatsächlich aktiv zu werden, mein Leben neu zu gestalten, war ich damals freilich nicht. Ich hatte schlicht Glück: Ohne dass ich danach gesucht hätte, fand sich ein Platz für mich, an dem ich ein anderes Leben ausprobieren konnte. Mir blieb nur, mich auf den Weg zu machen und das fand ich schwierig und schmerzhaft genug.

Seit vier Jahren lebe ich auf einem Bauernhof in den Cevennen, einer nur spärlich besiedelten Gegend im Süden Frankreichs, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Hügelig sind die Cevennen. Und grün. Aber karg, felsig und unwirtlich ebenso. Eine Gegend, in der schon früher Menschen Schutz gesucht haben.
Der Hof ist einsam gelegen, Nachbarn gibt es nicht. Meist ist es so ruhig, dass einem die Stille in den Ohren klingt. Soweit es mir möglich war, hab ich mich an der Hofarbeit beteiligt. Die Strukturen, die das Leben auf dem Land kurzerhand „setzt“, haben mir gutgetan, ebenso wie die Fürsorge für unsere Tiere. Nicht zu vergessen: Die Hofküche! Die ist mir Arbeitsplatz, Ergotherapie und Kreativlabor in einem!
Wer nun aber meint, dass damit, hopp!, mein Leben in Ordnung war, den muss ich enttäuschen. Ich war dieselbe, wie vorher: Immer noch depressiv, immer noch gelegentlich von Panikattacken heimgesucht. Aber immerhin: Eigenständig unterwegs, ohne medikamentöse Unterstützung.

Vor drei Jahren nun, habe ich mich entschieden, mich als Mensch mit einer psychischen Erkrankung zu outen und vom weiteren Verlauf meines Weges zu berichten: Die Schattentaucherin war geboren.

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Während der ersten beiden Jahre auf dem Hof war ich vollauf damit beschäftigt, den Kopf über Wasser zu halten: Am Leben teilzunehmen sofern möglich, Tiefs und Rückschläge durchzustehen, auf baldige Besserung zu hoffen und irgendwann auch zu vertrauen. Bis heute fällt es mir schwer zu unterscheiden, ob es tatsächlich meine Lebenssituation ist, die unerträglich scheint, oder „nur“ die Depression mir wieder einmal einflüstert, dass alles sinnlos sei. „Wenn’s nach zwei, drei Tagen wieder okay ist, war’s nur die Depresse!“, aber das weiß ich dann: An Tag eins möchte ich sterben. Immerhin war irgendwann nur noch von Tagen die Rede – nicht mehr von Wochen und Monaten. Und ganz allmählich hat sich Vertrauen entwickelt: Darauf, dass heute halt mal ein schlechter Tag ist. Mit der Betonung auf „heute“ und „mal“ …

Erst dann war Platz für die Idee, es könne noch „Luft nach oben“ geben und ich aktiv etwas dafür tun, mein Befinden weiter zu stabilisieren. Angefangen habe ich ganz klein: Mit Achtsamkeitsübungen, die ich morgens im Bett absolvieren konnte. Ein Yogakurs, der wundersamerweise just in dem Moment im Dorf angeboten wurde, als ich soeben erfahren hatte, dass Yoga meine Achtsamkeitsbemühungen wirksam unterstützen könne, dagegen, schien mir ein außerordentlich ehrgeiziges Projekt zu sein. Es dennoch in Angriff zu nehmen, hat mich eine Menge Mut und Zähigkeit gekostet – aber es hat sich gelohnt!

Heute denke ich, dass – obwohl auch CBD durchaus hilfreich ist – es vor allem anderen die Yoga-Übungen sind, die mir gut tun. Es hat, zugegeben, eine Weile gedauert – aber es ist ja auch wichtig, auszuprobieren, ob ein Fehler reproduzierbar ist – bis ich eingesehen habe, dass Rückfälle bevorzugt mit dem Ende der Schulferien einhergingen, also immer dann eintraten, wenn das Yoga-Training ein paar Wochen lang ausgefallen war. Seitdem suche ich regelmäßig meine Matte auf.

Im Großen und Ganzen ist meine Stimmung (der Franzose spricht hier drolligerweise von „humeur“) stabil. Wenn ich arg gestresst bin, habe ich hin und wieder immer noch Panikschübe, aber – ganz ehrlich? – das sind Fürze im Orkan. Unangenehm, ja, peinlich auch – aber nicht wirklich ein Problem. Das Weinen bin ich nicht losgeworden: Wenn mich etwas berührt – ganz egal, in welcher Weise – weine ich. Zuweilen weine ich sogar dann, wenn mich etwas zum Lachen bringt. Das finde ich befremdlich und durchaus auch hinderlich. Aber es gibt ganz sicher Schlimmeres.

Viel wichtiger finde ich, dass ich kürzlich ganz allein im großen Supermarkt in der Stadt war!
Okay, es war kein großer Einkauf, aber ich bin da einfach reinmarschiert und hab erst hinterher begriffen, dass da eine Premiere stattgefunden hatte. Das erste Mal seit 5 Jahren und ich hab nicht einmal darüber nachgedacht!

Demnach könnte die Tauchfahrt jetzt und hier enden: Es hat geklappt. Ich habe eine Lebensweise für mich gefunden, bei der es zum Thema Depression nur noch selten etwas zu berichten gibt.
Stattdessen ist ein Schatten ganz anderer Art auf mein Leben gefallen.
Eine chronische Erkrankung des Körpers, das zumindest steht momentan zu befürchten, die mich mindestens ebenso wirksam daran hindert, am Leben teilzunehmen.
Früher habe ich hin und wieder geflachst, ein Vorteil an Depressionen sei, dass sie immerhin nicht weh täten … Das jetzt tut weh. Unter anderem.
Und derzeit scheint es, als hätte ich noch einen langen Weg vor mir: Bislang gibt es keine brauchbare Diagnose, eine Behandlung, die über ein Stochern im Nebel hinausgeht, ist nicht in Sicht. Das ist beängstigend, empörend, frustrierend und – ooops! – deprimierend. Dafür ist mein humeur nach wie vor erfreulich stabil!

Die Taucherin war mir eine gute Begleiterin auf dem Weg aus der Depression. Sie soll mich auch auf dem Weg durch diesen Schatten begleiten.

Das Yoga Projekt V

Wagnis Workshop

Wer sich erinnert, mit welchen Ängsten und Nöten ich vor knapp zwei Jahren zu meiner ersten Yogastunde aufgebrochen bin, kann vielleicht ermessen, was für ein Abenteuer ein ganzes Yoga-Seminar war.
Fünf Tage lang, jeweils vier Stunden, in französischer Sprache.

Okay, es fand an vertrautem Ort und mit der vertrauten Trainerin statt, aber natürlich mit sehr viel mehr TeilnehmerInnen als der normale Kurs. Ich kann nicht gut mit vielen Menschen in einem Raum sein. Das fällt mir manchmal schon mit solchen Menschen schwer, die ich kenne, und hier war klar, dass die meisten mir fremd sein würden. Sein und wohl auch bleiben: Mein Französisch ist mittlerweile zwar gut genug, um Nathalies Anweisungen zu folgen (bzw. nachzufragen, wenn ich nicht mehr folgen kann), aber für die Sorte Smalltalk, die hier von Nöten wäre, um rasch ein paar Worte von Yogamatte zu Yogamatte zu wechseln, reicht es nicht ansatzweise. Zumal ich dazu auch in meiner Muttersprache nicht recht in der Lage bin – Smalltalk ist mir ein Greuel.

Vier Stunden sind verdammt lang. An schlechten Tagen fällt es mir ja schon schwer, die normale Kursdauer von 90 Minuten durchzuhalten.

Und dann fängt das auch noch um neun Uhr morgens an! Da bin ich normalerweise noch schwer mit der Frage beschäftigt, ob es wohl möglich sei, mich im Bett aufzusetzen! Last not least: Wenn ich etwas Anstrengendes oder Aufregendes erlebt habe, muss ich, auch wenn es etwas Schönes war, damit rechnen, am nächsten Tag auf der Nase zu liegen. Wie ich fünf Tage am Stück durchhalten soll, ist mir ein Rätsel. Und nein: Ich habe keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hat, mich dafür anzumelden!

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Am ersten Tag bin ich so frühzeitig da, dass ich sicher sein kann, meine Matte am gewohnten Platz auszurollen. Das kann man albern finden, aber mir gibt es Sicherheit: Hier kann ich Nathalie gut sehen und hören, bin aber nicht so dichtauf, dass es aufdringlich wirken könnte. Ich bin relativ nah an der Tür und vor allen Dingen habe ich eine Wand im Rücken! Die halbe Stunde bis zum Kursbeginn wird anschließend allerdings lang und immer länger: Immer mehr Leute kommen in den Raum, begrüßen einander, gehen umher, suchen sich einen Platz … Das ist alles viel zu viel! Ich lege mich mit geschlossenen Augen auf meine Matte und gebe mir alle Mühe, meine Umgebung auszublenden.

Das Training selbst klappt prima. Jedenfalls bis zu dem Moment, als wir uns zu Paaren zusammentun sollen: Ich liege genau in der Mitte der Reihe mit der ungeraden TeilnehmerInnenzahl und „bleibe übrig“. Vielleicht war ich auch einfach zu defensiv. Jedenfalls liegt es nicht daran, dass niemand mit mir üben will – daran bemühe ich mich, ganz fest zu denken. Außerdem bleibe ich nicht allein: Nathalies Co-Trainerin gesellt sich zu mir und ich soll in Fetus-Haltung gegen ihre Hände atmen. Kein Problem – diese Art körperlicher Nähe bin ich vom Tanzen gewohnt und sie macht mir nichts aus. Allerdings haben wir so ein bisschen später angefangen als die anderen und während ich mit der Stirn auf dem Boden auf den Knien liege und jemand hinter mir hockt, die Hände auf meinem Rücken, entsteht im Raum plötzlich Unruhe, Bewegung, Gespräche werden begonnen. Und ich kauere auf dem Boden. Ich seh nicht, was um mich herum, ja, über mir passiert! Das ist zu viel! Ich fahre hoch, schnappe nach Luft, die Tränen kommen. Immerhin gelingt es mir, meiner bestürzten Trainingspartnerin – auf Französisch! – zu sagen, dass ich eine Panikattacke habe. Sie reagiert gelassen und kurz darauf üben wir auch schon weiter. Später wird Nathalie erklären, dass es ganz normal ist, wenn beim Yoga Emotionen „hochkommen“: Trauer, Wut, Heiterkeit, Angst. Das hilft mir, meine Reaktion weniger peinlich zu finden.
Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden mit meinem ersten Tag. Und verschlafe den kompletten Nachmittag.

Ein Teil der Übungen wird täglich wiederholt: Die Demi-Pont zum Beispiel, bei der ich mich fast umbringe, weil mir schlicht die Kraft fehlt. Alle anderen, Senioren und Übergewichtige inklusive, so kommt es mir jedenfalls vor, halten die ganz problemlos. Nur ich renne auf den letzten Reserven, um, nachdem ich gerade erst den Rücken durchgebogen habe, wenigstens Wirbel für Wirbel wieder abzurollen und nicht einfach wie ein nasser Sack auf meine Matte zu klatschen.
Und ausgerechnet diejenige Torsion, die mir, als ich sie vor einiger Zeit zum ersten Mal versucht habe, zu einer Panikattacke verholfen hat … Das wiederholt sich glücklicherweise nicht, aber ein paar Tränchen fließen schon. Ich beschließe, sie fürderhin die „tränenreiche Torsion“ zu nennen.
Als für eine weitere Übung erneut Paare gebildet werden sollen, gelingt mir dieses Kunststück. Und dann gleich noch eines: es handelt sich um eine isolierte Bewegung des Brustkorbes, die durchaus tricky, nach zehn Jahren orientalischen Tanzes aber echt kein Problem ist. Ich bin total stolz auf mich!
Ich fühle mich wohl. Muss nicht mehr alles um mich herum ausblenden, sondern kann die Atmosphäre wahrnehmen: Sie ist entspannt und freundlich.

Am dritten Tag bin ich soweit „angekommen“, dass ich mich in der Pause ins Foyer wage.
Bisher habe ich das vermieden: Es ist zu eng, zu laut und ich habe Angst, dass jemand in bester Absicht ein Gespräch mit mir zu beginnen versucht.
Es wird Tee gereicht. Ich vermute, dass er gratis ist, aber mir ist nicht klar, ob man sich einfach welchen nehmen darf, oder darum bitten muss. Mit ein bisschen Nachdenken reicht mein Französisch, um die entsprechende Frage zu formulieren, aber es würde sehr gestelzt klingen, fürchte ich, und das ist mir unangenehm. Außerdem laufe ich in solchen Momenten immer Gefahr, dass es mir zwar gelingt, eine Frage zu stellen, ich die Antwort aber nicht verstehe.
Und prompt passiert es! Eine Frau mit einem Becher Tee in der Hand schaut mich an und fragt etwas.
Pardon?“
Sie wiederholt die Frage. Ich verstehe kein Wort.
Nachdem ich zwei Stunden lang französischen Anleitungen gefolgt bin, kann ich mich kaum noch konzentrieren. Und: Wenn man weiß, worüber gesprochen wird, kann man Gesprächen in einer Fremdsprache relativ gut folgen. Wenn man aber erst einmal herausfinden muss, was überhaupt das Thema ist, verliert man ratzfatz den Anschluss …
Sie scheint ihren Becher zu heben und vor meinem inneren Auge sehe ich mich erfreut danach greifen, während sie mich lediglich gefragt hat, ob ich wisse, wie spät es ist. Wie peinlich wäre das? Ich bin völlig überfordert.
Tu?“ … Pause … „Vouloir?“ … Pause … „Thé?“
Ob ich Tee möchte! „Du wollen Tee?“ um genau zu sein. Ich lache los. Und komme mir weit weniger blöd vor, als ich befürchtet hätte.
Es wird mir noch häufiger passieren, dass ich im ersten Anlauf nicht verstehe, was jemand zu mir sagt, aber alle sind sehr geduldig, sprechen langsam und deutlich, wiederholen das Gesagte und werden dabei – ganz anders, als man es zum Beispiel den Deutschen nachsagt – auch nicht lauter.
Ich fange an, mich nicht mehr nur als Beobachterin eines netten Seminares zu fühlen, sondern tatsächlich als Teilnehmerin.
Körperlich beginnt die Teilnahme, mir ein wenig schwer zu fallen: Ich habe Schmerzen und bin deutlich steifer als zu Beginn. Meine Laune lasse ich mir davon allerdings nicht vermiesen.

Einen Tag später werden die Schmerzen heftig. Nicht, weil ich Muskelkater hätte, oder die Übungen übertreiben würde … es tut einfach ständig irgendwo etwas weh. Als ich bei der Kerze, die ich bislang immer als sehr angenehm empfunden habe, einen solchen Druck auf dem Brustbein verspüre, dass ich kaum noch atmen kann, bekomme ich einen denkwürdigen Rat: „Dann atme in den Rücken!“. Und tatsächlich: Da ist Platz!
In der Pause breche ich dennoch vollends ein, mir wird schwindelig und ich fühle mich außerordentlich unwohl. Abbrechen möchte ich trotzdem nicht. In der zweiten Hälfte liegt der Schwerpunkt auf Atemübungen – die macht man im Sitzen, dabei werd ich schon nicht umkippen.
Und tatsächlich halte ich – wenn auch mit vielen Pausen – bis zum Ende durch.
Das mag klingen, als würde ich mir zu viel zumuten und vielleicht ist das auch tatsächlich so. Aber Tatsache ist, dass ich immer Schmerzen habe. Auch dann, wenn ich nur versuche, mich mit der linken Hand am rechten Oberarm zu kratzen. Oder flach im Bett liege. Mir wird auch dann schwindelig, wenn ich auf einem Stuhl sitze und mir eigentlich gerade ein Brot schmieren will.
Beim Yoga zu üben, nicht trotz dieser Beschwerden weiterzumachen, sondern mit ihnen; zu erfahren, dass ich atmen und mich entspannen kann und nichts Schlimmes passiert, auch wenn der Schmerz da ist, scheint mir durchaus vernünftig zu sein.

Aber mit 5 Tagen habe ich mich ganz offensichtlich übernommen.
Am letzten Tag weine ich bei der tränenreichen Torsion vor Schmerzen und das, obwohl ich sie nur ansatzweise ausführe. Ich beschließe, mich noch vorsichtiger zu bewegen, als ich das sowieso schon tue. Bei der anschließenden Vorwärtsbeuge im Sitzen, bei der meine Mattennachbarin bäuchlings und augenscheinlich völlig entspannt auf ihren ausgestreckten Beinen liegt, halte ich sofort inne, als mir der Schmerz in den Rücken schießt. Und muss feststellen, dass ich immer noch aufrecht sitze. Ich habe nicht einmal angefangen! Mir schießen die Tränen in die Augen, aber diesmal nicht, weil es wehtut.

Ich gehe nach draußen und heule Rotz und Wasser.
Es ist so unfassbar ungerecht! Ich war so stolz, dass ich mich trotz aller Hürden zu diesem Seminar getraut habe. Es hat mich eine Menge Mut und Überwindung gekostet, aber ich habe es hingekriegt. Nein, ich habe es nicht nur hingekriegt, es hat Spaß gemacht! Und jetzt macht mein Körper mir einen Strich durch die Rechnung! Als ob ich es, verdammt nochmal, nicht auch so schon schwer genug hätte!
Und in diesem Moment wird mir klar, dass ich einen Fehler gemacht habe.
Ich hatte sehr viel Zeit, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass meine Depressionen nicht heilbar sind. Und hab dann noch mehr Zeit gebraucht, diesen Umstand auch zu akzeptieren – soweit mir das halt möglich war. Ich lebe mit meiner Erkrankung und das gar nicht mal so schlecht.
Okay, das mit der Makula-Degeneration war jetzt nicht sooo eine gute Nachricht, aber bislang komme ich ganz gut damit zurecht.
„Was soll sein?“, hab ich mir also gedacht, als mit der Borreliose noch eine weitere Erkrankung hinzukam, „Wenn ich sowieso schon dabei bin, nehm‘ ich die in einem Aufwasch mit an!“.
Es war eine ungeheure Erleichterung, eine Diagnose zu haben, aber nachdem es derzeit nicht so aussieht, als sei mit einer kurz- oder auch nur mittelfristigen Linderung der Symptome zu rechnen, muss ich mich mit ganz neuen Beeinträchtigungen arrangieren.
Und dafür sollte und darf ich mir Zeit nehmen. Dazusitzen und zu heulen gehört da durchaus dazu. Das ist okay.

Drinnen kommt Unruhe auf. Vermutlich beginnt die Pause und auf keinen Fall möchte ich weinend vor der Tür angetroffen werden. Nicht einmal auf Deutsch könnte ich in zwei, drei Sätzen erklären, was mit mir los ist – auf Französisch: keine Chance. Besser, ich mogele mich unauffällig in den Raum zurück! Dort jedoch werden soeben wieder Paare gebildet und ich ergreife umgehend die Flucht. Jetzt bloß kein Kontakt zu anderen Menschen! Draußen allerdings packt mich die Wut: Das ist ü!ber!haupt! nicht! einzusehen! Das ist nur Yoga! Ich gehe da jetzt rein, setze mich auf meine Matte, atme und gucke zu!

Kaum habe ich den Raum betreten, spricht meine Mattennachbarin, die ich bisher als äußerst reserviert erlebt habe, mich sehr freundlich an: Gerne könne ich mich ihr und ihrer Trainingspartnerin anschließen! Ich versuche, zu erklären, dass es ganz okay für mich sei, einfach eine Pause zu machen. Aber, nee, gar kein Problem, ich könne ja erst einmal zugucken und dann entscheiden, ob ich es auch versuchen will. Ich wär schon froh, wenn ich die „sitzen – atmen – nicht gleich wieder losheulen – Kombi“ hinkriegen würde, aber diese Zugewandtheit macht mich ganz wehrlos. Ich will nicht rumzicken. Und gucken kann ich ja mal …

Sie leitet die Übung sehr kundig an (später erfahre ich, dass sie selbst Trainerin ist) und ihre Partnerin, die sich augenscheinlich auch nicht völlig problemlos bewegen kann, nimmt die Sache souverän und mit Humor. Ich stimme in ihr Lachen ein. Okay … das traue ich mich auch.
Und die Macht des Yoga ist mit mir: Das kann ich auch! Es ziept ein bisschen, aber es tut nicht weh!

Meine Mattennachbarin kann unmöglich ermessen, was für einen riesigen Gefallen sie mir da getan hat: Sie hat mich in das Seminar zurückgeholt. Dafür bin ich ihr aufrichtig dankbar.
Ich bin aber auch hochzufrieden mit mir selbst.

* Und ich lasse diesen Satz jetzt stehen, auch wenn es schwerfällt! *

Weil ich mal losgelassen habe. Aufgegeben. Hemmungslos geweint. Mir verziehen, dass ich meinen Ansprüchen an mich selbst nicht gerecht werde.
Natürlich auch, weil ich mich getraut habe, anschließend weiterzumachen. Hilfe anzunehmen.

In der Pause muss ich wieder einmal nachfragen, als ich angesprochen werde.
Ob ich einen Keks möchte.
Möchte ich! Den hab ich mir verdient!

4 Dinge, die Du im Umgang mit depressiven Menschen gleich wieder vergessen kannst

Menschen, die an Depressionen leiden, fühlen sich häufig (und häufig vollkommen zu Recht) unverstanden, nicht ernst genommen. Und ja: Es ist schwierig bis unmöglich, sich in einen depressiven Menschen hineinzufühlen, wenn man selbst nie unter Depressionen gelitten hat. Deswegen ist es gut und richtig, dass in den letzten Jahren zunehmend über diese und andere psychische Erkrankungen informiert wird, um Vorurteile abzubauen und Hilfestellung im Umgang mit psychisch kranken Menschen zu geben. Meineeine gibt sich da ja auch durchaus Mühe.

Und so ist es vermutlich keine Überraschung, dass es auch zu diesem Thema unterdessen einige dieser inflationär verbreiteten Kurzratgeber gibt, die in aller Regel mit „X Dinge, die Du …“ betitelt sind – und was anderswo ausführlich erläutert wird auf ein paar wenige, leicht verdauliche Stichpunkte eindampfen –, so dass man sich informiert fühlen kann, ohne eine Aufmerksamkeitsspanne von mehr als 3 Minuten zu benötigen.
Ich persönlich mag die nicht leiden und hab in aller Regel schon angesichts der suchmaschinenoptimierten Überschrift keine Lust mehr. Aber sei’s drum: Vielleicht muss man in schnelllebigen Zeiten auch schnelllebig erklären.

Neulich nun stolperte ich über einen, der versprach, zu verraten, was man wissen muss, wenn man einen depressiven Menschen liebt.
Oh! Liebe
Texte, die sich aus diesem Blickwinkel mit dem Thema Depression befassen, hatte ich bisher nicht gesehen. Das hat meine Aufmerksamkeit erregt, mein Interesse geweckt. Tut das Stichwort Liebe das nicht immer?

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Die Illustration stand dem Titel in nichts nach: Ein Portrait einer rothaarigen Schönheit, die – die Frisur leicht zerzaust – mit kokettem Blick und leicht geöffneten Lippen den Betrachter anschaut. Wow! Den Prototyp einer depressiven Frau hätte ich mir so jetzt nicht vorgestellt. Oder sehen so Frauen aus, die depressive Männer lieben? Aber gut: Das ist natürlich ein sehr viel wirksamerer Eyecatcher als irgend so ein Schwarzweißfoto mit See und Bäumen im Nebel …

Leider war das dann aber auch schon alles, was diesen Text zu etwas Außergewöhnlichem machte.
Der Inhalt war der sattsam bekannte und hätte ebenso gut unter der Überschrift „Was Sie tun können, wenn ein Arbeitskollege an Depressionen erkrankt“ stehen können. Vielleicht mit einem Foto einer grauen, zerknitterten Gestalt, die an einem Schreibtisch sitzt.

Clickbaiting“ hätte ich mir gedacht und das ganze Ding rasch vergessen, wären da nicht ein paar wirklich ärgerliche Details gewesen.

„Depressionen gelten als Geisteskrankheit“ lese ich und tatsächlich findet dieser Begriff in der juristischen Diktion und in der forensischen Psychiatrie bis heute Verwendung (wenn auch nicht für Depressionen, sondern für „psychische Störungen von erheblichem Ausmaß wie Schizophrenie oder auch für geistige Behinderung“, Quelle: Wikipedia). Aus dem alltäglichen Sprachgebrauch ist er aus guten Gründen längst verschwunden, stigmatisiert er doch die Betroffenen.
Wenn man einmal die Stichwörter „Depression“ und „Geisteskrankheit“ zusammen bei Google eingibt, erhält man einen ganzen Rattenschwanz von Artikeln, in denen nachzulesen ist, dass und warum Depression keine Geisteskrankheit ist. Aber offenbar ist schon das für „X Dinge, die Du …“ AutorInnen zu viel der Recherche.
Haarspalterei? Ganz ehrlich: Das Etikett „geisteskrank“ empfinde ich als beleidigend. Ich habe schließlich auch, als es mir richtig schlecht ging, eine Klinik aufgesucht und war nicht im Irrenhaus.
Da gibt also jemand hochwichtige Tips, wie mit Menschen wie mir umzugehen sei, und macht sich dabei nicht einmal die Mühe, mich auch nur angemessen anzusprechen.
Da wird mir doch gleich ganz warm ums Herz von dem ganzen Verständnis für meine Erkrankung!
Vielleicht geh ich mal zu meinem schwarzafrikanischen Nachbarn und drücke ihm mein Mitgefühl dafür aus, dass die Neger immer diskriminiert werden …

Die gute Nachricht: Es sei möglich, dass die Depression einen Menschen kreativer, leistungsfähiger und empathischer mache. Untersuchungen hätten außerdem gezeigt, dass depressive Menschen ein besseres Urteilsvermögen und eine schärfere Wahrnehmung hätten. Das mit der Leistungsfähigkeit kann ich nun nicht bestätigen, zumal „Antriebslosigkeit“ ja eines der klassischen Symptome einer Depression ist, und auch das Urteilsvermögen lässt vermutlich eher zu wünschen übrig, wenn man – wie viele depressive Menschen – mit Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen hat.
Aber „kreativ und empathisch“, „schärfere Wahrnehmung“! Das klingt gut!

Nur … warum muss man das wissen, wenn man mich liebt?
Entweder ich bin kreativ und empathisch, dann sollte ein liebender Mensch das – Depresse hin oder her – irgendwann mal mitgekriegt haben.
Oder ich bin es eben nicht. Dann würde ich mir doch aber trotzdem Verständnis für meine Erkrankung erhoffen, oder?
Oder soll das ein Kriterium für die Partnerwahl sein – so nach dem Motto „okay, sie ist geisteskrank, aber mit ein bisschen Glück ist sie kreativ!“?

Aber es klingt erst einmal so nett: Endlich sagt mal jemand etwas Wertschätzendes über Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Also: Über mich.
Und tatsächlich dauert es eine ganze Weile, bis mit klar wird, warum mir das solches Unbehagen bereitet.
Man ersetze einmal „Depression“ durch eine andere Erkrankung:
„Es ist möglich dass eine Krebserkrankung einen Menschen kreativer, leistungsfähiger und empathischer macht.“,
„Untersuchungen haben gezeigt, dass Diabetiker ein besseres Urteilsvermögen und eine schärfere Wahrnehmung haben.“ …
Klingt komisch, oder? Irgendwie unangemessen.
Schließlich sind das ernsthafte Erkrank … „ooops!“ …

Depression ist eine ernsthafte Erkrankung und wenn man im Umgang mit depressiven Menschen irgend etwas dringend wissen sollte, dann DAS!

Immerhin bringt mich das auf einen Tip, den man gut brauchen kann, wenn man einen depressiven Menschen liebt (oder mag, oder schätzt, oder einfach irgendwie mit ihm klarkommen muss):
Bevor Du etwas sagst, ersetze „Depression“ durch „Krebs“, oder – wenn Dir das zu hart erscheint – durch Oberschenkelhalsbruch oder Fischvergiftung. Wenn es sich dann blöd anhört, behalt es einfach für Dich.

Menschen mit einer psychischen Erkrankung möchten ernst genommen werden!
Und das bringt mich doch wahrhaftig zu einem weiteren ärgerlichen Detail:
Es sei wichtig, werde ich belehrt, zu verstehen, dass der Gemütszustand eines depressiven Menschen nichts mit dessen Partner zu tun habe, sondern nur mit ihm selbst.
Spontan fällt mir dazu ein steinalter Paranoikerwitz ein: „Dass ich Paranoia habe, bedeutet nicht, dass ich nicht verfolgt werde!“. Frauen, die, wenn sie sich über etwas ärgern, darauf reduziert werden, sie hätten wohl ihre Tage, werden das Gefühl ebenfalls kennen.
Wenn ich mich in der Beziehung zu meinem Partner unglücklich fühle, dann könnte das verdammt nochmal durchaus bedeuten, dass dort etwas im Argen liegt! Einen Partner, der dann findet, das habe nichts mit ihm zu tun, brauche ich ungefähr so dringend, wie ein Loch im Kopf.

Das Beste kommt zum Schluss:
Einen Menschen zu lieben, der unter Depressionen leidet, sei eine Herausforderung.
Die Niagarafälle in einer Zinkbadewanne zu befahren, das ist eine Herausforderung! Eine Herausforderung nimmt man an, wenn einen das reizt, weil man (sich) etwas beweisen will. Oder lässt es eben bleiben. Das hat durchaus sportlichen Charakter.
Ich für mein Teil möchte einfach geliebt werden. Weil ich ein liebenswerter Mensch bin. Und nicht, weil oder obwohl das angeblich eine Herausforderung ist.

Warum mich ein paar Zeilen lieblos zusammengenagelter Pseudo-Ratschläge überhaupt so ärgern?
Weil sie tatsächlich verbreitet werden. Und zwar nicht einmal von solchen Menschen, die’s betrifft (den PartnerInnen, FreundInnen, KollegInnen depressiver Menschen), sondern von denen, über die gesprochen wird.
Da vertritt jemand unsere Interessen, wirbt um Verständnis und sagt sogar etwas Nettes über uns!
Jo. Aber mal ernsthaft: meint Ihr nicht, wir hätten was Besseres verdient?
Gründlich recherchiert zum Beispiel? Frei von Vorurteilen? Zusammenhängend womöglich, anstelle von Telegrammstil?
Warum sind wir mit so wenig zufrieden? Weil wir schon selbst verinnerlicht haben, dass wir nur Mühe machen, ihrer aber nicht wert sind?

Ersetzen wir doch noch einmal was und denken uns neue Überschriften aus:
„X Dinge, die Du wissen musst, wenn Du
einen Holländer
eine Hundehalterin
einen Veganer
eine Blondine
liebst.
Keine Frage: das Ergebnis wird satirischer, wenn nicht anzüglich / platter Natur sein.
Dem angesprochenen Personenkreis und den Besonderheiten, die sich in einer solchen Beziehung ergeben mögen, kann es gar nicht gerecht werden. Soll es in diesem Fall auch nicht: Es ist einfach lustig.
Was um alles in der Welt aber lässt uns der Sache mehr Sinngehalt beimessen, wenn es um Menschen mit Depressionen geht?

Ich würde mir von einem Menschen, der mich liebt, ehrlich gesagt ein bisschen mehr wünschen, als dass er sich nach der Lektüre weniger Zeilen der „Herausforderung“ gewachsen fühlt.
Nö, er muss keine einschlägigen Artikel und Bücher lesen. Es wäre toll, ja! Aber der Fairness halber muss ich gestehen, dass ich mich mit Fachliteratur über Dinge, die meinen Partner interessieren, auch nicht zwingend beschäftige.
Ich würde mir wünschen, dass er sich mit mir auseinandersetzt. Ich bin da, ich kann sprechen. Ich kann schildern, wo Schwierigkeiten liegen, ich kann formulieren, was meine Bedürfnisse sind.
Wir können unseren Weg finden, wie alle anderen Paare auch.

Es sei denn, er findet, er habe mit der Lektüre von „X Dinge, die Du …“ sein Teil getan. Dann wird das nix.

P.S.: Ich verlinke den Text, über den ich mich so geärgert habe, hier ganz bewusst nicht. Der ist keinen weiteren Click wert.

Montagsmodell III: „Z“ wie Zauberwort

Das ist ein ganz seltsamer Moment, wenn man plötzlich in den Stand eines Menschen erhoben wird, der an einer „richtigen“ Erkrankung leidet.
Gerade eben hat man noch zu denjenigen gehört, die regelmäßig ihrem Arzt mit unerklärlichen Symptomen auf die Nerven gehen und die auf die Frage „Wie geht’s dir so?“ entweder lügen, oder sich auf längere Gespräche des Inhaltes, ob sie denn dieses schon in Betracht gezogen und jenes schon probiert hätten, gefasst machen müssen.
„Was sagt denn dein Arzt?“
„Der meint, das sei psychosomatisch.“
„Ja … nee … der muss doch … da musst du doch …!“
Gar nix muss der. Ich kann meinen Arzt nicht zwingen, sich für mich in eine Ein-Mann-Forschungsstation zu verwandeln. Zumal ich meine Symptome selber ziemlich merkwürdig finde – ich kann ja nicht einmal lokalisieren, wo ich nun eigentlich Schmerzen habe.
Und dass ein Arzt angesichts eines Menschen, für den es eine Diagnose klipp und klar gibt, nämlich die, dass er psychisch krank ist, irgendwie auf den Gedanken verfällt, dessen Beschwerden könnten daher rühren, kann man ihm auch nicht wirklich vorwerfen.
Und ich muss auch nix. Ich mag auch nicht mehr. Schon wenn ich mir selber zuhöre, wie ich das Sammelsurium meiner Symptome zu schildern versuche, komme ich mir blöd vor – vor einem Arzt tu ich mir das nur an, wenn es gar nicht mehr auszuhalten ist.
Und dann sag ich „Also ich habe seit Monaten solche Schmerzen, dass ich mich kaum noch bewegen kann.“ und frage mich, ob er sich fragt, warum ich – wenn es doch angeblich so schlimm ist – monatelang gezögert habe, ihn aufzusuchen …

Und von jetzt auf gleich gibt es ein Zauberwort, das alles erklärt. Plötzlich passen die Puzzleteilchen zusammen. Keine Rede mehr von Angst oder Depression, ich hab eine richtig handfeste Erkrankung von der Sorte, die man am Blutbild ablesen kann.
Ich würde nicht soweit gehen wollen, von Triumph zu sprechen, aber so ein kleines „Ich hab’s euch doch gesagt!“-Gefühl meldet sich schon. Und eine sehr sehr große Erleichterung.

IMG_15126-webIn meinem Fall lautet das Zauberwort „Borreliose“.
Es ist eine alte Infektion, die nicht behandelt wurde, weil ich sie gar nicht bemerkt hatte. Ich habe bei Zeckenbissen immer sorgsam auf eventuelle Rötungen und anschließende fiebrige Infekte geachtet – dass diese zwar auf eine Infektion hinweisen, ihr Fehlen jedoch nicht garantiert, dass keine stattgefunden hat, habe ich nicht gewusst.
Und bislang gibt es in Südfrankreich so gut wie keine Fälle von Borreliose, deswegen hat auch sonst lange niemand daran gedacht.
Ob sie sich heilen lässt oder einen chronischen Verlauf nehmen wird, kann niemand sagen. Aber so oder so kann man sie behandeln!

Und – und das erscheint mir momentan noch viel gewichtiger – ich werde mich nie wieder fragen müssen, ob ich mich nicht vielleicht doch nur anstelle. Ob ich nicht doch einfach undiszipliniert und faul bin. Mir Schmerzen einbilde, um mich vor dem Leben zu drücken.
Nie! Wieder!

Jetzt erst wird mir klar, wie sehr diese Ungewissheit mich belastet hat: Noch bevor die Behandlung überhaupt begonnen hat, finde ich die Schmerzen sehr viel besser auszuhalten und das, obwohl ich die Schmerzmittel drastisch reduziert habe. Ich schaffe es, morgens aufzustehen – ein Unterfangen, das ich gerade dabei war, aufzugeben: Die ganze Kämpferei schien mir allmählich sinnlos.

Seltsam, nicht wahr? Dass man sich über eine – let’s face it! – ziemlich unangenehme und langwierige Erkrankung so freuen kann. Gut möglich, dass ich das im Laufe der Zeit auch wieder anders sehen werde. Für den Moment sehe ich einen Weg, der sich plötzlich vor mir öffnet. Und bin einfach froh darüber.

Hilft Hanf?

„Hundemenschen …“, denke ich, als ich beginne, mich mit dem Thema CBD-Öl zu beschäftigen. Gehört hatte ich schon davon, aber den Ausschlag hat ein Post in einem Hundeforum gegeben, wo eine Halterin begeistert schreibt, sie habe es am Silvesterabend erfolgreich gegen die Angst ihres Hundes eingesetzt. Sie selbst nehme es auch, um die Symptome ihrer multiplen Sklerose zu lindern. Das erwähnt sie nur am Rande. Aber ist das nicht klasse? Es hilft Hunden!
Hundemenschen halt …

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Cannabidiol gehört zu den Wirkstoffen der Cannabispflanze (sogenannte Cannabinoide), erzeugt jedoch keinen Rausch – dafür ist Tetrahydrocannabinol (kurz: THC) zuständig, welches in CBD-Öl jedoch nur in Spuren enthalten ist. Beide docken an Rezeptoren im menschlichen Körper an, die sich unter anderem im zentralen Nervensystem, im Nervensystem des Darmes und im Immunsystem befinden, und haben so zum Beispiel Einfluss auf das Schmerzempfinden, aber auch auf Depressionen und Ängste.
Mein Ehrgeiz, wirklich zu verstehen, wie das Endocannabinoidsystem (also die Gruppe von Rezeptoren, die nicht nur auf körpereigene Botenstoffe wie zum Beispiel Serotonin, sondern eben auch auf die Cannabinoide reagiert) funktioniert, verpufft – muss ich gestehen – relativ schnell: Ich finde eine ganze Reihe eher hilfloser Erklärungen von Laien für Laien (manche sind ganz offensichtlich automatisch ins Deutsche übersetzt) und ein paar wenige von Fachleuten, die mir zwar seriös erscheinen, für die ich aber meinerseits ein paar Nachhilfestunden bräuchte. Ich beschließe, es damit gut sein zu lassen, dass die Wirkung von Cannabidiol nicht bestritten wird, und es einfach einmal auszuprobieren.

Das Angebot an CBD-Ölen erscheint mir recht unübersichtlich. Es gibt zwar Websites, die Qualitätsvergleiche versprechen, aber wie der Zufall es will, vertreiben sie ihren Testsieger auch gleich selbst. Honi soit qui mal y pense …
Schließlich entscheide ich mich für ein Öl mit Bio-Zertifikat.

Die Bandbreite der Dosierungsempfehlungen entspricht in etwa der Menge der Anbieter: Das Öl soll tropfenweise eingenommen werden – wie oft und wie viel, ob bei Bedarf, kurweise oder dauerhaft, muss jeder für sich selbst herausfinden. Fest steht nur die Tageshöchstdosis. Die allerdings – je nach Anbieter – bei gleichem CBD-Gehalt zwischen 5 und 30 Tropfen pro Tag schwanken kann.
In meinem Fall sind es 5 Tropfen täglich.
Nur interessehalber erkundige ich mich, was eigentlich bei einer Überdosierung passiert: In diesem Fall kann Cannabidiol müde und benommen machen, ohne dass sich dabei die erhoffte Wirkung, wie zum Beispiel Schmerzlinderung, weiter vergrößern ließe.

Auch bei korrekter Einnahme kann es zu Nebenwirkungen kommen.
Mundtrockenheit zum Beispiel … und erst in dem Moment, als ich das lese, fällt mir auf, dass ich wieder begonnen habe, immer und überall eine Wasserflasche dabei zu haben, ganz wie zu den Zeiten, als ich Serotonin-Wiederaufnahmehemmer genommen habe. Das Gefühl war so vertraut, dass ich es tatsächlich nicht bemerkt habe.
Cannabidiol kann außerdem die Wirkunsweise anderer Medikamente beeinflussen, weswegen man gegebenenfalls ärztlichen Rat einholen sollte, wenn man es benutzen möchte.

Das Öl soll sublingual verabreicht, sprich: unter die Zunge getropft werden, was mich vor gewisse Schwierigkeiten stellt: Ich muss den Weg vom Bett bis zum Spiegel schaffen, die Brille anziehen und das Licht anmachen. Treffen würde ich auch so, aber Tropfen zählen kann ich ohne Brille nicht. Und das, wo mein Hauptproblem morgens darin besteht, mich überhaupt zu bewegen …
Alternativ kann man das Öl auch vom Handrücken lecken, wobei man gleich die Erfahrung macht, dass die Geschmacksknospen tatsächlich auf der Zunge sitzen und nicht darunter.
Es schmeckt, wie es in meiner Jugend bei Parties roch … Gar nicht mal unangenehm, finde ich, aber das Öl brennt im Mund. Unter der Zunge macht sich das weit weniger bemerkbar.

Was mich tatsächlich ärgert, ist die fippsige Pipette, mit der das Ölfläschchen verschlossen ist. Wenn man dieses nämlich gemäß der Anweisung vor Gebrauch kräftig schüttelt, quackt das Öl oben aus der Pipette heraus. Abgesehen davon, dass ich nur ungern mit ölverschmierten Gerätschaften hantiere und es auf der Zunge brennt, wenn man das Öl gleich von der Flasche leckt, finde ich das Ganze dafür einfach zu kostspielig.
Ein Fläschchen mit 10 Millilitern kostet knapp 30 Euro, was, finde ich, gar nicht mal sooo teuer ist: Laut Hersteller sind das 200 Tropfen, man kommt also – wenn man es täglich und in der Maximaldosierung von 5 Tropfen einnimmt – 40 Tage lang damit aus. Aber eben nur, wenn es nicht an der Flasche runter kleckert …

Nun robbe ich mich an meine individuelle Dosierung heran …
Da ich vor allem morgens Schmerzen habe, beginne ich mit einem Tropfen am Morgen. Zunächst habe ich den Eindruck, dass das Öl doch „knallt“: Ich habe immer noch Schmerzen, aber sie stören mich nicht mehr so. Und ich bin auffallend guter Dinge.
Nach zwei Tagen lassen die Schmerzen merklich nach. „Placebo-Effekt“ unke ich herum und schelte mich gleich darauf selber: Hätte ich ein Schmerzmittel vom Arzt bekommen, würde ich hierüber überhaupt nicht nachdenken! Is’n Schmerzmittel – wirkt – fertig!
Weil ich trotzdem mit Schmerzen aufwache, nehme ich auch am Abend einen Tropfen in der Hoffnung, dass der bis zum Morgen „vorhält“. Das funktioniert nun nicht ganz wie erhofft, aber ich schlafe besser. Allerdings verschlafe ich, sofern ich das Öl unmittelbar vor dem Schlafengehen nehme. Das ist zwar sehr viel angenehmer, als wie sonst bleiern herumzuliegen und mich nicht bewegen zu können, weil ich nämlich tatsächlich fest schlafe, aber schöner fände ich noch, ich hätte mehr vom Vormittag. Nehme ich es gleich nach dem Abendessen, führt es leider nicht dazu, dass ich mal zu einer vernünftigen Zeit den Weg ins Bett finden würde, aber ich bin ruhiger und habe weniger Angst vor der Nacht. Das macht es mit der Zeit vermutlich auch leichter, zu Bett zu gehen.

Und dann kommt doch wieder ein Tag, an dem ich mit richtig schlimmen Schmerzen aufwache und mich nicht ohne Hilfe im Bett aufsetzen kann. Es ist deprimierend: Ich hatte so sehr gehofft, es werde mir nun besser gehen!
Später fällt mir wieder ein, dass auch Mittel wie Aspirin nicht gegen jeden Schmerz helfen. Manchmal benötigt man halt entweder ein anderes Medikament, oder man muss die Zähne zusammenbeißen – das bedeutet nicht, dass man sich die bisherige Wirkung nur eingebildet hätte.

Mittlerweile halte ich es so, dass ich an Tagen mit heftigen Schmerzen morgens bis zu 4 Tropfen Öl nehme und dann noch einen Moment liegen bleibe. Danach sind die Beschwerden in aller Regel auszuhalten.

Meine Stimmung ist – toi! toi! toi! – durchgängig besser. Das könnte zwar auch an der Jahreszeit liegen, aber ich finde es schon auffällig. Curcuma habe ich während dieser Testphase übrigens weggelassen, um (so weit das möglich ist) zu sehen, ob es wirklich das CBD-Öl ist, das eine Veränderung bewirkt.

Hin und wieder hatte ich den Eindruck, dass das Öl auch positiven Einfluss auf meine „Leichenfinger“ hat – ich leide am Raynaud-Syndrom, welches dazu führt, dass sich durch Kälteeinwirkung die Blutgefäße in meinen Fingern (wenn’s arg kalt ist auch in den Zehen) verkrampfen, wobei die Finger von den Spitzen her weiß werden und absterben. Das ist in aller Regel ungefährlich und läßt nach einger Zeit von selbst wieder nach. Aber es fühlt sich ziemlich blöd an und natürlich kann man mit „Leichenfingern“ nichts greifen …
In letzter Zeit nun werden meine Hände eher rot und bei großer Kälte blau – halt so, wie sich das gehört. Aber auch das kann natürlich an der Jahreszeit liegen.

Sicher allerdings bin ich mir beim Reizdarmsyndrom: Da haben die Symptome definitiv nachgelassen.

Insgesamt bin ich zufrieden: Nicht schmerzfrei zwar, aber meine Lebensqualität hat sich merklich verbessert.
Und nachdem das geklärt ist, kann ich im Bedarfsfall auch die Hunde damit behandeln.

Eight shades of grey

… oder das Geheimnis des Morgentiefs

„Guck mal an!“ hab ich gedacht, als ich bei Bloggerkollegin Annie über einen sogenannten Mood-Tracker gestolpert bin … das ist wie die Spalte mit den Farbmarkierungen in meiner Stimmungstabelle – aber sehr viel detaillierter.
Und fand das zwar ein bisschen aufwendig, aber spontan einleuchtend: In meiner Tabelle sind solche Tage grün (für „okay“), an denen es mir schon am Morgen einigermaßen gut geht. Tage, an denen ich mich morgens elend, verzagt oder jämmerlich fühle, sind grau (für „depressiv“), obwohl es mir am Nachmittag fast immer besser geht.

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An diesem Punkt stutze ich und beginne zu überlegen, ob es anderen Depris eigentlich genauso geht. Ich stelle die Frage in einer einschlägigen Facebook-Gruppe und abgesehen von ein paar wenigen, die ihr Tagewerk gleich nach dem Aufwachen erledigen und anschließend einbrechen, berichten die meisten von ganz ähnlichen Erfahrungen: Morgens kommt man beim besten Willen nicht hoch, alles erscheint absolut sinnlos … und nachmittags ist es plötzlich, als würde ein Schalter umgelegt. Die Antriebslosigkeit ist wie weggeblasen und man schmiedet womöglich Pläne für den nächsten Tag. Um dann erneut in grauem Sumpf zu erwachen. Jemand erwähnt das Stichwort „Morgentief“, aber niemand kann mir sagen, was dieses Phänomen eigentlich auslöst …
Ich bin neugierig geworden und beginne, im Internet zu stöbern: Das Morgentief gilt als eines der typischen Symptome für eine Depression.
Warum das so ist, vermag ich bei meiner bescheidenen Recherche zunächst nicht herauszufinden.
Depressive Menschen schliefen schlecht, weil sie so viel grübeln, lautet eine Vermutung. Das kann ich zwar bestätigen, aber nach einer Nacht (oder auch mehreren) mit schlechtem Schlaf sind „normale“ Menschen müde. Übermüdet, todmüde … allerdings – auch wenn es schwerfällt – immer noch in der Lage, aufzustehen. Ich erinnere mich zahlreicher Morgen, an denen ich nach viel zu wenig Schlaf die allergrößte Mühe hatte, nicht beim Frühstück im Sitzen wieder einzuschlafen. An Schulstunden und Vorlesungen, während derer wir einander gegenseitig gepiekt haben, wenn wieder mal die Augen zufielen. Trotzdem war es möglich, sich irgendwie aufzurappeln. Das war nicht dasselbe!
An anderer Stelle lese ich, dass, wer beim zu Bett gehen bedrückt ist und sich einsam fühlt, am nächsten Tag erhöhte Werte des Stresshormons Cortisol hat …
Cortisol schüttet der Körper insbesondere bei Langzeitstress aus, es aktiviert Stoffwechselvorgänge, stellt also sozusagen dem Körper Energie zur Verfügung. Gleichzeitig unterdrückt es das Immunsystem, weswegen ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel krank macht.
Ich googele „Depression und Cortisol“ und stoße in einer Doktorarbeit auf den Hinweis, dass bei einer typischen Depression der morgendliche Peak der Cortisolsekretion ausbleibe. Der was???
Also erst noch einmal „Cortisol“ nachschlagen und siehe da: Der höchste Wert (Peak) wird morgens kurz nach dem Aufwachen erreicht (Cortisol Awakening Response, CAR). Man nimmt an, dass auf diese Weise die Energiereserven des Körpers mobilisiert werden, um diesen auf den bevorstehenden Tag vorzubereiten.
Das scheint sich mir auf den ersten Blick zu widersprechen: Wenn Gefühle von Trauer und Einsamkeit bewirken, dass am nächsten Tag ein ausgeprägter Cortisolschub den Körper in Schwung bringt, dann müssten doch gerade Depressive wie Raketen aus ihren Betten schießen?
In der US National Library of Medicine werde ich – wenn auch unter Mühen (wissenschaftliche Texte in einer Fremdsprache zu lesen, ist dann doch recht anstrengend) – fündig.
Bei gesunden Menschen ist das so. Haben sie einen stressigen Tag oder ein belastendes Ereignis hinter sich, erwachen sie mit einer ausgeprägten Cortisolausschüttung, die ihnen hilft, den nächsten Tag zu bewältigen. Ebenso, wenn sie einen stressigen Tag vor sich haben: Ihre CAR ist flexibel und fällt zum Beispiel je nach Wochentag unterschiedlich aus – so kommen sie am Wochendenende weit gemächlicher in die Gänge, als während einer Arbeitswoche.
Bei depressiven Menschen dagegen ist die CAR häufig unflexibel und/oder wenig ausgeprägt.
Allerdings liefern verschiedene Studien einander widersprechende Ergebnisse und bislang scheint mir das Fazit darin zu bestehen, dass es irgendeinen Zusammenhang zwischen CAR und Depression gibt, auch wenn man noch nicht verstanden hat, welchen genau.

„Die bisherigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass in gesunden Populationen ein Anstieg der CAR die Fähigkeit, den Erfordernissen des kommenden Tages gerecht zu werden, besonders begünstigt (zum Beispiel an Arbeitstagen im Gegensatz zu Wochenenden), Stress an diesem bestimmten Tag vermindert und so mit der Bewältigung desselben zusammenhängt. Es ließe sich spekulieren, dass es zu einer Dysregulation (Fehlregulierung) dieses Zusammenhanges kommen könnte, sobald Stressgefühle über längere Zeit nicht mehr effizient bewältigt werden. In diesem Fall könnte eine erhöhte (und möglicherweise unflexible oder steife) CAR sich von einem Signal für Stressbewältigung in eines für Stresserwartung verwandeln. Wie bereits angedeutet ist es wahrscheinlich, dass ab einer gewissen Schwelle eine andauernd erhöhte CAR heruntergeregelt und gedämpft wird. Das könnte erklären, warum einige Studien erhöhte und andere gedämpfte CAR in Zusammenhang mit einer schlechten psychischen Verfassung in Bezug auf Depression beobachten.
Beide Hypothesen müssen in weiteren Studien untersucht werden. Insgesamt offenbaren die Studien eine komplexe und wichtige Verbindung zwischen CAR und der Anfälligkeit für Depressionen.“

Ob eine gedämpfte Cortisolausschüttung die Erklärung für eine bleierne Bettdecke ist? Und was löst dann das „Umlegen des Schalters“ am Nachmittag bzw. Abend aus? Müssten Hormone wie Serotonin und Melatonin nicht ebenfalls eine Rolle spielen? Fragen über Fragen …

Einstweilen tröste ich mich damit, dass mir die Themen für die Schattentaucherin so schnell wohl nicht ausgehen werden und wende mich wieder meinem Mood-Tracker zu.
MoodtrackerIch beschließe, die Tage fortan in Morgen, Vormittag, Nachmittag, Abend und Nacht zu unterteilen und erstelle eine Liste mit verschiedenen Befindlichkeiten und den dazu passenden Farben bzw. Schattierungen.
Eigentlich brauche ich keine 8 Graustufen für depressive Phasen, aber die ganz dunklen Töne sollen mich daran erinnern, dass es mir schon sehr viel schlechter gegangen ist, als das in der letzten Zeit der Fall ist – auch wenn die Tage grau sind, ist es tröstlich, dass es immerhin hellgrau ist.
Und auch keine 5 Grüntöne für „okay“, da müsste mir bei dunkelgrün ja geradewegs die Sonne aus dem Allerwertesten scheinen. Aber noch weniger grün als grau zur Verfügung zu haben, fand ich auch keine schöne Vorstellung. Wenn ich davon ausgehe, dass die Energie der Aufmerksamkeit folgt, dann sollte ich mich der Frage, ob’s heute nicht noch ein bißchen grüner sein darf, sehr aufmerksam widmen.
Weiße Kästchen nach dem Motto „ich hab grad keine Meinung“ wollte ich nicht mehr – so ist, als das dann aber doch einmal der Fall war, „indifferent“ entstanden.
Ruhig und entschlossen rangieren zwar im grünen Bereich, sind aber nicht wirklich positiv: „Ruhig“ bin ich unter anderem, wenn ich nach einem Wein- oder Wutanfall schlicht erschöpft bin. „Entschlossen“, wenn ich vorher sehr wütend war und einen Weg gefunden habe, mich auf konstruktive Weise auszutoben.
„Geschlafen“ steht für solche Momente, in denen ich mich in den Schlaf geflüchtet habe. Dann weiß ich nicht, wie ich mich fühle – genau das ist der Sinn der Sache.
Instabil fühle ich mich, wenn ich merke, dass meine Stimmung zu kippen beginnt, aber selbst nicht weiß, ob ich gereizt oder jämmerlich bin.
Den Rest finde ich mehr oder weniger selbsterklärend: Resignation hat zwar noch einen Blauton wie Trauer und Verzweiflung, mutet aber nicht ohne Grund eher grau an. Aufregung kann auch positiv sein und hat deswegen ein helles Magenta.

Natürlich frage ich mich ab und an, ob ich dem nicht zu viel Aufmerksamkeit widme – man kann es ja auch übertreiben mit der Nabelschau …
Aber schon nach relativ kurzer Zeit fällt mir auf, dass, auch wenn ich ingesamt den Eindruck habe, dass es mir nicht allzu gut geht, das Bild lichter wirkt, als ich vermutet hätte: Auch wenn die dunklen Töne besser in Erinnerung bleiben, die Felder, die ich mal als „nur ein bisschen depressiv“ oder ganz vorsichtig als „vielleicht ganz okay“ markiert habe, läppern sich dann doch.
Und so stelle ich mir vor, dass, sollte ich eines Tages ein paar Jahre nebeneinander legen, eine pointillistische Frühlingslandschaft entsteht …