Eight shades of grey

… oder das Geheimnis des Morgentiefs

„Guck mal an!“ hab ich gedacht, als ich bei Bloggerkollegin Annie über einen sogenannten Mood-Tracker gestolpert bin … das ist wie die Spalte mit den Farbmarkierungen in meiner Stimmungstabelle – aber sehr viel detaillierter.
Und fand das zwar ein bisschen aufwendig, aber spontan einleuchtend: In meiner Tabelle sind solche Tage grün (für „okay“), an denen es mir schon am Morgen einigermaßen gut geht. Tage, an denen ich mich morgens elend, verzagt oder jämmerlich fühle, sind grau (für „depressiv“), obwohl es mir am Nachmittag fast immer besser geht.

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An diesem Punkt stutze ich und beginne zu überlegen, ob es anderen Depris eigentlich genauso geht. Ich stelle die Frage in einer einschlägigen Facebook-Gruppe und abgesehen von ein paar wenigen, die ihr Tagewerk gleich nach dem Aufwachen erledigen und anschließend einbrechen, berichten die meisten von ganz ähnlichen Erfahrungen: Morgens kommt man beim besten Willen nicht hoch, alles erscheint absolut sinnlos … und nachmittags ist es plötzlich, als würde ein Schalter umgelegt. Die Antriebslosigkeit ist wie weggeblasen und man schmiedet womöglich Pläne für den nächsten Tag. Um dann erneut in grauem Sumpf zu erwachen. Jemand erwähnt das Stichwort „Morgentief“, aber niemand kann mir sagen, was dieses Phänomen eigentlich auslöst …
Ich bin neugierig geworden und beginne, im Internet zu stöbern: Das Morgentief gilt als eines der typischen Symptome für eine Depression.
Warum das so ist, vermag ich bei meiner bescheidenen Recherche zunächst nicht herauszufinden.
Depressive Menschen schliefen schlecht, weil sie so viel grübeln, lautet eine Vermutung. Das kann ich zwar bestätigen, aber nach einer Nacht (oder auch mehreren) mit schlechtem Schlaf sind „normale“ Menschen müde. Übermüdet, todmüde … allerdings – auch wenn es schwerfällt – immer noch in der Lage, aufzustehen. Ich erinnere mich zahlreicher Morgen, an denen ich nach viel zu wenig Schlaf die allergrößte Mühe hatte, nicht beim Frühstück im Sitzen wieder einzuschlafen. An Schulstunden und Vorlesungen, während derer wir einander gegenseitig gepiekt haben, wenn wieder mal die Augen zufielen. Trotzdem war es möglich, sich irgendwie aufzurappeln. Das war nicht dasselbe!
An anderer Stelle lese ich, dass, wer beim zu Bett gehen bedrückt ist und sich einsam fühlt, am nächsten Tag erhöhte Werte des Stresshormons Cortisol hat …
Cortisol schüttet der Körper insbesondere bei Langzeitstress aus, es aktiviert Stoffwechselvorgänge, stellt also sozusagen dem Körper Energie zur Verfügung. Gleichzeitig unterdrückt es das Immunsystem, weswegen ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel krank macht.
Ich googele „Depression und Cortisol“ und stoße in einer Doktorarbeit auf den Hinweis, dass bei einer typischen Depression der morgendliche Peak der Cortisolsekretion ausbleibe. Der was???
Also erst noch einmal „Cortisol“ nachschlagen und siehe da: Der höchste Wert (Peak) wird morgens kurz nach dem Aufwachen erreicht (Cortisol Awakening Response, CAR). Man nimmt an, dass auf diese Weise die Energiereserven des Körpers mobilisiert werden, um diesen auf den bevorstehenden Tag vorzubereiten.
Das scheint sich mir auf den ersten Blick zu widersprechen: Wenn Gefühle von Trauer und Einsamkeit bewirken, dass am nächsten Tag ein ausgeprägter Cortisolschub den Körper in Schwung bringt, dann müssten doch gerade Depressive wie Raketen aus ihren Betten schießen?
In der US National Library of Medicine werde ich – wenn auch unter Mühen (wissenschaftliche Texte in einer Fremdsprache zu lesen, ist dann doch recht anstrengend) – fündig.
Bei gesunden Menschen ist das so. Haben sie einen stressigen Tag oder ein belastendes Ereignis hinter sich, erwachen sie mit einer ausgeprägten Cortisolausschüttung, die ihnen hilft, den nächsten Tag zu bewältigen. Ebenso, wenn sie einen stressigen Tag vor sich haben: Ihre CAR ist flexibel und fällt zum Beispiel je nach Wochentag unterschiedlich aus – so kommen sie am Wochendenende weit gemächlicher in die Gänge, als während einer Arbeitswoche.
Bei depressiven Menschen dagegen ist die CAR häufig unflexibel und/oder wenig ausgeprägt.
Allerdings liefern verschiedene Studien einander widersprechende Ergebnisse und bislang scheint mir das Fazit darin zu bestehen, dass es irgendeinen Zusammenhang zwischen CAR und Depression gibt, auch wenn man noch nicht verstanden hat, welchen genau.

„Die bisherigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass in gesunden Populationen ein Anstieg der CAR die Fähigkeit, den Erfordernissen des kommenden Tages gerecht zu werden, besonders begünstigt (zum Beispiel an Arbeitstagen im Gegensatz zu Wochenenden), Stress an diesem bestimmten Tag vermindert und so mit der Bewältigung desselben zusammenhängt. Es ließe sich spekulieren, dass es zu einer Dysregulation (Fehlregulierung) dieses Zusammenhanges kommen könnte, sobald Stressgefühle über längere Zeit nicht mehr effizient bewältigt werden. In diesem Fall könnte eine erhöhte (und möglicherweise unflexible oder steife) CAR sich von einem Signal für Stressbewältigung in eines für Stresserwartung verwandeln. Wie bereits angedeutet ist es wahrscheinlich, dass ab einer gewissen Schwelle eine andauernd erhöhte CAR heruntergeregelt und gedämpft wird. Das könnte erklären, warum einige Studien erhöhte und andere gedämpfte CAR in Zusammenhang mit einer schlechten psychischen Verfassung in Bezug auf Depression beobachten.
Beide Hypothesen müssen in weiteren Studien untersucht werden. Insgesamt offenbaren die Studien eine komplexe und wichtige Verbindung zwischen CAR und der Anfälligkeit für Depressionen.“

Ob eine gedämpfte Cortisolausschüttung die Erklärung für eine bleierne Bettdecke ist? Und was löst dann das „Umlegen des Schalters“ am Nachmittag bzw. Abend aus? Müssten Hormone wie Serotonin und Melatonin nicht ebenfalls eine Rolle spielen? Fragen über Fragen …

Einstweilen tröste ich mich damit, dass mir die Themen für die Schattentaucherin so schnell wohl nicht ausgehen werden und wende mich wieder meinem Mood-Tracker zu.
MoodtrackerIch beschließe, die Tage fortan in Morgen, Vormittag, Nachmittag, Abend und Nacht zu unterteilen und erstelle eine Liste mit verschiedenen Befindlichkeiten und den dazu passenden Farben bzw. Schattierungen.
Eigentlich brauche ich keine 8 Graustufen für depressive Phasen, aber die ganz dunklen Töne sollen mich daran erinnern, dass es mir schon sehr viel schlechter gegangen ist, als das in der letzten Zeit der Fall ist – auch wenn die Tage grau sind, ist es tröstlich, dass es immerhin hellgrau ist.
Und auch keine 5 Grüntöne für „okay“, da müsste mir bei dunkelgrün ja geradewegs die Sonne aus dem Allerwertesten scheinen. Aber noch weniger grün als grau zur Verfügung zu haben, fand ich auch keine schöne Vorstellung. Wenn ich davon ausgehe, dass die Energie der Aufmerksamkeit folgt, dann sollte ich mich der Frage, ob’s heute nicht noch ein bißchen grüner sein darf, sehr aufmerksam widmen.
Weiße Kästchen nach dem Motto „ich hab grad keine Meinung“ wollte ich nicht mehr – so ist, als das dann aber doch einmal der Fall war, „indifferent“ entstanden.
Ruhig und entschlossen rangieren zwar im grünen Bereich, sind aber nicht wirklich positiv: „Ruhig“ bin ich unter anderem, wenn ich nach einem Wein- oder Wutanfall schlicht erschöpft bin. „Entschlossen“, wenn ich vorher sehr wütend war und einen Weg gefunden habe, mich auf konstruktive Weise auszutoben.
„Geschlafen“ steht für solche Momente, in denen ich mich in den Schlaf geflüchtet habe. Dann weiß ich nicht, wie ich mich fühle – genau das ist der Sinn der Sache.
Instabil fühle ich mich, wenn ich merke, dass meine Stimmung zu kippen beginnt, aber selbst nicht weiß, ob ich gereizt oder jämmerlich bin.
Den Rest finde ich mehr oder weniger selbsterklärend: Resignation hat zwar noch einen Blauton wie Trauer und Verzweiflung, mutet aber nicht ohne Grund eher grau an. Aufregung kann auch positiv sein und hat deswegen ein helles Magenta.

Natürlich frage ich mich ab und an, ob ich dem nicht zu viel Aufmerksamkeit widme – man kann es ja auch übertreiben mit der Nabelschau …
Aber schon nach relativ kurzer Zeit fällt mir auf, dass, auch wenn ich ingesamt den Eindruck habe, dass es mir nicht allzu gut geht, das Bild lichter wirkt, als ich vermutet hätte: Auch wenn die dunklen Töne besser in Erinnerung bleiben, die Felder, die ich mal als „nur ein bisschen depressiv“ oder ganz vorsichtig als „vielleicht ganz okay“ markiert habe, läppern sich dann doch.
Und so stelle ich mir vor, dass, sollte ich eines Tages ein paar Jahre nebeneinander legen, eine pointillistische Frühlingslandschaft entsteht …

Veröffentlicht von

dieschattentaucherin

Schreibwütige Depressive auf ihrem Weg ins Sonnenlicht

16 Gedanken zu „Eight shades of grey“

  1. Ich habe vor Jahren festgestellt, dass zu frühes Aufstehen einen depressiven Schub bei mir auslöst. Ich saß dann in der S-Bahn, und merkte, wie es mich ziemlich schnell runterzog.
    Eine Stunde später aufstehen, und es ist stabil. Eine Biologin hat mir mal erklärt, dass bestimmte Hormone zu bestimmten Zeiten aktiv sind, die das auslösen können.
    Ich habe immer versucht, diese Zeiten zu verschlafen. Leider kann ich in schwierigen Zeiten, genau zu diesen Zeiten kaum schlafen, so dass ich stundenlang wach liege, rumgrüble, verkrampft bin. Oft kann ich dann erst wieder dann schlafen, wenn andere Menschen aufstehen.
    Licht ist bei mir ein Faktor; ich muss hier die Rollos schließen, so dass ich kein frühes Morgenlicht mitkriege, jedenfalls nicht so, dass es sich körperlich oder seelisch auswirkt.

    Deine Farbpalette gefällt mir. Könnte für mich auch funktionieren.

    LG
    gann

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    1. Mir geht es genau umgekehrt. Ich habe seit zig Jahren Rollos nur runtergelassen, um im Sommer nicht zu sterben oder die Dinger mal zu putzen.
      Ansonsten lasse ich mich gerne vom Licht wecken. Was an einem grauen Regentag natürlich mal später sein kann als sonst. Aber meistens ergeben sich daraus relativ stabile Weckzeiten ohne Wecker.

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      1. Oh, ich sehe gerade, ein mögliches Missverständnis. Ich lasse nicht „freiwillig“ die Rollos runter oder aus inneren Gründen, sondern die äußere Lage ist so, dass mir sonst Leute reinglotzen können.

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  2. Depressive Menschen schliefen schlecht, weil sie so viel grübeln, lautet eine Vermutung.

    Also, ich schlafe eigentlich ganz gut. Das Problem ist, daß ich auch im Schlaf weitergrübeln kann. Das verdammte Hirn will einfach nicht abschalten!
    Morgens komme ich normalerweise immer langsam in die Pötte. Ich war noch nie der fröhlich aufspringende Frühmorgens-Typ. Ich hasse frühes Aufstehen! Im Sommer geht’s meist, weil Sonnenlicht und so.

    Morgens kommt man beim besten Willen nicht hoch, alles erscheint absolut sinnlos … und nachmittags ist es plötzlich, als würde ein Schalter umgelegt.

    Ich kann das mit den rhythmischen Schwankungen nicht wirklich nachvollziehen. Was soll denn daran dann schwankend sein?
    Ich bin manchmal bis mittags in Schwung und baue dann ab. Oder auf, wenn ich vorher weiter unten war. Ich habe auch schon Einkaufslisten im Kopf gespeichert, habe dann aber eine halbe Stunde später keinen Bock mehr, überhaupt rauszugehen. Menschen und so. Oder ich will manchmal faul sein und putze dann aber trotzdem zwei Stunden später die halbe Hütte, obwohl ich eigentlich nur kurz saugen wollte.
    Und dann muß das Einhorn mich zurückhalten, damit ich nicht noch die Bücherregale von der Wand rücke, um die Fußleisten zu polieren oder so…

    auch wenn die Tage grau sind, ist es tröstlich, dass es immerhin hellgrau ist.

    Ja, das kenne ich zu gut 😀

    eine pointillistische Frühlingslandschaft entsteht …

    Herbstlandschaft 🙂

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      1. Das kenne ich auch. ICh falle vom Bett aufs Sofa und sage mir „Ich mach nix“. Dann gehe ich einkaufen, koche was, fahre noch in die Stadt, weil ich ja noch Schuhe kaufen wollte…irgendwie so halt. Und dann ist der Tag rum.

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  3. Liebe schattentaucherin, mein Morgentief lebt schon lange bei mir. Manchmal rattert es wie ein summendes Handy in mir, dann kommen graue Gedanken im Kopfkino. Bin dann oft so erschöpft, dass Kälteschauer kommen und ich nochmal weg tauche. Dann denke ich nur noch an meinen Mittagsschlaf.
    Dann am Nachmittag legt sich auch bei mir ein Schalter um.
    Ich habe in den letzten Monaten immer wieder im Internet recherchiert, Cortisol, Hormone etc. ? Mir geht es mit hellem Wetter am Morgen etwas besser, im Herbst schalte ich jegliche Beleuchtung im Haus an. Oft sitze ich eine Zeit mit Yogi Tee und meinen Hunden im Wintergarten um im „hier“ anzukommen. Liebe Grüße Viccyvenna

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  4. Das ist sehr interessant, was Du recherchiert hast. Als ich jahrelang krank war habe ich mich orthomolekular – also mit Nährstoffen – behandeln lassen. Ich habe dabei auch meine Cortisolspiegel messen lassen. Die waren sowas wie im Keller, was meine stetige Müdigkeit erklärt hat trotz leichtem Anstieg am Morgen. Es gibt diese Chronique fatique.
    Da schütten die Nebennieren nach andauerndem Stress irgendwann immer weniger Cortisol aus. Ich könnte mir vorstellen, dass diese oder eine ähnliche Fehlregulation tatsächlich zu dem typ. Morgentief bei Depressionen führen kann. Der Körper ist krank und steht quasi unter Dauerstress und das mit Auswirkungen auf den gesamten Hormonhaushalt.
    Für mich kann Depression daher auch nur ganzheitlich geheilt werden. Die Psyche muss genauso unterstützt werden wie der Körper, weil beides in Wechselwirkung steht.

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